ORCID, die Arbeit am Totalen

Geschrieben von Uwe Jochum am 1.5.2022

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Uwe Jochum

Wissenschaftlicher Bibliothekar

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Wer in den vergangenen beiden Corona-Jahren die Nachrichten verfolgt hat, kann nicht übersehen haben, daß eine der Maßnahmen, die der Eindämmung des Virus dienen sollen, in der möglichst lückenlosen Nachverfolg der Infektionswege besteht. Wenn man, so die dahinterstehende Idee, den Weg des Virus durch die Bevölkerung zeitnah mitverfolgen würde, dann könnte man die Ausbreitung des Virus dadurch in den Griff bekommen, daß man die infizierten Menschen möglichst rasch entdeckt und noch rascher in Quarantäne schickt, solange, bis sie nicht mehr ansteckend sind. Diese »nichtmedizinische Intervention« ist – seidem China im Frühjahr 2020 vorgemacht hat, wie man’s durchzieht – auch in den westlichen Staaten gesellschafts- und politikfähig geworden. Warnungen, daß diese nichtmedizinischen Maßnahmen nur um den Preis eines Abbaus des Rechtsstaats, eines Abbaus demokratischer Regularien, eines Abbaus der ökonomischen Wohlfahrt und eines Abbaus kultureller Selbstverständlichkeiten zu haben sind, erstickte man auf dem Umweg einer Moraldebatte, die die Vermeidung des Sterbens als absoluten und nicht weiter reflektierbaren Wert setzte.

Hier soll es nun aber nicht um diese inzwischen überall sichtbaren Abbauprozesse gehen, sondern ganz im Gegenteil um den gegenläufigen Aufbau jenes Instruments, mit dessen Hilfe die »nichtmedizinische Intervention« allererst praktisch möglich wird. Dieses Instrument ist die »digitale Identitätsnummer« (gerne in englischer Mundart: »digital ID«), die jedem Individuum zugewiesen werden soll, um nicht nur die Gesundheitsdaten der Menschen – ihre Krankengeschichte, ihren Impfstatus, ihre behandelnden Ärzte usw. — verwalten zu können, sondern am besten gleich alles, was wir im Laufe unseres Lebens an elektronischen Daten produzieren.

Cyborg [Bild von Gerd Altmann auf Pixabay.]

In der Europäischen Union laufen die Vorbereitungen dazu seit 2014 auf dem Verordnungsweg unter dem Titel »eIDAS«, die als EU-Verordnung unmittelbar geltendes Recht auch für die Bundesrepublik Deutschland ist. Nun liegt ein Vorschlag für eine neue Verordnung auf dem Tisch, der explizit davon spricht, daß die alte Verordnung aus dem Jahr 2014 »den neuen Marktanforderungen nicht gerecht« werde, »weil sie ausschließlich auf den öffentlichen Sektor beschränkt ist«. In Zeiten aber, so sagt man uns, wo es um den »Übergang der Union zu einem digitalen Binnenmarkt« gehe, müsse eine neue eIDAS-Verordnung her, die nicht nur den staatlichen Bürokratien die ditgitale Verwaltung der Bürger erleichtere, sondern auch die wirtschaftlichen Aktivitäten den Unternehmen unterstütze.

Wir haben in den letzten Jahren vielfach die Erfahrung machen müssen, daß manches, wenn nicht gar vieles von dem, was in den nationalstaatlichen und europäischen Bürokratien als Idee oder Verordnung in Umlauf gebracht wird, auf das World Economic Forum (WEF) als Quelle zurückgeführt werden kann. Jedenfalls fällt auch bei dem Neuentwurf zu eIDAS auf, daß er sich liest wie eine Ausführungsbestimmung zu Ideen, die Christine Leong, eine bei der weltweit agierenden Beratungsfirma accenture tätige Direktorin für »Global Blockchain Identity Lead and Managing«, im November 2021 auf der Website des WEF skizziert hat und was im Februar 2022 gleichsam in einer Parallelaktion zur EU vom WEF als »Insight Report« in ausführlicher Form veröffentlicht wurde.

