Wie Schriftsteller Papier beschreiben

Der Beschreib-Stoff als Metapher für Bewahrung und Auslöschung

Geschrieben von Jürgen Schmid am 19.1.2023

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Jürgen Schmid

Historiker

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Büchern bin ich zugeschworen,
Bücher bilden meine Welt,
Bin an Bücher ganz verloren,
Bin von Büchern rings umstellt.
Zärter noch als Mädchenwangen
Streichl’ ich ein geliebtes Buch,
Atme bebend vor Verlangen
Echten Pergamentgeruch.

Karl Wolfskehl (1869–1948), der Dichter, Publizist und Übersetzer aus München, von dem diese Zeilen stammen, war im Freundeskreis als »berüchtigter« Büchersammler und Bücherliebhaber bekannt. Der zitierte »Lobgesang auf Bücher« entstammt aus seiner 1931 in Mün­chen erschienenen Anthologie mit dem schlichten Titel Bücher–Bücher–Bücher–Bücher, in der er laut Untertitel »Elemente der Bücherliebekunst« ver­sammelt hat. Sinnigerweise wurde diese Sammlung, von der die Monacensia-Biblio­thek in München ein Exemplar verwahrt, auf handgeschöpftem Büttenpapier in einer limitierten Auflage von 225 Exemplaren gedruckt.

Beschreibstoffe — um es neutral zu formulieren — haben immer schon die Fantasie des Dichters erregt. Weniger hymnisch-erotisch als Wolfskehl hat zweitausend Jahre vor ihm der römische Satiriker Catull den Papyrus, den Beschreibstoff seiner Zeit, aufs Korn genommen: Der Chronik des von Catull offenbar wenig geschätzten Kollegen Volusius billigt der Dichter keine lange Lebensdauer zu, sie gäbe »für Makrelen häufig ein loses Gewand«, würde also mangels Qualität und Leserschaft ein unrühm­liches Ende als Einwickel-»Papier« auf dem Fischmarkt nehmen…

Und auch im 20. Jahrhundert kolportierte man den Zusammenhang zwischen der Qualität des Beschreibstoffs und der Qualität des Geschriebenen bzw. Gedruckten:

Nimm hin dies Buch! Und grauset’s Dir
ob seiner schwarzen Ziele —
das trag ich. — Doch verzeihe mir
den schlechten Druck, das Holzpapier;
auch mir zergeht in Tränen schier
das Herz, das bibliophile.

Erich Mühsam (1878–1934) schrieb diese Zeilen als Widmung für Carl Georg von Maassen in seinen 1921 im Berliner Malik-Verlag veröffentlichten Judas. Der Schrift­steller und Anarchist erlebte das Erscheinen der Druckfassung seines »Arbeiter-Dramas in fünf Akten« in der Festungshaft Niederschönenfeld, wo er als Rädelsführer der Münchner Räterepublik eine 15jährige Freiheitsstrafe abzusitzen hatte. Das »Holz­papier«, das der Schriftsteller als äußerst unästhetisch empfindet, ist ein Tribut an die Mangelwirtschaft nach dem Ersten Weltkrieg. Das Widmungsexemplar, heute in der Universitätsbibliothek München verwahrt, enthält auch die Antwort des Widmungs­trägers, dem der Inhalt wohl gar nicht zugesagt hat, so daß er wie fast zweitausend Jahre zuvor Catull auf das seiner Meinung nach verdiente traurige Schicksal von Werk und Werkträger anspielt:

Für dies Buch ist, das glaube mir,
Recht passend solches Holzpapier,
Das sicher nicht zu lange währt
Und baldigst in den Orkus fährt.

