Welche Schäden eine denunziatorische Sprache anrichtet, die Menschen als »toxisch« und »infektiös« markiert, um sie aus der Gemeinschaft auszuschließen, hat Teil I der »Sozialen Virologie« gezeigt — eine gespenstische Vorwegnahme und Voraussetzung der polit-medialen Hexenjagd auf Kritiker des coronaren Maßnahmenstaates.
In diesem und den folgenden Teilen soll erkundet werden, welche Denker den monströsen Überwachungs- und Denunziationsapparat erklärt und kritisiert haben, lange bevor die Pandemie in Szene gesetzt wurde und wie sich diese Theoretiker (mitsamt ihrer Epigonen) aus der Affäre zogen, als ihre papierenen Konstrukte mit der Realität konfrontiert wurden. Denkmodelle treffen Ausnahmezustand — Intellektuelle zwischen Selbstanspruch und Wirklichkeit. Ein Drama des Versagens. Erster Akt: Wie sich Foucaults Epigonen verrannten und an ihrem Meister versündigten.
Jürgen Habermas und Noam Chomsky, beide weit über 90 Jahre alt und weltweit als geistige Vordenker ihrer Zeit verehrt (über sie handelt Teil III dieser Reihe), die italienischen Philosophen Roberto Esposito und Giorgio Agamben, die deutsche Verfassungsrichterin und Schriftstellerin Juli Zeh (zu ihnen äußert sich Teil IV) — sie alle brachten ein Lebenswerk mit an jene Schwelle im März 2020, als die Welt plötzlich stehen blieb, weil ein Virus sie angehalten hat.
Und bereits an diesem Punkt der Erzählung scheiden sich die Geister: Während die einen behaupteten, Regierungen wären in ihrer Pandemiepolitik ohnmächtig abhängig davon, zu welchen Schritten das Virus sie zwingt, auf den Punkt gebracht von Sachsens Ministerpräsident Kretschmer, der verlautbarte, darüber, wann es eine Rückkehr zur Normalität gebe, »entscheidet nicht die Politik, sondern das Virus« — eine Sicht, die »Corona« als handelndes Subjekt personifizierte, das ungern »verhandelt«, niemals »müde wird« und dies und das »verhindert«, etwa Weihnachtsmärkte oder Chorproben —, beharrten andere auf der Menschengemachtheit der »Maßnahmen«, die dem Staat keineswegs »aufgenötigt« (Habermas) und schon gar nicht alternativlos wären.
Die Sicht der Diktierer, welche vorgaben, doch nur dem Diktat des Virus, einer Naturkatastrophe, zu folgen, geleitet von »der Wissenschaft«, wurde schnell hegemonial — und so geriet die Welt ab dem Frühling 2020 (in Deutschland begann am 22. März 2020 der erste Lockdown) für mehrere Jahre in eine sich immer rasanter drehende Spirale von Eskalationsstufen der Panik, Hysterie und Hetze gegen Andersdenkende. Viele Demokratien, auch die Bundesrepublik Deutschland, verwandelten sich in einen Gesundheitsstaat, in dem Grundrechte weitgehend eingeschränkt, parlamentarische Willensbildung durch eine verfassungsrechtlich nicht vorgesehene Ministerpräsidentenrunde mit Kanzlerin ersetzt und — horribile dictu — Denunziationsstolz als Ausweis für höhere Moral galt, angefeuert durch regierungsamtliche Aufrufe zur anonymen Anzeige auf speziell dafür eingerichteten Portalen im Internet. Und die Medien als »Vierte Gewalt« boten ein Bild von Gleichgeschaltetheit und Regierungskonformismus, wie es man es seit Menschengedenken nicht mehr erlebt hatte.
Dramatisierende Rhetorik im »Panik- und Sorge-Paradigma« (WirtschaftsWoche) dominierte: »Das Ende der Welt, wie wir sie kennen«, Beschwörung einer überlebensnotwendigen Akzeptanz einer sogenannten »neuen Normalität«, Macrons martialische Kriegserklärung an das Virus und Merkels pathetische Rede an die Nation. Surreale Spots der Bundesregierung (»… bleib zuhause«) warben für eine Kriegsführung mit »faule[n] Säcke[n]«, die verdienstlos ordenbehängt »für besondere Leistungen im Kampf gegen Corona« aus ihrem selbstisolierten Dämmerschlaf erwachten, wie ein Veteran im Jahr 2080 erzählt — »plötzlich war ich ein Held«.
