Nun war es wieder soweit. Am 24. Oktober 2021 war der »Tag der Bibliotheken«, der seit 1995 jährlich am 24. Oktober stattfindet. Und jedes Jahr ist das ein von den Bibliotheken gefeiertes erfreuliches Ereignis, von dem freilich weder die Medien noch die Bibliotheksbesucher eine sonderliche Kenntnis nehmen. Der Tag geht einfach vorbei, und das war’s.
Das hindert die Bibliotheken natürlich nicht daran, sich an diesem Tag als »unverzichtbare Kultur- und Bildungseinrichtungen« ins Spiel zu bringen. Wer sich, um zu erfahren, was wohl hinter dieser »Unverzichtbarkeit« stehen könnte, auf der Website des Deutschen Bibliotheksverbands (dbv) umschaut, der als Dachorganisation aller deutschen bibliothekarischen Verbände agiert, der wird dort einen schönen Strauß von Themen finden. Als da sind: »Bibliotheksmanagement«, »Bibliotheken und Demokratie«, »E-Books in Bibliotheken«, »Informationskompetenz und Medienbildung« und die »Sonntagsöffnung«.
Das alles mag interessant sein, vielleicht auch »unverzichtbar«. Grundlegend aber ist nur eines dieser Themen, nämlich »Bibliotheken und Demokratie«. Und zwar deshalb, weil die Bibliotheken ihre Existenzberechtigung in unserer Gesellschaft aus Artikel 5 des Grundgesetzes ableiten, wie man auf der Website des dbv nachlesen kann:
Die Meinungs- und Informationsfreiheit aus Artikel 5 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland bildet die verfassungsrechtliche Grundlage bibliothekarischer Praxis. Indem sie die informationelle Grundversorgung aller Bürger mit ihrem überparteilichen und qualitätsgeprüften Medien- und Informationsangebot fördern, übernehmen Bibliotheken als besucherstärkste Bildungs- und Kultureinrichtungen eine zentrale demokratische und gesellschaftspolitische Funktion.
Bibliotheken bieten einen politisch, weltanschaulich und religiös ausgewogenen Bestand an, der auf Basis des Grundgesetzes professionell ausgewählt wird. Er ist ein Spiegel der Kultur einer Gesellschaft und ihrer Lebenswirklichkeiten. Bibliotheken eröffnen den freien Zugang zu allgemeinen Informationsquellen und leisten damit einen unverzichtbaren Beitrag zur Meinungsbildung, zu einem demokratischen Gemeinwesen und zur politischen Willensbildung.
Nun wissen wir natürlich, daß das mit dem »freien Zugang«, von dem hier geredet wird, so eine Sache ist. Während man im Falle des Kriminalschriftstellers Akif Pirinçci noch unsicher war, ob man, als er bei einer Pegida-Demonstrationen auftrat und sich vermeintlich volksverhetzend äußerte, seine Bücher im Bestand dieser oder jener Stadtbücherei weiterhin zugänglich machen oder doch lieber aussondern sollte, schritt die Universitätsbibliothek Freiburg im Breisgau zur volkspädagogischen Befreiungstat: Bücher bestimmer Autoren und eines bestimmten Verlages kann man dort nicht mehr ausleihen, sondern muß sie nunmehr im Lesesaal der Bibliothek unter Aufsicht lesen. Man hat also durchaus noch einen Zugang zu den Büchern; aber einen »freien Zugang« inklusive freier Ausleihe wird man das nicht mehr nennen können.
Begründet wird das auf Anfrage der Wochenzeitung »Junge Freiheit« im Grunde mit einem rein dezisionistischen Akt, der darin besteht, die inkriminierten Bücher der großen Rubrik »volksverhetzend, gewaltverherrlichend, menschenverachtend und pornographisch« zuzuordnen und diese Zuordnungsleistung durch die Fachreferenten (also das wissenschaftliche Personal der Bibliothek) erbringen zu lassen. Noch bevor die Debatte, ob die genannten Kriterien überhaupt greifen, geführt ist, haben die Bibliothekare also bereits beschlossen, wie sie auszugehen habe.
