Soziale Virologie III

Wer den Maßnahmen-Staat kritisierte, bevor die Pandemie begann — und sein Koordinatensystem im Ausnahmezustand verriet

Geschrieben von Jürgen Schmid am 7.4.2023

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Zwischen Selbstanspruch und Wirklichkeit — Intellektuelle in Zeiten der Pandemie. Des Versagens Drama zweiter Akt: Ein Diskursethiker verweigert den Diskurs und ein Kapitalismuskritiker ist blind gegen Bedrohungen außerhalb seines Sichtfeldes.


Jürgen Habermas

Philosophie in Zeiten des Terrors (2003) und des Virus (2021). Oder: Zweierlei Maß

Vielleicht sollte man so beginnen: Im Juni 2019, im Som­mer vor Corona, feierte Jürgen Habermas seinen 90. Geburtstag. Zu diesem Anlaß brachten die Medien eine Über­fülle von Würdi­gungen seines Denkens. Für die Neue Zürcher Zeitung destillierte der Haber­mas-Schüler und Bio­graph Stefan Müller-Doohm daraus des Jubilars gesell­schafts­politisch relevante Quint­essenz — nicht ahnend, auf welche Prüf­waage sie bald darauf gelegt werden sollte. Steigen wir also ein in die Haber­mas-Werk­interpretation eines autori­sierten Mit­glieds der Frank­furter Schule, die unter der Über­schrift »Das Prinzip Ver­ständigung« einen »Rück­blick auf die Denk­wege von Jürgen Haber­mas« bietet — und wohl als kanonisch gelten darf.

Drawing[Jürgen Habermas. Quelle: Európa Pont, CC BY 2.0, via Wikimedia Commons.]

Das Elementare in Habermas’ Zugriff auf die ›Struk­turen der Öffent­lich­keit‹, die wir Gesell­schaft nennen, liege — so Müller-Doohm — in der »schlich­ten Frage«: »Welche allge­meinen Be­din­gun­gen müs­sen er­füllt sein, wenn ›Jemand sich mit Jemandem über etwas in der Welt ver­ständigt‹?« Was aber, wenn diese Je­mande dabei zu unter­schied­lichen Schlüs­sen kommen? Mit Haber­mas ge­dacht kein Prob­lem, sagt sein Bio­graph — denn: »So­lange im Pro­zess des Mit­ein­an­der­redens Gründe und Gegen­gründe über fak­tisch Wahres und mora­lisch Ge­rechtes aufein­an­der­stossen, darf erwar­tet werden, daß sich am Ende der zwang­lose Zwang des besseren Argu­ments durch­setzt.« (Wir no­tieren uns erstens: Ver­ständigung, Mit­einander, Argu­ment.)

Auf der Basis dieser Sprach­theorie gründet nun Haber­mas’ Modell einer Dis­kurs­ethik, die — Müller-Doohm — eine Lösung für die Frage liefert: Wie ist Einigung ohne Zwang in strit­tigen Fra­gen möglich? Ant­wort: Über Dis­kurse. (No­tiert.) Diskur­sive Ver­fahren wiederum sind an trans­pa­rente Be­grün­dungs­pro­zes­se gebunden, weil es keinen Be­griff des Wah­ren und Rich­tigen vor der Prü­fung im Dis­kurs geben kann. Somit ist kom­muni­kative Ver­nunft nach Haber­mas etwas, das in dia­logi­schen Ver­fahren erst her­vor­gebracht werden muß. (Notiert: Dialog.) Ent­scheidend dabei: »Herr­schafts­frei ge­führte Dis­kurse, die alle Be­trof­fe­nen als gleich­be­rechtigte Teil­nehmen­de einbe­ziehen, sind grund­legende Vor­aus­setzung eines ratio­nalen Kon­senses, der die Aner­kennung aller ver­dient.« (Notiert: Herr­schafts­frei­heit, Gleich­berech­tigung, Kon­sens.)

Biograph Müller-Doohm betont Habermas’ »Idee einer streit­baren Demo­kratie aus dem Gei­ste der Kom­muni­kation«. (Notiert: Kom­mu­ni­ka­tion.) Politi­sche Entschei­dungen müssen durch »öffent­liche Pro­zesse ar­gu­men­tativen Ab­wägens« zu­stande kommen, an denen alle Bürger der Zivil­ge­sell­schaft teil­nahme­be­rechtigt sind. Ohne »vitale De­bat­ten« über Pro und Contra und ohne »in­klusive Be­teili­gung« ver­löre die Demo­kratie ihre Trieb­kraft. (No­tiert: Ab­wägen, Debatte.)

Zu welchen Einschätzungen der staat­li­chen Coro­na-Maß­nahmen hat nun »der Geist der Kom­muni­kation« seinen aka­de­mischen Ein­haucher in den Jahren 2020 ff. kon­kret geführt? Philo­so­phi­sche Theo­rie im Praxis­test — unter­nom­men von einem Phi­lo­sophen »auf dem Zenit seines Denkens« (Müller-Doohm).