In beiden Texten, dem der EU und dem des WEF, ist von einem »digitalen Ökosystem« die Rede, das mittels Schaffung einer für den Bürger vertrauenswürdigen digitalen Identität in Gang kommen soll. Während der neue Vorschlag der EU das sogleich verwaltungssprachlich zu beackern beginnt, klärt uns der »Insight Report« des WEF über die ideellen Hintergründe der Sache auf. Das digitale Ökosystem, so erfahren wir dort, bestehe im wesentlichen darin, daß vertrauenswürdige Datenvermittler die anfallenden Daten sammeln und in einer für die datenerzeugenden Menschen vertrauenswürdigen Weise innerhalb des digitalen Ökosystems anderen Akteuren – also etwa staatlichen Behörden, privaten Unternehmen, Freunden und Verwandten — zur Verfügung stellen. Je nach Kontext und wie vom Datenerzeuger gewünscht in anonymisierter Form oder eben auch nicht. In jedem Fall aber am besten so, daß das Ökosystem dank des Einsatzes von künstlicher Intelligenz in die Lage versetzt wird, die bisherigen individuellen Einzelentscheidungen zur (Weiter-) Verwendung personenbezogener Daten durch ein automatisiertes System von vertrauenswürdiger Datennutzung zu ersetzen. Im Extremfall entscheidet dann nicht mehr der datenerzeugende Mensch, was mit seinen Daten geschieht, sondern der treuhänderisch agierende Datenvermittler, der das »potentially automated regime of personal data sharing« (Seite 38 des WEF-Reports) betreibt.

Was der WEF-Report vom Februar 2022 werbend ins Wort bringt und was man EU-weit über eine Verordnung umzusetzen versucht, ist ebenjene Agenda, die von der »ID2020« genannten Initiative in globalem Maßstab verfolgt wird. Auch dort geht es plakativ um die Sicherung der Individualrechte in einem globalen digitalen Kontext, der unsere lebensweltlichen Aktivitäten, zu denen wir Führerschein, Reisepaß, digitale Geldbörse und natürlich auch allerlei medizinische Dokumente benötigen, unter einer einheitlichen ID zusammenführt, um nicht zuletzt eine »better customer experience« zu ermöglichen.

Zukunft [Bild von kalhh auf Pixabay.]

Damit schlägt natürlich die Frage nach den Rechten in die Frage nach den ökonomischen Chancen um, die ein solches digital-globales ID-System verspricht – und zwar nicht nur für die Kunden, die im digitalen Kontext eine ganz eigene »Kundenerfahrung« haben sollen, sondern eben auch für all jene Unternehmen, die solche Kundenerlebnisse erzeugen. Die digitale ID steht für diese Konzepte deshalb im Mittelpunkt aller Überlegungen, weil sie dank der zentralen Erhebung und Verwaltung von Nutzerdaten die einzelnen Unternehmen und Behörden von der Notwendigkeit entlasten würde, solche Daten selbst zu erheben und zu verwalten. Kurz: Für Firmen und Behörden winkt hier nicht nur die Chance eines zentralen Aktivitätsnachweises sämtlicher im digitalen Raum erfaßten Nutzeraktivitäten, sondern auch die Chance auf ungeheure Risiko- und damit Kostenreduktionen.

Es liegt auf der Hand, daß sich der maximale Skaleneffekt der digitalen Identität genau an jenem Tag einstellen würde, an dem es gelänge, die gesamte Menschheit in einem solchen System zu erfassen. Daß das eine gute Idee sein könnte, versuchen die ID2020-Aktivisten dadurch plausibel zu machen, daß dann endlich die medizinische Versorgung der ganzen Welt optimiert und im Falle etwa einer Pandemie auch die ganze Menschheit zügig durchgeimpft werden könnte. So gesehen ist die digitale Gesundheits-ID, die von ID2020 massiv beworben wird, nur der Einstieg in die digitale Erfassung aller Menschen vom Zeitpunkt ihrer Geburt an – »Improve birth registration coverage« heißt es auf der Website von ID2020.

Angesichts der in diesem globalen digitalen Erfassungssystem liegenden ökonomischen Chancen wundern wir uns nicht, wenn wir als Gründungsmitglieder von ID2020 die Namen Microsoft, Rockefeller Foundation, die bereits genannte Beratungsfirma accenture, die von der Bill & Melinda Gates Foundation unterstützte globale Impfallianz Gavi und die Design- und Beratungsfirma Ideo finden. Ganz offensichtlich mischen sich hier ökonomische mit philanthropisch-medizinischen und politischen Interessen, deren gemeinsamer Fluchtpunkt die digitale Identität aller Erdenbürger ist.