[Quelle: Pixabay.]
Zur Formel der »neuen Normalität«, in der die Menschheit sich mit Corona einrichten müßte, gesellte sich eine »neue Illegalität«, die niemand in freiheitlich verfaßten demokratischen Staaten für denkbar, geschweige denn für ausführbar und noch weniger für zustimmungsfähig gehalten hätte. Darin kam es zu einem Potpourri an Absurditäten, wenn »illegale« Geburtstagsfeiern von Ordnungshütern nach Anzeige von Nachbarn aufgelöst, Spaziergänger von Parkbänken vertrieben, rodelnde Kinder am Schlittenhügel amtlicherseits gejagt wurden, sterbende Familienangehörige nicht besucht werden durften, Feiern im Familienkreis für Ungeimpfte zum Spießrutenlauf ausarteten; kulminierend im Glaubenskrieg um die »Impfung« mit lange nicht mehr gehörten Invektiven gegen Ungeimpfte, die als Sündenböcke isoliert und kriminalisiert wurden, samt monatelangem Ausschluß aus dem öffentlichen Leben unter Beifallsgejohle von Journalisten und Ärzten. Wir erlebten — kurz gesagt — eine schier nicht enden wollende, real existierende, brutal ins Werk gesetzte Dystopie erster Ordnung, deren menschenverachtenden Exzesse psychologische Experimente wie die legendäre Milgram-Studie im weltweiten Feldversuch bestätigten.
Der Zugriff
Wie kann man das Verhalten von Intellektuellen in der Corona-Krise fair bewerten? An eigenen Erwartungen zu messen, verbietet sich. Vorbilder heranziehen hieße, vor dem Anlegen von Maßstäben Rollenmodelle festlegen — und damit den zweiten Schritt vor dem ersten tun. Utopien als Waage scheitern daran, daß ihre in der Zukunft angesiedelten Verheißungen imaginär konstruiert sind, um alles Irdische zu wiegen und für zu leicht zu befinden. Die einzig faire Meßlatte scheint die, den Selbstanspruch einer Person zu ermitteln — und ihr Verhalten daran zu messen.
Letztlich kann das Ergebnis der Sondierung einer komplexen Materie wohl nicht viel mehr sein als ein so gut wie möglich sortierter, begründeter und kommentierter Hypothesen-Steinbruch, aus dem der Autor selbst und die Leser, die das möchten, sich den ein oder anderen Werkblock zur Weiterverarbeitung herausgreifen können.
Bei den diskutierten Denkern handelt es sich durchwegs um Linksintellektuelle, deren einschlägige Expertisen (Diskursanalyse, Biopolitik, Überwachungsstaat, Konstruktivismus, Kommunikationstheorie, Medienmanipulation, Immunität, Ausnahmezustand) und deren gesellschaftspolitische Stoßrichtungen hätten vermuten lassen, daß sie gegen einen Maßnahmenstaat und seine unzumutbaren Zumutungen, wie sie eingangs nochmals ins Gedächtnis gerufen wurden, mobil machen würden (bzw. mit ihnen als Kronzeugen opponiert würde).
Beginnen sollte man mit den französischen Avantgardisten Michel Foucault (1926–1984) und Jacques Derrida (1930–2004), die beide die Corona-Pandemie nicht mehr erlebten. Deshalb konnten sie sich der Vereinnahmung durch ihre Epigonen zugunsten der intellektuellen Legitimierung eines manipulativ autoritären Pandemie-Regimes nicht mehr erwehren. An Foucaults Neu-Interpretation zeigt sich paradigmatisch, wie im Lockdown »mit dem gesellschaftlichen Leben […] auch so manche gesellschaftspolitischen Erkenntnisse auf Eis gelegt« und »renommierte Intellektuelle [in Foucaults Fall seine Interpreten, die vor Corona begeisterte Parteigänger seiner Studien über Disziplinarmacht und Ausgrenzungsregime waren] aus der systemkritischen Sphäre plötzlich zu den unbarmherzigsten Verteidigern der neuen Normalität« wurden. Warum es viele Philosophen »im Notstand« vorzogen, ihr »Geschwätz von gestern« zu ignorieren, wie es das Magazin Cicero formuliert hat — dieser betrübliche Umstand soll im Folgenden erkundet werden.