Es kann wahrlich nicht verwundern, daß Schriftsteller zu allen Zeiten über den geheimnis­vollen Stoff nachdenken, dem sie ihre Gedanken und Gefühle anvertrauen und durch den erst deren massenhafte Verbreitung möglich wird. War es in der Antike der Papyrus, im frühen Mittelalter das Pergament, so ist es ab dem späten Mittelalter das Papier, das als »Kultur­träger« im Sinn des Wortes eine nicht zu unterschätzende Rolle im menschlichen Geistesleben spielt. Nicht umsonst sprechen die frühen Fest­schriften deutscher Papierfabrikanten oftmals von den kulturellen Leistungen ihrer Unternehmungen. Die Geschichte der Papierfabrik Königstein aus dem Jahr 1901 betont, daß die Papierindustrie eine der »epochemachend­sten« gewesen sei: »Man kann sich kaum vor­stellen, wie die Kultur sich entwickelt haben würde, wenn es kein Papier gegeben hätte.« Die Einschätzung, »das Erwachen geistigen Lebens in Deutschland« datiere »erst von der Einführung der Papiermacherei im 14. Jahr­hundert«, ist natürlich stark überzeichnende Eigenwerbung der Papierbranche.

»das papier ist gedul­dig […, es] läszt drucken was man will« — diese berühmten Metaphern überliefert der Sprachforscher Karl Simrock (1802–1876) in seiner Sammlung Die deutschen Sprichwörter (1846) aus der Mitte des 19. Jahr­hunderts. Welche Eigenschaften Schriftsteller im 20. Jahrhundert dem Stoff zuge­schrie­ben haben, der ihre Werke dauerhaft fixieren und massenhaft verbreiten half, soll in diesem Beitrag an einigen ausgewählten Beispielen zu den Metaphern von Vergessen und Zerstören gezeigt werden.

Halldór Laxness’ Islandglocke

Der Umgang mit Pergament als Indikator für kulturelle Blüte und existentielle Armut

Der isländische Literaturnobelpreisträger Halldór Kiljan Laxness (1902–1999) philoso­phiert in seiner zur Zeit der isländi­schen Unabhängigkeitserklärung 1944 entstande­nen Romantrilogie Island­glocke (isl. Islandsklukkan) über den Bedeutungswandel von Pergament: In der glor­reichsten Epoche der isländischen Geschichte, als die Sagas der Inselbewohner im Nordmeer als Höhepunkte der europäischen Literatur galten, waren die beschriebenen und kunstvoll bemalten »Kuhhäute« ein Indikator für kulturelle Hochblüte. Während des 17. Jahrhunderts, in dem der historische Roman spielt, als die Isländer in bitterster Armut dem Hungertod preisgegeben waren, dien­ten die kostbaren Manuskripte nur noch zum Flicken von Hosen, zum Ausstopfen von Fensterritzen, als Füllstoff von Matrazen oder als Einlage in Schuhen.

Die für unseren Zusammenhang entscheidende Szene spielt auf dem Hof des ver­armten Bauern Jón Hreggvidsson, den hoher Besuch überrascht: In Begleitung des Bischofs von Skálholt betritt der Gelehrte Arnas Arnaeus das heruntergekom­mene Gehöft:

»Arnas Arnaeus […] hat ein reales Vorbild. Er hieß Arni Magnusson, war ein berühmter Wissenschaftler in Kopenhagen und erwarb sich große Verdienste, indem er überall in Island Manuskripte sammelte und so die mittelalterliche Literatur des Landes vor dem Verloren­gehen bewahrte. Im Roman vertritt Arni die Überzeugung, ›daß alle Herrenhöfe in Island nicht viel wert sind, verglichen mit den alten islän­di­schen Handschriften‹, sie sind ihm offenbar die einzige Existenzberechtigung der Isländer. ›Er sagte: Die Seele der nordischen Völker wohnt in isländischen Büchern und nicht in den Menschen, die jetzt im Norden oder in Island selbst wohnen.‹ Wir begeg­nen hier wieder einmal einem Intellektuellen, der Idealen und Büchern einen höheren Stellenwert beimißt als den Menschen.«

