»Die Zukunft proaktiv gestalten«, heißt es in einem als Preprint in Bibliothek. Forschung und Praxis veröffentlichten Beitrag, zu dem sich drei Bibliothekskollegen zusammengetan haben: Neben Julia Korthals, der jüngsten Trägerin des Etzold-Preises, schrieben an dem Text Tobias Seidl und Cornelia Vonhof, beides Professoren an der HdM in Stuttgart und Betreuer der Abschlußarbeit von Korthals. Der Aufsatz setzt bei den »Bibliotheken in der Pandemie« an (so denn auch sein Titel) und bahnt von dort aus einen Weg in die Zukunft der Bibliotheken, die, gestärkt durch bibliothekarische Zukunftsforschung, in die Lage gebracht werden sollen, daß sie die Folgen der »Pandemie« besser einschätzen, sich auf »möglicherweise eintretende Ereignisse« besser vorbereiten und insgesamt »Strategien für morgen« entwickeln können sollen.
Das sind lobenswerte Ziele. Denn wer wäre nicht froh, wenn er heute schon wüßte, was morgen auf ihn zukommt, sei es, um das Kommende freudig zu begrüßen, sei es, um das Kommende rechtzeitig abzuwehren. Oder sei es, um alles einfach laufen zu lassen, weil es immer schon lief und auch in Zukunft noch gut laufen wird. Und schön wäre es natürlich, wenn uns eine Zukunftsforschung über die Unsicherheiten des Zukünftigen hinweghelfen würde, indem sie in methodisch gesicherter Weise eruiert, was da an Zukunft auf uns zukommt.
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Also machen sich unsere drei Autoren an die Arbeit und stellen ihren Lesern drei zukunftsmethodische Konzepte vor, mit denen die Zeitbarriere tentativ übersprungen und also herausgefunden werden soll, was die Zukunft mit sich bringt. Da wäre zunächst die Delphi-Befragung, bei der Experten danach gefragt werden, wie sie sich die Zukunft vorstellen, meistens natürlich nicht als globale Zukunft, sondern in einem engen und von den Experten überschauten Feld wie etwa dem des Bibliothekswesens. Sodann könnte eine Szenario-Methode dazu dienen, Zukunftsszenarien zu entwickeln, indem man Schlüsselfaktoren identifiziert, Trends extrapoliert und Wahrscheinlichkeiten abzuschätzen versucht. Und schließlich weisen unsere drei Autoren noch auf kreative Methoden hin, bei denen man den Phantasien der »Zukunftsinteressierten« mehr oder weniger freien Lauf läßt und dann schaut, wie das frei Phantasierte in Form von Tabellen oder Mindmaps strukturiert werden kann, um damit eine Übersicht über das zu erhalten, was man vielleicht umsetzen könnte.
Um die Leser nun nicht auf den langen zukünftigen Weg der Selbstexpertise, der eigenen Szenarienbastelei oder gar der freien Phantasie zu führen, gehen unsere drei Autoren eine Abkürzung. Sie verkünden mämlich, daß die im Bibliothekswesen an allerlei Orten von allerlei Organisationen wie etwa dem Deutschen Bibliotheksverband (dbv), der IFLA oder der ALA publizierten Reports »auf Bibliotheken zugeschnittene längerfristige Zukunftsprognosen« enthielten, aus denen sie uns bequemerweise vier »zentrale Themenfelder« ausgewählt haben. Nämlich: Digitalisierung, neue Technologien (Roboter, Drohnen, Prozeßautomatisierung), Offenheit (Bibliotheken als »dritter Ort«) und Privatsphäre und Datenschutz.
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Wer nun erwartet, daß die Autoren zukunftsmethodisch herausarbeiten, in welchem der vier Themenfelder welche Trends das Zeug haben, aus der bloßen Möglichkeit in die Wahrscheinlichkeit und von dort dann in die Wirklichkeit überzugehen, der sieht sich enttäuscht. Nichts davon geschieht. Vielmehr bleibt es am Ende bei dem einfachen Hinweis, die Bibliotheken müßten »flexibel reagieren« und sollten »eigenständig Zukunftsforschung« betreiben, »um ihre Zukunft in die Hand zu nehmen.« Und so endet, was als Aufforderung zur proaktiven Zukunftsgestaltung begann, mit einer Platitüde. In ihr kollabiert der Anspruch, bei der hier vorgestellten Zukunftsforschung und ihrer Präsentation in einer bibliothekswissenschaftlichen Fachzeitschrift handle es sich um Wissenschaft.