Michel Foucault
Überwachen und Strafen (1975). Oder: »Ordnung des Diskurses« im Maßnahmenstaat
[Michel Foucult. Quelle: Nemomain, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons.]
Am 2. Dezember 2020, mitten im vierwöchigen Wellenbrecher-Lockdown, der sieben Monate währen sollte, jährte sich ein Ereignis »rund«: An diesem Tag vor 50 Jahren hielt Michel Foucault, der »Säulenheilige von Postkolonialismus und Identitätspolitik« (FAZ) und Lieblingsdenker linksintellektueller Systemstürzer (deren Mehrheit längst Stützen des Coronastaates waren), seine Antrittsvorlesung am neugeschaffenen Lehrstuhl zur »Geschichte der Denksysteme« des Collège de France in Paris — Titel: »Die Ordnung des Diskurses«.1 Wie bittere Ironie muteten seine Analysen in der Gegenwart des Jahres 2020 an, weil sie sich gegen diejenigen wandten, die einst mit Suhrkamp-Bänden von Foucault und Habermas in der Manteltasche loszogen, der Menschheit einen hierarchiefreien Diskursraum zu erschaffen. Errichtet haben die Diskurs-Öffner ein Bollwerk der Unsagbarkeit, pervertiert ist in ihren Händen die Idee einer Demokratisierung aller Diskurse, betoniert haben sie ihr eigenes Deutungsmonopol — dem Meister müßte es posthum die Zornesröte in Gesicht treiben. Einige signifikante Merkpunkte aus der Vorlesung von 1970 mögen dies illustrieren:
»Und die Institution antwortet: ›Wir alle sind da, um dir zu zeigen, daß de[m] Diskurs ein Platz bereitet ist, der ihn ehrt, aber entwaffnet; und daß seine Macht, falls er welche hat, von uns und nur von uns stammt.‹« (Etwas, was bei der Heinrich-Böll-Stiftung »Simulative Demokratie« genannt wird.)
»Aber was ist denn so gefährlich an der Tatsache, daß die Leute sprechen und daß ihre Diskurse endlos weiterwuchern? Wo liegt die Gefahr?«
»Es gibt Prozeduren, welche die Kontrolle der Diskurse ermöglichen. […] Es geht darum, die Bedingungen ihres Einsatzes zu bestimmen, den sprechenden Individuen gewisse Regeln aufzuerlegen und so zu verhindern, daß jedermann Zugang zu den Diskursen hat: Verknappung der sprechenden Subjekte.« (Eine Prozedur, die die Twitter-Files anschaulich belegen.)
»Man denke daran, wie der medizinische Diskurs verbreitet wird und zirkuliert. [Ist] nicht auch das institutionelle System der Medizin [ein] System zur Unterwerfung des Diskurses?« (Was »die Wissenschaft« in Corona-Zeiten täglich vorgeführt hat.)
Muß näher dargestellt werden, wie exakt Foucaults Befund von der »Ordnung des Diskurses«, wie er nicht sein sollte, also hegemonial reglementiert und Abweichendes ausschließend, dem Diskursreglement im Corona-Staat entspricht? War nicht frappierend, wie sehr ausgerechnet jene foucaultianischen Hegemonialitätskritiker, die stets Sturm laufen gegen den Ausschluß bestimmter Gruppen — Foucaults Wahnsinnige2 hatten sie durch zeitgemäßere Opfergruppen ersetzt, für die sie Gerechtigkeit schaffen wollen mittels »Sichtbarmachung« und der Illusion einer »Partizipation« aller an allem —, wie jene Kritiker jeder Hegemonialität in der Pandemie eine hegemoniale und exklusive Diskurshoheit für sich beanspruchten und einem geradezu monströs antifoucaultianischem Überwachungs- und Bestrafungsapparat das Wort redeten, den dieser in Überwachen und Strafen (1975)3 ausgerechnet an historischen Beispielen von Seuchenbekämpfungsmaßnahmen dargestellt hatte?