Die vergangenen beiden Coronajahre waren der ideale Nährboden, auf dem solche Ideen zu Realität werden konnten. Hierher gehört die »ID Austria«, mit der man zunächst den Impfstatus der Österreicher kontrollieren will, was dann aber – ganz den Vorstellungen von WEF und ID2020 folgend – mit weiteren Dokumenten wie etwa dem Führerschein, dem Reisepaß und dem Personalausweis verknüpfen werden soll. Hierher gehören die seit dem Jahr 2018 laufenden Bestrebungen der Canadian Bankers Association, ein digitales ID-System aufzubauen, um die kanadische Wirtschaft »voranzubringen«. Und natürlich gehört auch das im Januar 2021 vom Bundestag verabschiedete Gesetz hierher, das die Steuer-Identifikationsnummer zur einheitlichen ID für alle Bundesbürger macht. Parallel dazu laufen die Bestrebungen, ein digitales Weltgeld zu implementieren. Und natürlich macht die Europäische Union im Hinblick auf den Euro bei der Chose freudig mit und garniert das nun endlich mit der beabsichtigten Neufassung von eIDAS.

Noch mehr Zukunft [Bild von Gerd Altmann auf Pixabay.]

Der hinter der ökonomisch-philanthropisch-politischen Interessenmischung sichtbar werdende Fluchtpunkt der digitalen Identität läßt sich freilich nur erreichen, wenn die Menschen unterwegs nicht mißtrauisch werden und angesichts der drohenden digitalen ID-Totalüberwachung auf Verweigerung schalten. Um das zu verhindern, nutzt man das Vertrauen der Menschen in angesehene (staatliche) Institutionen oder Berufe, die sukzessive über nicht zuletzt finanziell lukrative Projekte auf den Pfad der digitalen Identitätsbefürworter gelockt werden. Schauen wir uns das am Beispiel der Wissenschaft und der wissenschaftlichen Bibliotheken einmal im Detail an.

Dort sehen wir, daß die im Jahre 2010 gegründete Non-Profit-Organisation »ORCID« (das Kurzwort steht für »Open Researcher Contributor Identification Initiative«) dafür sorgen will, daß weltweit jeder Wissenschaftler eine ORCID-ID erhält, unter der seine sämtlichen Veröffentlichungen verbucht werden können. Das Problem, das damit gelöst werden soll, ist zunächst ein einfaches katalogtechnisches: Hinfort wäre es möglich, die bei der Namensidentität verschiedener Wissenschaftler auftretende Frage, welcher Fritz Müller den Architektur-Bestseller und welcher Fritz Müller den Fachaufsatz zu Corona-Antikörpern geschrieben hat, durch Vergabe einer eindeutigen ORCID-ID zu beantworten.

Hat man nun aber die Logik hinter der zentralisierten digitalen Identitätserfassung einmal verstanden – nämlich die Risiko- und Kostenreduktion für die einzelnen staatlichen und privaten Akteure bei gleichzeitigem Transparenzgewinn im Hinblick auf die Kundenaktivitäten –, versteht man auch sofort, warum zu den Gründungsmitgliedern von ORCID eine ganze Reihe von Verlagskonzernen wie Elsevier, Nature und Springer gehören und der erste, im Jahre 2012 erschienene Jahresbericht außerdem ausweist, daß Repräsentanten der Verlage Wiley-Blackwell und Thomson Reuters zum Aufsichtsrat (»Board«) gehören. Denn hier geht es nicht mehr nur um Bibliothekarisch-Katalogtechnisches, sondern um die ökonomische Verwertung von Wissenschaft durch Verkauf von Zeitschriftenabonnements, Auszahlung von Tantiemen und nicht zuletzt eben auch rentables Ranking von Verlagen, Zeitschriften und Wissenschaftlern.

Der Engel der Zukunft [Bild von Pete Linforth auf Pixabay.]