Der Gelehrte interessiert sich nicht für die unsäglichen Lebensumstände der Hofbe­wohner, er sucht nach Pergament: »Leider Gottes hatte der selige Pastor Gudmundur […] die Gepflogen­heit, alte Pergamentbücher mit ruhmreichen Sagas zu zerreißen, deren Blätter […] kostbarer denn Gold waren; und einige derselben, und zwar jedes einzelne Blatt, wären nicht mit einem Herrenhof zu teuer bezahlt worden. Alsdann ließ er diese Pergamentblätter zu Ein­bänden für Gesangbücher verarbeiten, die er zuvor von der Druckerei auf Hólar in geheftetem Zustande bekam und danach an seine Pfarrkinder gegen Fisch verkaufte.«

Auf die Frage, wo man denn auf dem Hof noch Teile dieser Pergamente finden könne, verweist der Bauer auf das Bettgestell seiner Mutter, wo zunächst allerdings nur Un­rat zu Tage kommt. »Endlich, nach langem, sorgfältigem Suchen, zog der vornehme Gast aus dem stockigen Heu einige zusammengerollte, zerknitterte Kalbshautfetzen, so steif, vertrocknet und steinhart geworden, daß es kaum möglich war, sie zu glätten. […] ›Die Schrift dürfte wohl aus dem dreizehnten Jahrhundert sein‹, sagte Arnas Arnaeus. ›Soviel ich sehen kann, haben wir hier nichts Geringeres vor uns als Blätter aus der Skálda‹.«

Elektrisiert durch diesen Fund, unterzieht der Gelehrte die greise Mutter des Bauern einer strengen Befragung. Diese berichtet daraufhin zu seinem Entsetzen, sie hätte »vor langer Zeit diese Hautlappen aufgeweicht und ein Blatt herausgerissen, um damit ihres Jóns Hose zu flicken, es habe sich jedoch als ganz unbrauchbar erwiesen und nicht einmal den Nähfaden halten können; und als der Gast fragte, wo dies Blatt wohl geblieben wäre, antwor­tete die Alte zuerst, es sei bislang noch nie bei ihr Brauch gewesen, etwas wegzu­schmeißen, was verwendbar wäre […]; es wäre wahrhaftig ein geringer Hautfetzen gewe­sen, der reinweg zu gar nichts brauchbar gewesen sei wäh­rend der harten Jahre, wo viele ihre Schuhe hätten essen müssen; wäre es nur ein Endchen Schuh­riemen, so könnte man den noch Kindern in den Mund stecken, um daran zu lutschen.«

Extreme prallen hier aufeinander: Das Pergament ist für den Gelehrten der Lebens­nerv seiner geistigen Welt, in der er den Blick auf die Realität der Gegenwart ver­loren hat. Für die ver­armte Landbevölkerung hingegen sind die alten Handschriften zu beliebigen Ressourcen im Überlebenskampf geworden.

Umberto Ecos Der Name der Rose«

Die Angst vor gefährlichen Gedanken

»Christus hat nie gelacht!«

Für die Verteidigung dieses theologischen Glaubenssatzes muß Jorge von Burgos, ein blinder greiser Mönch, der während des 14. Jahrhunderts in einer oberitalieni­schen Benediktiner-Abtei lebt, nicht nur ein altes Buch versteckt halten, er fühlt sich auch gezwungen, mehrere Morde zu begehen. Als junger Mann hatte Jorge in seiner spanischen Heimat ein Exemplar des zweiten Buches der Poe­tik des Aristoteles über die Komödie entdeckt, eines der ersten Bücher, die damals nicht auf Pergament, sondern auf einem neuen Beschreibstoff geschrieben waren: auf Papier.