Was der Historiker Philipp Sarasin 20054 als Foucaults Mahnruf herauskondensierte, will erst einmal widerlegt sein: »Die Disziplin, gar die vollständige‚ kann in der Moderne kein vernünftiges Ziel der liberalen Macht mehr sein. Dort, wo sie dies dennoch anstrebt, wo die Macht vom Pocken-Modell zum Pest-Modell zurückkehren möchte, wird sie totalitär.«
[Philipp Sarasin. Quelle: Amrei-Marie, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons.]
Von welchen »Modellen« ist hier die Rede? Foucault unterscheidet drei »Operationsmodi von Macht«: Das »Modell Lepra« ist geprägt von Separierungen, Ausschließungen, Stigmatisierungen: »Der Leprakranke wird verworfen, ausgeschlossen« — »die Verbannung« ist für Foucault das »Modell für die große Einsperrung«. Das »Modell Pocken« setzt auf Selbstinzuchtnahme, internalisierte Disziplin, individuelle Einpassung. Und das »Modell Pest« arbeitet mit Erfassung und lückenloser Kontrolle der Infizierten — »die gute Abrichtung«. Die Pest habe »das Modell der Disziplinierungen herbeigerufen«; die Seuche verlangte »nach einer in die Tiefe gehenden Organisation der Überwachungen und der Kontrollen, nach einer Intensivierung und Verzweigung der Macht.«
Philipp Sarasin, der in Überwachen und Strafen die Analyse eines Machtapparates sah, der den Körper als den Ort begriff, »an dem die Disziplinierung ansetzt, die letztlich auf die Seele zielt, dazu aber den Leib ihren Regeln unterwerfen muss, um die Automatismen des Gehorsams zu erzwingen«, fühlte sich gleich zu Beginn des Pandemie-Regimes, im April 2020, berufen, Foucault vor Vereinnahmung zu schützen: »Es ist klar: Foucault sprach nicht über reale Pandemien, sondern verwendete Infektionskrankheiten als Denkmodelle, um Formen der Macht nach idealtypischen Mustern zu ordnen.« Doch Foucault rekonstruierte sehr wohl minutiös aus den historischen Quellen sehr reale Pandemien, um aus deren realer Eindämmung Schlußfolgerungen über Disziplinarmacht allgemein abzuleiten — wie wir gesehen haben.
Sodann versucht Sarasin, die heutigen Seuchenregime weltweit Foucaults Modellen zuzuordnen. Rigoros dem Pest-Modell folge die »Absperrung von Wuhan«, »und jede Ausgangssperre letztlich auch«. Da er das Pest-Modell für »totalitär« hält, darf es in einer Demokratie, in der er selbst lebt, nicht vorkommen. Der Schweizer Historiker glaubt im Pocken-Modell mit seinen Aufforderungen zur Selbstdisziplin, das er für »liberal« hält, diejenige Pandemie-Politik wiederzufinden, welcher »die europäischen Regierungen folgen«, etwa in der »Strategie #flattenthecurve«. Was über Selbstdisziplin hinausgeht, staatliche Verbotserlasse etwa, muß Sarazin deshalb etwas bemüht uminterpretieren: »Versammlungen mehrerer Menschen verbieten, bedeutet keine Disziplinierung […], sondern ist mehr so etwas wie ein zwar enger, aber immerhin gut begründeter und nachvollziehbarer staatlicher Rahmen für individuelles Verhalten.« Überhaupt gehöre die Aufforderung, Regeln des »social distancing« einzuhalten, »zweifellos [!] in den Bereich der liberalen Regierungstechniken, die grundsätzlich auf der Freiheit der Individuen beruhen«. (Was für eine merkwürdige Vorstellung von Liberalität, die mindestens neoliberale Anklänge mit ihren »Selbsttechniken« hat.)
Sarasin behauptet zu Beginn der Corona-Krise, die Modelle würden »klar machen«: »Ausgangssperren erscheinen dann notwendig, wenn man jenes statistische Wissen nicht gewinnen kann, welches das liberale Pocken-Modell erst ermöglicht.« In Südkorea sieht der Historiker dieses »Versprechen« verwirklicht, weil dort »dank systematischer Tests massenhaft Daten über Nicht-Infizierte und Infizierte vorliegen« und deswegen punktuelle Isolierungen ohne Lockdown möglich wären. Warum es dann in Deutschland im Herbst 2020, als man statistisches Wissen besaß, einen zweiten massiven Lockdown gab, warum darin sogar Ausgangssperren verhängt wurden — darauf hätte man gerne eine Antwort Sarasins. Nach seiner Foucault-Interpretation jedenfalls müßte er zugeben, daß spätestens der zweite Lockdown im Pest-Modell operierte, das er für »eine Drohung«, ja für »totalitär« hält.