Daß das im Widerspruch zu der reklamierten Rolle steht, als Bibliothek auf der Basis des Grundgesetzes zu arbeiten und also für Meinungs- und Informationsfreiheit zu sorgen — das Ganze auch noch überparteilich und politisch, weltanschaulich und religiös ausgewogen —, wird offenbar von den Bibliotheksprofis gar nicht mehr bemerkt. Das liegt daran, daß sich auch in die Bibliotheken längst der Ungeist der »Wokeness« geschlichen hat, wo er wie überall in den Köpfen und Institutionen eine Schneise der Demokratie- und Freiheitsverheerung hinterlässt. Denn eine auf »Wokeness« umgestellte Bibliothek erfüllt ihren Auftrag jetzt nicht mehr dadurch, daß sie freien und allerfreiesten Zugang zu den umstrittensten Werken gewährt, sondern dadurch, daß sie explizit gegen antidemokratische, antipluralistische und menschenfeindliche Positionen Stellung bezieht. Und folglich stellt sie Demokratie, Pluralismus und Menschenfreundlichkeit dadurch her, daß sie den Leser vor zuviel Demokratie, zuviel Pluralismus und vor allem vor Menschenunfreundlichkeit schützt.
Daß das keine Überinterpretation ist und die Praxis an der Universitätsbibliothek Freiburg nur dem ideologischen Trend der Wokeness folgt, läßt sich leicht beweisen. Dazu muß man nur noch einmal auf die Website des Deutschen Bibliotheksverbands schauen und lesen, wie man sich dort die Sache mit der Demokratie vorstellt. Nämlich so:
Als Verband der deutschen Bibliotheken steht der Deutsche Bibliotheksverband wie diese für Transparenz, Verantwortlichkeit, Integrität, Solidarität, Zivilcourage, Gerechtigkeit, Demokratie, Rechts- und Sozialstaatlichkeit. Der dbv ist u.a. Mitglied der »Allianz für Weltoffenheit, Solidarität, Demokratie und Rechtsstaat«. Der dbv unterstützt die »Weimarer Erklärung für demokratische Bildungsarbeit« und lädt seine Mitglieder ein, sie ebenfalls zu unterschreiben.
Wer sich nun die kleine Mühe macht und auf den Link »Allianz für Weltoffenheit, Solidarität, Demokratie und Rechtsstaat« klickt, wird erstaunt feststellen, daß es die »Allianz« zeit ihres Bestehens lediglich zu zwei »Aufrufen« gebracht hat. Erstens nämlich zu einem undatierten Aufruf mit dem Titel »Die Würde des Menschen ist unantastbar«, in dem es um die von der »Allianz« befürwortete Aufnahme von Flüchtlingen geht. Und zweitens zu einem auf den 16. November 2020 datierten »Appell«, in dem es um die Corona-Krise geht und darum, wie diese bewältigt werden könne.
Nun darf man nicht glauben, in diesem »Appell« eine substantielle Auseinandersetzung mit der Politik der Bundesregierung und der Bundesländer zu finden, um sodann einen reflektierten Weg in die Zukunft zu weisen. Vielmehr beginnt der »Appell« mit einem einfachen Lob der Regierung — »Seit dem Ausbruch der Krise haben Gesellschaft und Politik in unserem Land vieles richtig gemacht«, heißt es da — und einem ebenso einfachen Hinweis, daß eine »große Mehrheit in unserem Land […] das entschlossene Handeln der Politik mit[trägt].«
Was danach kommt, muß man einen argumentativen und dreifachen Salto mortale in die Volkspädagogik nennen. Erster Salto: »Auch der Grundsatz, daß jeder Einzelne Verantwortung für den anderen übernehmen muß, trifft weiterhin auf breite Zustimmung.« Zweiter Salto: »Niemand darf aber für sich in Anspruch nehmen, seine Freiheit auf Kosten anderer auszuleben. Wer mit Falschinformationen und Verschwörungstheorien die Bereitschaft zur Solidarität untergräbt, gefährdet unsere Demokratie und setzt die Gesundheit zahlreicher Menschen aufs Spiel.« Und dann endlich und final der dritte Salto: »Als ›Allianz für Weltoffenheit‹ rufen wir zu rücksichtsvollem, besonnenem Handeln und mehr Dialogbereitschaft auf. Als Teil eines breiten gesellschaftlichen Bündnisses wollen wir dazu beitragen. Wir engagieren uns für den offenen demokratischen Diskurs, Solidarität und gesellschaftlichen Zusammenhalt. Uns eint die Überzeugung, daß die eigene Freiheit spätestens dort endet, wo die Gesundheit und das Leben anderer gefährdet wird.«
Am Ende dieser drei Salti ist die bürgerliche Freiheit volkspädagogisch zur Strecke gebracht und reduziert sich auf die Akklamation des Regierungshandelns. Wir alle haben das Recht und die Pflicht — so lautet das Destillat dieses »Appells« —, dem als angemessen und vernünftig unterstellten Corona-Handeln der Regierung zuzustimmen und das Handeln der Regierung solidarisch und in Freiheit mitzutragen. Alles andere ist unverantwortlich, unsolidarisch, gesundheits- und demokratiegefährdend.