Die Gründe für diesen Kollaps sind leicht zu benennen. Wer über Methoden der Zukunftsforschung spricht, ohne sich und den Lesern Rechenschaft darüber abzulegen, was diese Methoden mit den bibliothekarischen Inhalten zu tun haben, was sie zu leisten vermögen und was nicht, der hat den Punkt, auf den es in der Wissenschaft ankommt — die geduldige Reflexion des vermeintlich Gewußten —, gleich anfangs übersprungen. Er hat sich auf einen Weg (gr. methodos) gemacht, ohne vorher geschaut zu haben, wo er steht, wo er hinwill und ob die Schuhe, in denen er läuft, die für den Weg geeigneten sind. Man verirrt sich dann leicht und kommt nirgendwo an, so wie unsere drei Autoren, die gleich zu Anfang davon sprechen, daß Zukunftsforschung »der systematischen Exploration möglicher, wahrscheinlicher und gewünschter Zukünfte« dient, ohne zu bemerken, daß sie damit ein schönes Beispiel für eine matabasis eis allo genos liefern. Denn hier wird völlig unvermittelt und unreflektiert aus dem Problem der Zukunft und damit des Übergangs von Möglichkeit in Wahrscheinlichkeit (und dann Wirklichkeit) in das völlig andere Feld der Wünschbarkeiten gesprungen und also aus dem Bereich objektiver historischer Entwicklungen in den Bereich der Motive menschlichen Handelns.
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Natürlich kann man an dieser Stelle einwenden, daß das, was wir uns wünschen, die Motive unseres Handelns bestimmt und daher zukunftsgestaltende Kraft hat. Wohl wahr. Aber dieser Zusammenhang müßte eben reflektiert werden, und in dieser Reflexion müßte bestimmt werden, was freie Phantasien über Zukünftiges von möglichen Trends und das wiederum von bloßen Wünschen unterscheidet.
Indem das unterbleibt, fällt der Beitrag auch in seinem methodischen Teil hinter seine Intentionen zurück. Er reflektiert auch dort nicht die Reichweite der vorgestellten Methoden, sondern präsentiert lediglich einen »Methodenkanon«, der irgendwie zur Verfügung steht, man weiß aber nicht, wie und warum. Schaut man etwas genauer auf diesen »Kanon«, ist unschwer zu sehen, daß es sich um Selbst- und Expertenbefragungen handelt, die mit viel oder mit wenig Phantasie um das Problem der Zukunft als reiner Möglichkeit kreisen. Nun ist aber aus der reinen Möglichkeit keine Aussage über die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses zu gewinnen. Dazu müßte man über die Randbedingungen reflektieren, die für unterschiedliche Eintrittswahrscheinlichkeiten von Ereignissen sorgen, und in der Welt des Sozialen und Historischen ist man damit sofort mit dem Problem der Totalität konfrontiert: Wo alle mit allen interagieren und alles mit allem zusammenhängt und der kleinste virale Zufall dafür sorgen kann, daß unsere Welt heute ganz anders als die Welt gestern aussieht — da ist jede Form von Futurologie, die behauptet, sie könne Wissenschaft sein, schlicht und einfach eine Form von Hybris.
Tatsächlich ist diese Zukunftsforschung alles andere als Wissenschaft; sie ist ein als Wissenschaft verbrämtes Geschichtenerzählen. Ebendas ist der Kern des »Methodenkanons«, den uns die drei Autoren vorstellen. Delphi-Befragungen sind Befragungen vermeintlicher Experten, über deren Expertenstatus vorab von den Delphi-Befragern entschieden wird; und was diese Experten dann erzählen, ist ebendas: ein bloßes Erzählen, das sich argumentativ nicht ausweisen muß. Man kann das sammeln und strukturieren und dem Volk als heilige Schrift zu lesen geben, in der eine expertokratische Orthodoxie verkündet, wo das zukünftige Heil zu finden ist und wo eben nicht. Nicht anders steht es um die Szenario-Methode. Denn natürlich kann man sich phantasievoll oder auch phantasielos Szenarien ausdenken, in die man seine Wünsche, Träume und Ängste packt und mit dem konfrontiert, was uns Politik, Wirtschaft und Umwelt im Augenblick als Handlungsgrenzen vorgeben, um dann weiter davon zu träumen, wie man diese Grenzen überwinden könnte. Aber auch dabei entstehen bloße Geschichten in dem weiten Raum, der sich zwischen dem Möglichen und Wahrscheinlichen aufspannt, ohne daß man jemals wissen könnte, wo der Autor zu finden ist, der aus der wahrscheinlichen eine wirkliche Geschichte macht. Man ist dann, alles in allem, nicht weiter als dort, wo Aristoteles vor langer Zeit schon war, als er trocken feststellte, was Dichtung ist: nämlich das mitzuteilen, »was geschehen könnte« (Poetik 9, 1451a35).