Wenn Regierungen Corona im Pest-Modus eindämmen, stimmt die Verhältnismäßigkeit nicht: Während die Pest heute eine Fallsterblichkeit — Rate der Todesfälle zu Infektionen — von 8–10 Prozent aufweist, die Beulenpest (unbehandelt) sogar 50–60 Prozent und die Lungenpest »fast immer tödlich« endet, liegt die Sterblichkeit bei Corona (Stand: März 2023) weltweit bei 1,03 Prozent, für Italien bei 0,74 Prozent und in Deutschland bei 0,44 Prozent.
[Die Pest in Marseille. Quelle: Michel Serre, Public domain, via Wikimedia Commons.]
Es habe, so Foucault, »einen politischen Traum von der Pest« gegeben: »das Eindringen des Reglements bis in die feinsten Details der Existenz vermittels einer perfekten Hierarchie, welche das Funktionieren der Macht bis in ihre letzten Verzweigungen sicherstellt. […] Der Pest als zugleich wirklicher und erträumter Unordnung steht als medizinische und politische Antwort die Disziplin gegenüber. Hinter den Disziplinarmaßnahmen steckt die Angst vor den ›Ansteckungen‹, […] vor den Leuten, die ungeordnet auftauchen und verschwinden […]. Die Pest habe »den Traum von einer disziplinierten Gesellschaft« wachgerufen, den Traum, »Macht über die Menschen auszuüben, ihre Beziehungen zu kontrollieren und ihre gefährlichen Vermischungen zu entflechten«: »Die verpestete Stadt, die von Hierarchie und Überwachung, von Blick und Schrift ganz durchdrungen ist, die Stadt, die im allgemeinen Funktionieren einer besonderen Macht über alle individuellen Körper erstarrt — diese Stadt ist die Utopie der vollkommen regierten Stadt/Gesellschaft. Die Pest (jedenfalls die zu erwartende) ist die Probe auf die ideale Ausübung der Disziplinierungsmacht.« (S. 254 f.)
Philipp Sarazin graut vor dem Pest-Regime, denn er kennt »seinen« Foucault: Das »rigorose Parzellieren des Raumes: Schließung der Stadt; Verbot des Verlassens unter Androhung des Todes […]. Der Raum erstarrt zu einem Netz von undurchlässigen Zellen. Jeder ist an seinen Platz gebunden. Wer sich rührt, riskiert sein Leben: Ansteckung oder Bestrafung. […] Dieser geschlossene, parzellierte, lückenlos überwachte Raum, innerhalb dessen die Individuen in feste Plätze eingespannt sind, die geringsten Bewegungen kontrolliert und sämtliche Ereignisse registriert werden, eine ununterbrochene Schreibarbeit das Zentrum mit der Peripherie verbindet, die Gewalt ohne Teilung in einer bruchlosen Hierarchie ausgeübt wird, jedes Individuum ständig erfaßt, geprüft und unter die Lebenden, die Kranken und die Toten aufgeteilt wird — dies ist das kompakte Modell einer Disziplinierungsanlage. […] Die Ordnung schreibt jedem seinen Platz, jedem seinen Körper, jedem seine Krankheit und seinen Tod, jedem sein Gut vor: kraft einer allgegenwärtigen und allwissenden Macht, die sich einheitlich bis zur letzten Bestimmung des Individuums verzweigt — bis zur Bestimmung dessen, was das Individuum charakterisiert, was ihm gehört, was ihm geschieht. Gegen die Pest, die Vermischung ist, bringt die Disziplin ihre Macht, die Analyse ist, zur Geltung.« (S. 251; S. 253 f.)
