Wer sein Ohr am Puls der Zeit und am Mund seines Mitmenschen hat, bekommt mitunter erstaunlich Erhellendes zu hören. Denn während die verlauterbachte Maßnahmenpolitik gerade wieder herbstlich zu greifen beginnt und die ersten Bundesländer freudig die Möglichkeit ergreifen, im öffentlichen Raum und dem Biotop der Behörden das Tragen von Masken anzuordnen (oder gerade wieder davon abrücken — zwei Schritt vor, einer zurück), während sich der Widerstand gegen Maßnahmen und Masken im östlichen Teil unseres mentaldividierten Landes weiter zu verstärken beginnt, kurz: während die bekannte Konfrontation in die nächste Runde geht, gibt es unter uns Mitmenschen, die das alles ganz anders sehen. Sie sind die wahren Dissidenten unserer Zeit, über die niemand berichtet. 5artikel aber schon. Es geht hier ja auch um Kultur… Daher im Folgenden in schonungsloser Offenheit ein Blick in den Abgrund wahrhaft zeitgenössischer Dissidenz, wie sie ein Leser*** aus dem Reich von Sherlock Holmes und Dr. Watson praktiziert und ausführlich mitteilte:
»Ich finde es gut, wenn es jetzt bald wieder Maskenpflicht auch in den Innenräumen gibt. Meines Erachtens kann es gar nicht genug Maskenpflicht geben. Sie sollte immer und überall gelten, denn sie erleichtert mir als einem heteronormativen Cis-Mann (weiß, im besten Paarungsalter, finanziell unabhängig, attraktiv, intelligent, selbstbewußt) den Umgang mit dem geschlechtlichen Gegenüber ungemein.
[Bild von TastyCinnamonn auf Pixabay.]
Um das zu erklären, hier eine kleine Geschichte vom vergangenen Sommer. Es war im August, der Himmel war blau, die Temperaturen klimawandlerisch hoch, das Freibad meiner kleinen Heimatstadt dementsprechend voll. Ich lag zwecks Bräunung in der Sonne, mit Blick auf das gut gefüllte Schwimmbecken, wo zu meiner Freude attraktive Damen ihre Exerzitien trieben: sich abduschten, an der Front des Beckens entlangschritten, auf daß man sie auch wahrnehme, und dann scheu ins Wasser glitten und prustend schwammen. Soweit, so normal.
An jenem denkwürdigen Tag aber geschah das Folgende: Wie ich da so in der Sonne liege und in dieselbe blinzle, immer mit einem Seitenblick auf das Schwimmbecken, entsteigt SIE dem Wasser, schüttelt das Wasser aus ihrem langen Haar und läuft auf mich zu. Schräg aus der Sonne kam sie, mein Auge blendend, ein entzückender Schatten, der vieles erahnen ließ und vieles versprach. Sie wissen schon: ein wunderbar schlankes Beinwerk, zeugungs- und gebärfreudige Hüftweite, nicht zu weit freilich, im Gegenlicht kein störender Bauchansatz, darüber zu erahnen ein einladendes ›Milchlädle‹ (Dr. Thaddäus Troll: Wo kommet denn dia kloine Kender her? Hamburg: Hoffmann und Campe, 1974), und dann ein schlanker Hals, auf dem ein Kopf mit lockigem Wallehaar saß.
Ich wurde neugierig und unruhig, und was auch immer sich da in und an mir regte, es schien bei der auf mich Zuschreitenden nicht ohne Antwort zu bleiben. Jedenfalls: Ich hatte das deutliche Bewußtsein, daß hier ein Kontaktversuch in seinen ersten zarten Formen stattfand. Da dachte ich mir: Erstmal kommen lassen und schauen, wie es weitergeht.
[Bild von Sasin Tipchai auf Pixabay.]
Nun also, sie kam auf mich zu, und dann war sie endlich aus dem Gegenlicht, und erfreut — ich lag ja auf meinem Handtuch und musste die Sache also froschperspektivisch beobachten — sah ich die bereits erwähnten Beine in ihrem klassisch-haarlosen Braun, den durch einen knappen Bikini kaum bedeckten J.Lo-Po nebst wohlproportionierter Hüfte, den flachen und jugendlich wirkenden Bauch, das bereits erwähnte vielversprechende ›Milchlädle‹ — und dann das Gesicht. Schluß. Aus. Fertig.
Was war geschehen? Ich sah in ein Gesicht mit Maske. FFP2.
[Bild von Engin Akyurt auf Pixabay.]
Schlagartig wurde mir klar: Was immer da an attraktivem Körper auf mich zukam, es wurde durch die Maske augenblicklich nullifiziert. Wo eben noch die Lust aufzusteigen begann, ging es jetzt ärgerlich bergab mit dem Interesse, und übrig blieb eine Art angewiderter Ablehnung: Mit so jemandem wollte ich nichts zu tun haben, auf keinen Fall. Denn, mal ehrlich, was soll ich mit dem Leib, wenn ich ihr ›dabei‹ nicht ins Gesicht schauen kann? Kein verzückter Mund, keine glänzenden Lippen, kein ungefiltertes Stöhnen oder was sonst normalerweise dazugehört.