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Wohlgemerkt: Für Aristoteles ist die Dichtung im Vergleich mit der Geschichtsschreibung die philosophischere Wissenschaft, weil sie das Allgemeine im Raum des Möglichen, Wahrscheinlichen und Notwendigen mitteilt, die Geschichtsschreibung es aber auf die je besonderen Fälle abgesehen hat, aus denen als besonderen nichts Allgemeines extrapoliert werden kann. Dieses Allgemeine, um das es Aristoteles ging, ist aber nichts Vergangenes noch Zukünftiges, sondern es ist das, was als Allgemeines hier und jetzt und immer gilt, was also zu unserer condition humaine gehört. Sich aus ihr herauszuträumen, mit Trendkarten, Mindmaps und kreativem Farbenmalen, führt nirgendwohin, schon gar nicht in eine bessere Zukunft.
Man sieht das in dem Beitrag von Korthals/Seidl/Vonhof zuletzt daran, daß sie für die konkrete Trendbestimmung eben nicht auf dem weiten Ozean der Möglichkeiten und auch nicht auf dem kleineren See der Wahrscheinlichkeiten kreuzen, sondern sicherheitshalber im Hafen der bibliothekarischen Autoritäten vor Anker gehen (dbv, IFLA, ALA), wo sie sich mit den bekannten Haltetauen namens Digitalisierung, neue Techniken, Offenheit und Privatsphäre an der Mole festzuhalten versuchen. Was sie dort dann aus dem Schiffsbauch hervorzaubern, ist eine Ladung voller Beliebigkeiten.
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So führen sie beispielsweise aus, daß die seit anderhalb Jahren von seiten des Staates verfügten Corona-Maßnahmen mit der »Offenheit« der Bibliotheken kollidieren — sicherlich ist das so. Aber wenn sie ihre Ausführungen dann mit dem Satz beenden, es werde »spannend zu beobachten sein«, wie die Bibliotheken in diesem Konflikt ihre Offenheit bewahren können, dann ist das entschieden zu wenig, um als futurologische Trendaussage mit Handlungsappell durchzugehen. Das gilt auch für die wenigen Sätze zum Thema »Privatsphäre«, wo wir erfahren, was wir schon wissen, nämlich daß überall digitale Überwachungstechniken eingesetzt werden; aber die drei Autoren verlieren kein trendiges Wort über das, was die Bibliotheken konkret zu tun hätten, um die Privatsphäre als einen bibliothekarischen Grundwerte zu schützen. Nutzerschulungen und die Ausgabe von Informationsmaterial mögen nett gemeint sein, sie sind aber nichts, was als futurologischer Zukunftstrend zu reflektieren wäre und auf den Begriff gebracht werden müßte. Es sind völlig hilflose Maßnahmen, deren Hilflosigkeit ein direktes Resultat des in diesem Beitrag überall aufscheinenden Reflexionsmangels ist. Ohne Begriffe weiß man nichts, und wenn man nichts weiß, weiß man auch nicht, was man tun könnte oder tun sollte.
Das Fazit ist ernüchternd. Kein einziger Bibliothekar wird nach der Lektüre des Aufsatzes von Korthals/Seidl/Vonhof in der Lage sein, seine Zukunft oder die seiner Bibliothek »in die Hand zu nehmen«. Der Beitrag setzt auch keine Anreize, weder für Bibliothekare noch für sonst irgendeinen Menschen, »um eigenständig Zukunftsforschung zu betreiben.« Ganz im Gegenteil kann jetzt jedermann wissen, warum man besser die Finger davon läßt, wenn man etwas für die Forschung oder etwas für die Praxis leisten möchte.
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