Philipp Sarasin sieht durchaus, wie brutal »in Marokko die Corona-bedingte Ausgangssperre mit Panzern durchgesetzt« wird oder die Gefahr, daß auch in der EU »die Speicherung und Auswertung von Bewegungsdaten aller, die ein Handy in der Tasche tragen, nach der Krise wohl nicht unbedingt so leicht wieder in den Bereich des bloß technisch Denkbaren zurückgestuft wird«. Sein »liberales« Pocken-Modell erfordere deshalb, »die Macht des Staates argwöhnisch im Auge zu behalten«. (Ist das nicht ein Widerspruch: Warum sollte man eine »liberale« Maßnahme »beargwöhnen«?)
Sowohl die diskursiven historischen Studien von Foucault über die Zusammenhänge von Seuchen und »Operationsmodi von Macht« als auch Derridas Deutung und Kritik des »Krieges gegen den Terror« (wozu wir kommen) eigneten sich nicht zur Rechtfertigung des Maßnahmen-Staates durch ihre Epigonen — Foucault und Derrida widersprachen geradezu (posthum sozusagen) den neuen Gelüsten linksdrehender Systemstürmer nach autoritären Regierungsformen zur Bekämpfung der »Pandemie«.
Das Problem wurde in zwei Schritten gelöst: Zu Beginn der Corona-Krise versuchten Foucaultianer mittels kreativer Interpretation seiner Texte sich selbst die Illusion aufrechtzuerhalten, man könne mit Foucault »die Maßnahmen« rechtfertigen. In dem Moment, wo selbst hartnäckigsten Mißinterpretationswilligen klar wurde, daß mit Foucault kein Corona-Staat zu machen war, also spätestens mit Beginn des zweiten Lockdowns im Herbst 2020, verfielen sie in eine Art Schweigestarre hinsichtlich ihres (einstigen?) Idols. Warum wohl zitierte jetzt niemand mehr diese Foucault’sche Erkenntnis aus dem Jahr 1970? »Ich setze voraus, daß in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird — und zwar durch gewisse Prozeduren, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen […].«
[Pestarzt. Quelle: Public domain, via Wikimedia Commons.]
Man hätte aber die medial organisierte und orchestrierte Meinungsgleichschaltung, von der Qualitätsmedien hartnäckig behauptet hatten, sie hätte nicht stattgefunden, mit ihren Fällen Rignier, SWR/ARD oder BILD, auch das manipulationsempfehlende Event 201, erklären müssen. Mit welchem Denker könnte man das besser tun als mit Diskursanakytiker Foucault? Warum rekurrierte keiner seiner Gefolgsleute auf seine jahrzehntelang bemühten »Prozeduren der Ausschließung«, als diese Ken Jebsen trafen, der wegen einer bald durch Regierungshandeln bestätigten »Verschwörungstheorie«, die er auf seinem Kanal Ken.FM veröffentlicht hatte — er befürchtete eine Impfpflicht durch die Hintertür –, im Sommer 2020 mundtot gemacht wurde? (Gleiches bei #AllesDichtmachen — die Liste Gecancelter ließe sich endlos fortführen.) Es stellte sich heraus: Die Regierung hatte, aller Dementi zum Trotz, die Absicht einen Impfzwang einzuführen — zuerst wie von Jebsen vermutet indirekt über Zugangsbeschränkungen für Ungeimpfte, dann rechtskräftig mit Strafandrohung bei Zuwiderhandlung. Jebsen hatte Recht behalten. Entschuldigt hat sich von seinen selbstgerechten Verleumdern bis heute keiner bei ihm. Rehabilitiert ist er erst recht nicht.