Ich weiß schon, was Ihre Leser jetzt sagen werden: Die läßt das doch nicht auf, die nimmt das ›dabei‹ doch bestimmt ab. Woher soll ich das wissen? Und schlimmer noch: Ich will das gar nicht mehr wissen. Ich bin da in gewisser Weise sehr altmodisch und schwöre Stein und Bein darauf, daß das Alte Testament recht hat, wenn dort das Wort ›Erkennen‹ für zweierlei benutzt wird: für den Sexualakt und für das geistige Erkennen des Gegenüber. Ich schließe daraus für meinen Hausgebrauch, daß, wer sich nicht mehr erkennen lassen will, auch keinen Sex will und braucht — und umgekehrt. Denn entweder sind wir bereit, uns dem andern auszuliefern, was beim sexuellen Sekretetausch ja eine besonders heikle Sache ist, oder wir lassen es eben bleiben.
Und, ehrlichgesagt, sind wir nicht längst in die Phase eingetreten, da unsere Gesellschaft sich spaltet in die Empfangsbereiten und die Verstockten, in die Lebensfrohen und die Verspannten, in die mit freiem Gesicht, offener Meinung und prima Sex — und die mit Schutzmaske, medialer Glaubens- und Unterwerfungsbereitschaft und maskenbewehrter Prüderie? Hatten Sie nicht auch in den vergangenen zweieinhalb Jahren den Eindruck, unsere Welt werde zunehmend von Betschwestern und Betbrüdern bevölkert, die das Lachen verlernt und die Lust in sich erfolgreich abgetötet haben? Oder vielmehr: die eine noch viel größere Lust entdeckt haben, nämlich die Lust am Untergang? Sollten wir uns nicht endlich angewöhnen, die Dinge und Personen beim Namen zu nennen, also von einer untergangsgeilen Greta, einer untergangsgeilen Luisa und einem untergangsgeilen Karl sprechen, deren höchste Lust nicht in der Fortpflanzung, sondern der Fortpflanzungsverweigerung und -verhinderung besteht?
[Bild von Alexandr Ivanov auf Pixabay.]
Ich habe in meinen Leben das Wort ›pervers‹ nicht oft benutzt; aber wenn je etwas und jemand pervers war, dann diese Gretas, Luisas und Karls, denen es gelungen ist, das Positivste der Welt ins rein Negative zu verkehren und die Angst vor dem nahenden Nächsten und dem unbekannten Kommenden mit voller Medienenergie zu zelebrieren. Die sind, ich sag’ das mal so, öffentlich angstgeil. Für mich und was zu mir gehört schäme ich mich nicht; aber ich empfinde Scham angesichts der Tatsache, daß dieses angstgeile Personal soweit nach oben gekommen ist, daß es den Lauf unserer Welt bestimmen und das tun kann, was dieser Schlag Mensch schon immer getan hat: Sie zerstören. Von Grund auf. Und der Grund unseres Lebens ist nunmal der Sex. Die Fortpflanzung. Die Freude daran und an dem, was daraus entstehen und sich entwickeln wird und uns einander verpflichtet.
Und deshalb bin ich für die Maske, immer und überall. Sie hilft mir, die Menschen zu unterscheiden. Auf der einen Seite diejenigen, die die Maske ablehnen und trotz Zwang nicht tragen, auch wenn es sie etwas kostet; mit ihnen lohnt es zu leben. Und auf der anderen Seite all jene, die sich in ihrer Angstgeilheit selbst aufs sterile Aussterben programmiert haben. Kurzum: Seit dem Anbruch des Maskenzeitalters kann jedermann und jedefrau wissen, wer zum Sexual- und dann auch Lebenspartner taugt und wer nicht. Noch nie war es so einfach — ich spreche natürlich als Mann – die überzarten Mimosen, die vermeintlichen Prinzessen und die innerlich verhärmten Betschwestern, die andere brauchen, um ausgehalten zu werden, selber aber niemanden aushalten, von jenem Teil der Menschheit zu unterscheiden, mit dem ein Leben in Freiheit und Freude möglich ist und die Zukunft eine Verheißung.
[Bild von S. Hermann / F. Richter auf Pixabay.]
Das alles kam mir in den Sinn, an jenem sonnigen Augusttag im Freibad, an dem sich der pralle, lebendige Leib in ein frigides Ding verkehrte, mit dem ich nichts zu tun haben wollte. Sie lief dann noch ein paarmal an mir vorbei, wiegenden und werbenden Schritts. Ich registrierte das, kurz aufsehend und dann in dem Buch weiterlesend, das ich mir ins Freibad mitgenommen hatte. Es war übrigens Schlegels Lucinde. Kennen Sie’s? Dann würde mich Ihre Meinung interessieren.
Mit freundlichen Grüßen,
***«