Umberto Eco läßt den Gottesmann in seinem Roman Der Name der Rose (1980) erschauern: Wenn dieses Buch des Aristoteles über das Lachen bekannt wird, hat der Antichrist gesiegt. »Das Lachen schüttelt den Körper, entstellt die Gesichtszüge und macht die Menschen den Affen gleich. […] Die Seele ist heiter nur, wenn sie die Wahrheit schaut und sich am vollen­deten Schönen ergötzt, und über die Wahr­heit und Schön­heit lacht man nicht. Eben darum hat Christus niemals gelacht. Das Lachen schürt nur den Zweifel.«

Der Gegenspieler von Jorge ist der eigenwillige Franziskaner William von Baskerville, dem es gelingt, das Geheimnis der Abtei zu lösen: »Ich will das zweite Buch der Poetik des Aristoteles sehen, das für alle Welt als verschollen oder niemals geschrieben gilt und dessen womöglich letzte Abschrift du hütest.«

Jorges Lebensaufgabe, der Welt ein Buch über das gottlose Lachen zu entziehen, scheint gescheitert. Umberto Eco aber läßt seinen Protagonisten eine letzte Trumpf­karte ziehen: »[Jorge] begann mit seinen knochigen, welken Greisenhänden die mürben [vergifteten] Seiten des Buches langsam in schmale Streifen zu reißen und sie sich in den Mund zu stecken, an­dächtig kauend, als verzehre er eine Hostie, um sie Fleisch von seinem Fleische werden zu lassen [...]: ›Ich versiegle, was dem Willen des Herrn zufolge nicht auf­geschrieben werden sollte, ich begrabe es in dem Grab, das ich werde!‹«

Aber nicht nur die Poetik des Aristoteles wird im apokalyptischen Roman-Finale aus­gelöscht, die gesamte Bibliothek mit all den unersetzlichen Handschriften wird ein Raub der Flammen. Der Hort des Wissens und der Ort der Bewahrung von Wissen in der mittelalterlichen Welt, die klösterliche Bibliothek mit dem angeschlossenen Skrip­torium, ist vernichtet. Auf einen Schlag versinkt eine ganze geistige Welt in Schutt und Asche — wie beim Brand der berühmten Bibliothek von Alexandria in der Antike.

Papier ist in Ecos Name der Rose ein fragiler Erinnerungsträger, der demjenigen im Wege steht, der darauf Meinungen entdeckt, die seinem Weltbild widersprechen. Die Fragilität des Beschreibstoffs kommt dem Wunsch nach Auslöschung entgegen. Es ist eine eigenartige Vorstellung, man könnte durch Vernichtung des Datenträgers die darauf erfassten Gedanken ungeschehen machen: »Das zweite Buch der Poetik des Aristoteles ist nie geschrieben worden« — das möchte Jorge von Burgos gerne glauben.

George Orwells 1984

Die Auslöschung des Gedächtnisses

Zentrale Bedeutung für die Metapher vom Papier als fragilem, äußerst gefährdetem Träger des Gedächtnisses besitzt im 20. Jahrhundert George Orwells (1903–1950) düstere Zukunfts-Vision Nineteen Eighty-Four (1948): Im Jahr 1984 ist die Welt unter den drei Großmächten Ozeanien, Eurasien und Ostasien aufgeteilt. Ozeanien ist das Schreckensbild eines totalitären Staates, wie er vielleicht am ehesten in Nord­korea verwirklicht wurde. Der Regierungsbeamte Winston Smith arbeitet im Londoner »Wahr­heitsministerium«. Er hat die Aufgabe, alte Zeitungsberichte der jeweils neuen Lage »anzupassen«:

»Die Times vom 19. Dezember [1983] [hatte] die offiziellen Voraussagen der Produktion verschiedener Gebrauchsgüter während des vierten Quartals von 1983 publiziert [...]. Die heutige Ausgabe enthielt einen Bericht der tatsächlichen Produktion, aus dem hervorging, daß die Voraussagen in jeder Sparte grob unrichtig waren. Winstons Aufgabe bestand nun darin, die ursprüng­lichen Zahlen richtigzustellen, indem er sie mit den späteren in Übereinstimmung brachte.«