Foucault selbst — hätte er »Corona« erlebt — hätte zumindest hinter diese seine Einsicht nicht zurückgehen dürfen, als es galt, Kritiker der »Maßnahmen« zu beurteilen: »Niemand muss glauben, diese wirren Stimmen sängen schöner als die anderen und sagten die letztgültige Wahrheit. Es genügt, daß sie da sind und alles sie zum Schweigen zu bringen versucht, damit es sinnvoll ist, sie anzuhören und verstehen zu wollen, was sie sagen.«5
Lieber manipulierten sich Journalisten wie Dieter Schnaas mit Taschenspielertricks an der Wirklichkeit vorbei, die Foucault richtig erfaßt hatte, in dem sie Spielarten »moderner Corona-Politik« mehr erdichteten als beschrieben: China und Italien sah Schnaas dabei im »Modell Pest« operierend; Deutschland hingegen nicht, was nicht überzeugt, gab es dort von Beginn an »sorgfältige Erfassung, lückenlose Kontrolle, Disziplinierung, Bannung« — Dokumentationen solcher Szenarien sind Legion. Deutschlands Reaktion ordnet Schnaas — inkorrekt wie Sarasin — dem Pocken-Modell zu, basierend auf »postautoritäre[m] Risikomanagement«, das einer »in die Tiefe gehenden Organisation der Überwachungen« entsage, weil »liberale Demokratien« mit der Durchsetzung eines strikten Pestregimes und der totalen Disziplinierung der Bevölkerung ihre eigenen Grundlagen zerstören würden. Und exakt das haben Länder wie Deutschland getan — und gar nicht einmal so »postautoritär«.
Vielleicht liegt gerade in dieser Illusion — zu behaupten, der demokratische Staat würde sich nicht am Pest-Modell Foucaults orientieren und autoritär werden — der Grund verborgen, warum die Maßnahmen-Befürworter nur ganz zu Beginn, da aber massiv, auf Foucault rekurriert hatten, um sich sehr bald nicht mehr an seine Einsichten in die Zusammenhänge von Seuchen und »Operationsmodi von Macht« erinnern und auch von Maßnahmen-Kritikern nicht mehr mit den »fantastischen Büchern von Michel Foucault« (Schnaas) konfrontiert werden zu wollen. Die Wirklichkeit hat gezeigt, wie rigoros Demokratien das »Pestmodell« angewandt haben. Nun brauchte es andere Denker, die erklären konnten, warum das trotzdem demokratisch sei — einer von ihnen wird (in Teil III) Jürgen Habermas sein.
Foucaults »Modell Lepra« mit Separierung, Ausschließung, Stigmatisierung wurde — von keinem Foucualdianer richtig vorhergesehen — in der Corona-Krise schließlich doch noch angewandt; allerdings nicht dem historischen Beispiel folgend auf Infizierte, sondern auf Gesunde: im Ausschluß der Ungeimpften durch sogenannte 2G-Regeln (Deutschland) oder gleich in einem »Ungeimpften-Lockdown« (Österreich). Sarasins und Schnaas’ Argumentation vom Beginn der Krise, das Lepra-Modell würde in der Separierung »vulnerabler Risikogruppen« (was für eine Sprache, wenn man ältere und kranke Menschen meint) angewandt, etwa in Großbritannien, was beide kritisierten (Schnaas: »Alte lassen sich in der Moderne nicht wie Aussätzige im Mittelalter wegsperren und separieren. Oder etwa doch?«), bekam dadurch einen unbeabsichtigt ironische Wendung. Nachweislich gesunde Ungeimpfte ließen sich plötzlich wieder wie Aussätzige im Mittelalter wegsperren und separieren — unter Beifall und Häme vieler Medienschaffender (»Möge die ganze Republik mit dem Finger auf sie zeigen!«).
Jacques Derrida
Autoimmunisierung als Selbstmord (2003). Oder: Kriege gegen Terror und Viren
[Jacques Derrida. Quelle: Arturo Espinosa SeguirJacques Derrida for PIFAL Pencil on Fabriano., CC BY 2.0, via Wikimedia Commons.]
Bei Jacques Derrida haben die linksintellektuellen Zeugen Coronas eine zurichtende Verbiegung ihres konstruktivistischen Meisters offenbar gar nicht erst versucht. Jemand, der »autoimmunitäre Bewegungen« kritisiert, »die das Monströse selbst schaffen, erfinden und nähren, das niederzuwerfen sie vorgeben«, kann partout nicht Pressesprecher bei Zero-Covid werden. In diesem metaphorischen Fazit bewertete Derrida die Reaktion der USA und Teilen der »westlichen Welt« auf 9/11 als einen selbstzerstörerischen Schutzmechanismus der Demokratie in einem biologischen Bild: Er sieht im »autoimmunitären Prozeß« — konkret: im Krieg gegen den Terror — das »Verhalten des Lebendigen, das sich in fast selbstzerstörerischer Weise daran macht, ›sich selbst‹, seinen eigenen Schutz zu zerstören, sich gegen seine ›eigene‹ Immunität zu immunisieren«. (Man denke sich dieses Bild in die Realität der immunitätszerstörenden Hygiene-Maßnahmen durch Abstandregeln und Maskenpflichten sowie von immunitätsschädigenden Impfungen.)