Aber das ist nur das erste Drittel der Wahrheit von ORCID. Das zweite Drittel ist die unter dem Aspekt des Vertrauens wichtige Mittäterschaft großer Universitäten und ihrer Bibliotheken. Indem die MIT Libraries, die Harvard University, die Hannover Medical School, das für die Pflege von bibliothekarischen Katalogen und Normdaten so überaus wichtige Online Computer Library Center (OCLC) und die Cornell University Library von Anfang an mit im Boot saßen (wie wir dem ORCID-Jahresbericht aus dem Jahr 2012 ebenfalls entnehmen können), hat ORCID einen idealen, nämlich institutionell vertrauenswürdige Transmissionsriemen in die Wissenschaften hinein aufgebaut, um sein Anliegen dort an den Mann und die Frau zu bringen. Es hat dann auch nicht lange gedauert, bis man dank des institutionellen Vertrauens dazu übergehen konnte, die ORCID-ID für bestimmte Publikationen in bestimmten Verlagen – genannt werden die britische Royal Society und PLOS – verbindlich zu machen.

Wer diese zwei Drittel der ORCID-Wahrheit noch für unverdächtig halten will, sollte beim letzten Drittel aufhorchen. Denn ausweislich des ersten ORCID-Jahresberichts darf man davon ausgehen, daß bei ORCID von Anfang an der Wellcome Trust mitgemacht hat, und zwar nicht nur im Aufsichtsrat, sondern eben auch als »Gold Sponsor« (Seite 12 des Jahresberichts). Nun ist der Wellcome Trust mit einem Vermögen von über 26 Milliarden Euro aber nicht nur die nach der Bill & Melinda Gates Foundation zweitreichste Stiftung der Welt, sondern gehört wie diese zu den Förderern der Coalition for Epidemic Preparedness Innovations (CEPI), einer 2017 auf dem World Economic Forum lancierten Initiative mit folgendem schönem Ziel: »CEPI is an innovative global partnership between public, private, philanthropic, and civil society organisations launched in Davos in 2017 to develop vaccines to stop future epidemics.« Daß sich dieses Ziel auf ganz wunderbare Weise mit dem verträgt, was man mittels ID2020 erreichen will, liegt auf der Hand.

Das Bild vervollständigt sich, wenn man sich die Mühe macht, auf der Website von ORCID nach weiteren Mitgliedern Ausschau zu halten, deren Aktivitäten in der Schnittmenge von Medizin, Pharmakologie und Datenmanagement angesiedelt sind. Man wird dann leicht finden, daß nicht nur die Deutsche Forschungsgemeinschaft als wichtigste deutsche Förschungsförderorganisation mit dabei ist, sondern neben dem international wichtigen OCLC auch die für die Aktivitäten der deutschen Bibliotheken – vor allem der wissenschaftlichen Bibliotheken – unverzichtbare Deutsche Nationalbibliothek. Das heißt, daß es ORCID seit seiner Gründung gelungen ist, weitere vertrauenswürdige Einrichtungen mit ins Boot zu holen, über die das Anliegen der zentralen Datenkontrolle in die Breite der Nationalstaaten und Wissenschaftsgemeinden gestreut und real umgesetzt werden kann.

Unmaskiert [Bild von Gerd Altmann auf Pixabay.]

Daß sich die datengierigen Firmen und Behörden so etwas nicht zweimal sagen lassen, ist wenig überraschend. Und so registrieren wir völlig überraschungslos, daß die amerikanische Food and Drug Association (FDA), die amerikanischen Centers for Disease Control (CDC), die OECD und natürlich die von Mark Zuckerberg in die Welt gesetzte Plattform Meta bei ORCID mittun. Neben dem Helmholtz Zentrum für Infektionsforschung übrigens, das in den vergangenen zwei Corona-Jahren als Hort der deutschen No-Covid- und Durchimpfungs-Hardliner so überraus medienwirksam sichtbar wurde.

Was alle diese Akteure eint, ist nebem dem Datenhunger der Anspruch, die Welt infektionsfrei machen zu können, wenn es denn nur gelänge, alle auf dem Planeten Erde lebenden Menschen mit einer digitalen Identitätsnummer auszustatten, über die sich die Infektionswege nachverfolgen und Ausgangssperren und Impfkampagnen steuern lassen. ORCID ist ein Beispiel dafür, wie sich dabei sektorale Interessen (hier: der Wissenschaften und der Bibliotheken) mit dem ökonomischen Kalkül von Weltkonzernen und dem Machtkalkül von politischen Akteuren überschneiden und eine Gemengelage produzieren, in der mit dem besten Gewissen der Welt an der digitalen Totalisierung unserer Lebenswelt gearbeitet wird.


[Erstveröffentlichung am 28. April 2022 in reformierter Orthographie und unter dem redaktionellen Titel »Je mehr Digitalisierung, desto mehr Überwachung« auf Achgut.com.]