Das alles buchstabiert aber nur aus, was besagte »Allianz« ein Jahr vor Corona unter dem Datum des 23. Oktober 2019 als »Weimarer Erklärung für demokratische Bildungsarbeit« ins Netz gestellt hat und worauf sich der Deutsche Bibliotheksverband expressis verbis für sein Demokratieverständnis bezieht. Dort ist zu lesen, daß die Unterstellung, schulische und außerschulische Bildung unterliege einem Neutralitätsgebot (das Wort wird in der »Weimarer Erklärung« in Gänsefüßchen gesetzt), in die falsche Richtung gehe. Denn, so erfahren wir da, Bildungsarbeit in einer Demokratie, die auf der Achtung der Menschenrechte, der Gewaltenteilung und der Rechtsstaatlichkeit beruhe, könne nicht neutral sein. »Vielmehr ist es die Aufgabe von Bildung in der Demokratie, für demokratische Grundwerte einzutreten und gegen antidemokratische, antipluralistische und menschenfeindliche Positionen Stellung zu beziehen. Ein Neutralitätsgebot, das einem Werterelativismus Vorschub leistet, ist mit einer demokratischen Bildungsarbeit nicht vereinbar.«
Wer nun aber meint, diese Absage an den »Werterelativismus« sei eine starke Befürwortung des demokratischen Rechts auf Dissens, der wird rasch eines Besseren belehrt. Denn für die »Weimarer Erklärung« endet die Pflicht zur »Multiperspektivität bei der Darstellung von historischen und politischen Sachverhalten« genau dort, wo »wissenschaftsfeindliche Positionen […] mit einer demokratischen Bildungsarbeit […] unvereinbar [sind].« Zwar soll die Debatte darüber, was Wissenschaft sei — welche Positionen als »abgesichert« gelten können und welche »dem aktuellen Forschungsstand entsprechen« —, der Wissenschaft überlassen werden. Aber die Ansicht, man könne Wissenschaft in eine »abgesicherte« und also auch eine »unabgesicherte« aufspalten und sich vom »aktuellen Forschungsstand« sagen lassen, was Sache sei, verkennt vollkommen, was Wissenschaft zur Wissenschaft macht: Nicht die Resultate, schon gar nicht die politisch gewünschten, machen Wissenschaft zur Wissenschaft, sondern der Forschungsprozeß, der nur solange »wissenschaftlich« genannt werden kann, als er argumentativ offen und auf Differenzierungen setzend nach Wahrheiten von Sachverhalten sucht.
Wer hingegen meint, es genüge, auf die »herrschende Lehre« zu hören und darauf, was diese als »aktuellen Forschungsstand« verkündet, der verwechselt Wissenschaft als Form institutionalisierter Wahrheitssuche mit Wissenschaft als Form institutionalisierter Wahrheitsverwaltung. Erstere Form ist mühsam und ebendas, was sie sein soll: kontrovers, und zwar auf Dauer; letztere Form ist einfach, weil sie jeden Dissens und Wahrheitskonflikt dogmatisch zum Schweigen bringt; und zwar möglichst endgültig.
Wer in einer solchen wissenschaftsdogmatischen Welt leben möchte, wird hinfort wenig mehr zu tun haben (und auch wenig mehr tun dürfen), als beim Auftreten von wissenschaftlichen Problemen, Kontroversen und Krisen den gerade auf dem höchsten Thron sitzenden Experten oder das angeblich wichtigste Expertengremium nach seiner Auffassung zu befragen. Was diese sagen, hat zu gelten; alles andere ist dann per se »wissenschaftsfeindlich«. Dies um so mehr, als eine Politik, die für ihr Handeln »Wissenschaftlichkeit« reklamiert, sich hinter dem Rücken des kritischen Publikums längst mit »der« Wissenschaft und also den jeweiligen wissenschaftlichen Thronprätendenten kurzgeschlossen haben wird, um im historisch bewährten Dreischritt von Thron, Wissenschaft und Altar das gemeine Volk in die Richtung zu treiben, die man haben will.