Nach »Berichtigung« der Meldung wird der ursprüngliche Text vernichtet, indem er in soge­nannte »Gedächtnis-Löcher«, kleine Schlitze über den Schreib­tischen, geworfen wird, um in riesigen Öfen verbrannt zu werden. Das Ergebnis dieser Tätigkeit des »Wahrheitsministeriums« ist katastrophal. Die physi­sche Auslöschung des Datenträgers zieht unweigerlich eine Aus­löschung des Ge­dächtnisses nach sich:

»Wenn alle Korrekturen, die in einer Nummer der Times nötig geworden waren, gesammelt und kritisch miteinander verglichen worden waren, wurde diese Nummer neu gedruckt, die ursprüngliche vernichtet und an ihrer Stelle die richtiggestellte Ausgabe ins Archiv eingereiht. Dieser dauernde Umwandlungs­prozeß vollzog sich nicht nur an den Zeitungen, sondern auch an Büchern, Zeitschriften, Broschüren, Plakaten, Flugblättern, Filmen, Lieder­texten, Karikatu­ren — an jeder Art von Literatur, die irgendwie von politischer oder ideologischer Bedeutung sein konnte. Einen Tag um den anderen und fast von Minute zu Minute wurde die Vergangen­heit mit der Gegenwart in Einklang gebracht. Auf diese Weise konnte für jede von der Partei gemachte Vorhersage der dokumentarische Beweis erbracht werden, daß sie richtig gewesen war; auch wurde nie geduldet, daß man eine Ver­lautbarung oder Meinungsäußerung aufhob, die den augenblicklichen Gegeben­heiten widersprach. Die ganze Historie stand so gleichsam auf einem auswechsel­baren Blatt, das genau so oft, wie es nötig wurde, radiert und neu be­schrieben werden konnte. In keinem Fall wäre es möglich gewesen, nach Durchführung des Verfahrens nachzu­weisen, daß eine Fälschung vorgenommen worden war.«

Ray Bradburys Fahrenheit 451

Austilgung der Kulturgeschichte

Die apokalyptische »Fortsetzung« des Orwell’schen Auslöschungstraumas bildet der wenige Jahre nach 1948 erschienene Roman Fahrenheit 451 von Ray Bradbury. Der Titel des Buches wird in einem Vorsatz erläutert: »Fahrenheit 451 (232° Celsius): der Hitzegrad, bei dem Bücherpapier Feuer fängt und verbrennt«. Bereits im ersten Satz des Romans ist die Thematik (und Dramatik) angelegt: »Es war eine Lust, Feuer zu legen.« Und gleich zu Beginn wird auch die Metapher von dem stets gefährdeten Beschreibstoff Papier aufgegriffen:

»Es war eine eigene Lust, zu sehen, wie etwas verzehrt wurde, wie es schwarz und zu etwas anderem wurde. Das gelbe Strahlrohr in der Hand, die Mündung dieser mächtigen Schlange, die ihr giftiges Kerosin in die Welt hinausspie, fühlte er das Blut in seinen Schläfen pochen, und seine Hände waren die eines erstaunlichen Dirigenten, der eine Symphonie des Sengens und Brennens aufführte, um die kärglichen Reste der Kulturgeschichte vollends auszutilgen. Auf dem Kopf den Helm mit dem Zeichen 451, in den Augen einen flammenden Wider­schein dessen, was nun kommen sollte, knipste er das Feuerzeug an, und das Haus flog auf in eine gierige Lohe, die sich rot und gelb und schwarz in den Abendhimmel hineinfraß. Er selber war umschwirrt wie von einem Schwarm von Leuchtkäfern. Ein altes Witzwort kam ihm in den Sinn, und er hätte am liebsten eine aufgespießte Wurst in die Feuers­brunst hineingehalten, während die Bücher mit dem Flügelschlag weißer Tauben vor dem Haus den Flammentod starben. Während die Bücher in Funkenwirbel aufsprühten und von einem brandgeschwärz­ten Wind verweht wurden.«