Die Freiheit einschränken, um Freiheit zu bewahren — das Paradoxon im Kampf gegen den Terrorismus nach dem 11. September 2001 mit seinen Suspendierungen von Grundrechten zugunsten von Sicherheit — wertet Derrida als Akt der Selbstzerstörung. Uns Heutigen, die wir im Corona-Staat eine Neuauflage dieser Vorgänge im Krieg gegen das Virus erlebt haben, klingeln die Ohren angesichts präcoronarer Derrida-Lesungen in Philosophenkreisen — etwa Isabell Lorey 2011 zu Derridas Denkmodell: »Um sich gegen Bedrohungen zu schützen, bedrohen Demokratien sich selbst«.6 Daß die Professorin für »Queer Studies« an der Kunsthochschule Köln sich in den Corona-Jahren um die von der Übergriffigkeit eines sicherheitsfanatischen Staates bedrohte Demokratie gesorgt hätte, ist nicht erinnerlich — obwohl sie Derridas Autoimmunisierung »als Ausdruck einer gewaltvollen, unbedingten Souveränität, mit der Demokratien des Westens noch immer verwoben sind«, affirmativ aufgerufen hatte.
Giovanna Borradori umschrieb Derridas Position zum Antiterrorkrieg 2003 als »Selbstmord eines Abwehrmechanismus, der den Organismus eigentlich vor äußeren Angriffen schützen sollte«. Philosophie in Zeiten des Terrors — mit der Übersetzung eines Gesprächsbandes der Mailänder Philosophin mit Jürgen Habermas und Jacques Derrida reagierte seinerzeit die Wissenschaftliche Buchgesellschaft auf 9/11 und die Folgen.7 Auf Philosophie in Zeiten der Pandemie mußte man bis zum Herbst 2022 warten — dann erschien ein rechtsphilosophisches Werk zum Thema bei Suhrkamp, eingeleitet mit einem Essay von Jürgen Habermas (besprochen in Teil III dieser Reihe).
Nun hat Jacques Derrida Corona nicht erlebt, ebenso wenig wie Michel Foucault. Dessen Epigonen übernahmen das Mandat seiner Falschlesung und Mißinterpretation in Pandemie-Zeiten, von dem wir nur hoffen können, daß es der Autor nie erteilt hätte. Andere Denker hingegen, die sich als Kritiker von Machtstrukturen und Theoretiker einer Diskursethik einen Namen gemacht hatten, wurden zu Zeitgenossen Coronas. Viele von ihnen entschieden sich — in wie weit panikgetrieben oder opportunistisch, bleibt offen — für Abstand zu sich selbst, in dem sie durch Machtaffirmation zentrale Intentionen ihres bisherigen denkerischen Koordinatensystems preisgaben.
Daher wenden wir uns in Teil III zwei sehr betagten Denkern zu, deren Werk und Weltsicht eigentlich dafür gesprochen hätte, sie – vorsichtig ausgedrückt — nicht unbedingt auf Seiten des Maßnahmen-Staates und der Impflobby wiederzufinden.
Anmerkungen
-
Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am Collège de France — 2. Dezember 1970. Frankfurt am Main, Berlin, Wien: Ullstein, 1977. ↩
-
Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1973. ↩
-
Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1976. Im Folgenden zitiert aus der Ausgabe 1994. ↩
-
Philipp Sarasin: Ausdünstungen, Viren, Resistenzen. Die Spur der Infektion im Werk Michel Foucaults. In: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 16 (2005), Heft 3, S. 88–108, ↩
-
Michel Foucault: »Nutzlos, sich zu erheben«. In: ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, Band III: 1976-1979. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2003, S. 987–992, hier S. 991. ↩
-
Isabell Lorey: Figuren des Immunen. Elemente einer politischen Theorie. Zürich: Diaphanes, 2011. ↩
-
Jürgen Habermas, Jacques Derrida: Philosophie in Zeiten des Terrors. Zwei Gespräche, geführt, eingeleitet und kommentiert von Giovanna Borradori. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2004. ↩