Das ist alles andere als eine unziemliche Erinnerung an längst vergangen geglaubte Zeiten. Denn wer sich einmal den kleinen Spaß erlaubt und auf der Website der »Allianz für Weltoffenheit«, die die »Weimarer Erklärung« verfassen ließ, auf den Reiter »Allianzpartner« klickt, der wird feststellen, daß dort neben dem Arbeitgeberverband, dem Deutschen Gewerkschaftsbund und dem Deutschen Olympischen Sportbund die Deutsche Bischofskonferenz, die Evangelische Kirche in Deutschland, der Koordinationsrat der Muslime und der Zentralrat der Juden in Deutschland firmieren. Und wenn man dann gar auf die »Unterstützer« klickt, ist kaum noch zu übersehen, daß sich hier wirklich alles versammelt hat, was irgend in einem bildungspolitischen, karitativen oder religiös-institutionellen Kontext sich zu einem Verband zusammengetan hat und als eingetragener Verein oder unter sonst einer Rechtskonstruktion auf Steuerabzugsfähigkeit von Spenden und anderem staatlichen Wohlgefallen hoffen darf.
Es bleibt also dabei: Die »Allianz« ist die sehr zeitgeistige Wiederauferstehung der wunderbar-deutschen Allianz von Thron, Wissenschaft und Altar. Sie steht in ebender Tradition, da man an den Universitäten nicht zögerte, die staatlichen Gegner wissenschaftlich vom Platz zu argumentieren, in den Kirchen nichts dabei fand, die deutschen Waffen egal an welcher Front zu segnen, in beiden Institutionen die Zeichnung von Staatspapieren propagierte, die die privaten Vermögenswerte und die Wirtschaft ruinierten, und alles in allem von jeder Kanzel herab dem von oben dekretierten Feind – sei der nun im Westen, im Osten oder im Volk selber zu finden — den solidarischen Kampf aller gesellschaftlichen Kräfte ansagte. Um es kurz zu machen: Die »Allianz« ist nichts weiter als eine staatliche Vorfeldorganisation.
Und damit können wir auf die Bibliotheken zurückkommen. Wenn der Deutsche Bibliotheksverband auf seiner Website unter dem Reiter »Bibliotheken und Demokratie« seine Mitglieder »einlädt«, die »Weimarer Erklärung« zu unterzeichnen — die der Bibliotheksverband als Mitglied der »Allianz für Weltoffenheit« ja längst unterzeichnet hat —, dann regt sich hier kein immergrünes demokratisches Pflänzchen, das bürgerliche Freiräume, demokratische Vielfalt und unabsehbare wissenschaftliche und weltanschauliche Kontroversen auch gegen staatlich-totalitäre Zumutungen verteidigt. Dann ist diesen Freiräumen vielmehr längst in der Mausefalle der Solidarität das Genick gebrochen. Die Bibliotheken sind zusammen mit Wissenschaft und Altar und allem, was sich in der »Allianz für Weltoffenheit« tummelt, auf einen autoritären Empfangsmodus umgestellt, der sich und anderen einreden will, es gäbe einen für alle erkennbaren und fraglosen Stand der Wissenschaft, der gesellschaftlichen Debatte, des politischen Handelns und des ethisch-solidarischen Wollens. Einen Stand, der sich in Gremien und Experten verkörpert, die dann qua Amt nur noch verkünden müssen, was als »volksverhetzend, gewaltverherrlichend, menschenverachtend und pornographisch« aus der Debatte zwingend ausgeschlossen werden muß.
Nie waren die Bibliotheken in der Bundesrepublik Deutschland »woker« als heute. Nie waren sie stärker vom totalitären Virus infiziert.
Erstveröffentlichung des vorstehenden Artikels am 2. November 2021 auf »Achgut.com« unter dem Titel »Woke« Bibliotheken: Vom totalitären Virus infiziert. Für die happy few, die diesen Blog hier lesen, erfolgt die Präsentation des Textes in klassischer Orthographie und mit kleinen Fehlerkorrekturen.