Die Auslöschungsphantasien sind natürlich nicht der Moderne und dem westlichen Kultur­kreis vorbehalten. Tilman Spengler berichtete jüngst von einer Geschichte, die im Jahre 1728 im alten China spielte, wo der allmächtige Kaiser und Himmelssohn mit den Schriften eines ver­meintlichen Verschwörers kurzen Prozess macht — und da­bei Methoden anwendet, die die Vorlage zu George Orwells »1984« sein könnten: »Der Mensch, ein Schicksal ist erst ausge­löscht, wenn jedes seiner Schriftzeichen verschwunden ist.«

In der Verfilmung von Fahrenheit 451 mit dem genialen Oscar Werner in der Rolle des Feuer legenden Feuerwehrmanns Montag blicken wir am Ende in die suggestiven Bilder einer negativen Zukunfts-Utopie: Es gibt kein Papier, damit keine Bücher, keine gedruckten Texte mehr, alles ist ein Raub der Flammen geworden. Aber der Geist der Bücher lebt in einzelnen Menschen weiter, die alle jeweils ein Buch in ihrem Gedächt­nis tragen, das sie — um es vor der Auslöschung zu bewahren — auswendig gelernt haben, und dessen Inhalt sie wiederum an andere weitergeben: In Ermangelung von papierenen, materiell greifbaren Büchern ist der denkende Mensch selbst zum »Schrift­träger«, zum »Buch« geworden, als immaterieller »Beschreib-Stoff« dient ihm dabei sein Gedächtnis. Der menschliche Geist ist hartnäckig und unauslöschlich, diese Hoffnung bleibt uns als tröstliche Botschaft. Dauerhafter jedenfalls als Papier.


Nachweis der abgedruckten Texte (in der Reihenfolge ihres »Auftretens«, mit Erscheinungsort und Jahr der Originalausgabe sowie der deutschen Erstausgabe):

Halldór Gudmundsson: Halldór Laxness. Leben und Werk. Göttingen 2002, S. 111.

Halldór Laxness: Islandglocke. Romantrilogie. Aus dem Isländischen von Ernst Harthern. suhrkamp taschenbuch 228, Frankfurt am Main 1975 [Islandsklukkan, Reykjavik 1943/1944/1946, Frankfurt am Main 1951].

Umberto Eco: Der Name der Rose. Roman. Aus dem Italienischen von Burkhart Kroeber. Carl Hanser Verlag, München 1982 [Il nome della rosa, Mailand 1980, München 1982].

George Orwell: 1984. Aus dem Englischen von Kurt Wagenseil. Bertelsmann Club GmbH, Gütersloh o.J. [Nineteen Eighty-Four, London 1949, Zürich 1950].

Ray Bradbury: Fahrenheit 451. Roman. Aus dem Amerikanischen von Fritz Güttinger. Mit 14 Schab­bildern von Katrin Stangl. Büchergilde Gurtenberg, Frankfurt am Main 2002 [New York 1953, Zürich 1955].

Jonathan D. Spence: Verräterische Bücher. Eine Verschwörung im alten China. München 2005. — Tilman Spengler: Der absolute Herrscher aller Archive. Süddeutsche Zeitung vom 5./6. November 2005, S. 16.


Der hier abgedruckte Text geht zurück auf einen Vortrag von Jürgen Schmid beim Deut­schen Arbeitskreis Papiergeschichte in Weddersleben am 21.9.2003. Die Veröffentlichung war vorgesehen in: Deutscher Arbeitskreis für Papiergeschichte (DAP). 13. Arbeitskreistagung in Weddersleben vom 18.–21. September 2003. Dort nicht er­schienen, da Zeitschrift eingestellt (Mitteilung Dr. Frieder Schmidt, Nationalbibliothek Leipzig).