Im September 2021 veröffentlichte der Theo­retiker des kom­muni­ka­tiven Han­delns seine Stellung­nahme »Coro­na und der Schutz des Lebens. Zur Grund­rechts­de­bat­te in der pan­demi­schen Aus­nahme­situa­tion«, ein Jahr später wieder­ab­ge­druckt im rechts­philo­sophischen Sam­mel­band Frei­heit oder Leben?1 In den Worten der Her­aus­geber »modi­fiziert« Habermas »darin seine These von der […] Gleich­gewichtig­keit von poli­ti­scher und priva­ter Auto­nomie der Bür­ger, von Volks­souverä­ni­tät und sub­jek­tiven Rechten, von Demo­kratie und Rechts­staat […]. In Aus­nahme­situa­tio­nen wie der Pan­demie, argu­men­tiert er nun, werde dieses kom­ple­men­täre Ver­hältnis ›gestört‹ und setze sich die Po­li­tik als Mit­tel der kol­lek­tiven Ziel­ver­wirk­lichung gegen das Recht als Me­dium der Ge­währ­leistung der sub­jek­tiven Frei­heiten durch.« (S. 11 f.) Was die beiden Ju­risten — Klaus Gün­ther ge­hört als ein­stiger Haber­mas-Mitar­beiter zur ›dritten Gene­ra­tion‹ der Frank­furter Schule — so haber­masesk ver­schwiemelt ver­schleiern: Der Philosoph stellt kur­zer­hand sein Ko­ordina­ten­system auf den Kopf. Was dabei herauskam, nannte die WELT prägnant »Habermas-Diktatur«.

Diktatur [Bild von Gerd Altmann auf Pixabay.]

Habermas, der die Pandemie-Politik als »Kriegführung von Species gegen Spe­cies« be­greift (näm­lich Virus gegen Mensch!), nimmt einige nicht weiter be­gründete Set­zungen vor — die Pan­demie sei »ein Natur­ge­schehen, das […] Leben und Ge­sund­heit von An­ge­hörigen der spe­cies ho­mo sa­piens […] be­droht«; der Staat werde dadurch zum Han­deln »genötigt«; eine »Her­den­im­munität« sei »letztlich nur durch Impfung er­reich­bar« –, um dann bis­herige Vor­stel­lungen von Grund­rechten ab­zu­räumen: Während diese stets als Ab­wehr­rechte des Bürgers gegen staat­liche Über­grif­fig­keit galten, soll nun deren erstes abso­lut gesetzt über alle anderen gestellt werden und zur Recht­fer­tigung staat­licher Zwangs­maß­nahmen unter Aus­schaltung aller anderen Grund­rechte dienen.

Wie das? »Man kann nicht die Würde einer Person schützen wollen und deren Physis ver­sehren las­sen. Die im ersten Satz des Grund­ge­setzes ge­währ­leistete Un­an­tast­bar­keit der Menschen­würde bliebe ein flatus vocis, wenn sich diese nicht in Personen aus Fleisch und Blut — als Trägern von Grund­rechten — ver­kör­per­te. Daher setzen die in den folgenden Ar­ti­keln 2 ff. im ein­zel­nen genannten Grund­rechte, die die Un­an­tast­barkeit der Würde der Per­son aus­buch­stabieren, die Schutz­würdig­keit des Lebens dieser Per­son voraus.« Um Artikel 1 Grund­gesetz zu ge­währ­leisten, darf, ja muß der Staat, durch ein Virus dazu »genötigt«, alle anderen Grund­rechte in einer Art Kriegs­recht stor­nieren. Nacktes physisches Über­leben ist das höchste, ja einzige Gut, dem alle anderen Rechts­güter weichen müs­sen. (In der nächsten Folge werden wir eru­ieren, wie dia­me­tral anders der Phi­lo­soph Gior­gio Agam­ben dies be­urteilt.)

Im Ergebnis seiner Über­le­gungen verkündet Haber­mas, die Frage sei gar nicht, wie sehr der Staat in die Grund­rechte seines Souveräns ein­greifen darf, sondern anders­herum, ob der »demo­kra­tische Rechts­staat« über­haupt »Politi­ken« ver­folgen dürfe, »mit denen er ver­meid­bare In­fektions- und Todes­zahlen in Kauf nimmt«. Seine Antwort: Der Staat müsse angesichts tod­bringen­der Gefahr inter­venieren und dabei Grund­rechte außer Kraft setzen. Nicht ein­ge­preist hat Haber­mas dabei die zynisch »Kol­la­teral­schäden« ge­nannten Aus­wirk­ungen der »Maß­nahmen«.

Verständigung, Mitein­ander, Argu­ment, Diskurs, Dialog, Herr­schafts­frei­heit, Gleich­berech­tigung, Kon­sens, Kom­muni­kation, De­batte — von allen Ha­ber­mas-Axiomen frei prä­sen­tiert sich das Haber­mas-Traktat »Corona und der Schutz des Lebens«. Einen »Diskurs« sucht man in diesem zen­tralen Text des Dis­kurs­ethikers ver­gebens. Nur ganz zu Be­ginn, wo der Autor den Stand der Dinge referiert, bevor er selbst Stel­lung bezieht, taucht der Wort­block »öf­fent­li­che Dis­kussion« auf. Für Haber­mas’ eigene Er­wä­gungen, die er an­stellt, nachdem er er­klärt hat, die bis­herige Dis­kus­sion sei zum »Kern« der »Kon­tro­ver­sen« noch »nicht wirk­lich vor­ge­drungen«, spielen Dis­kurs und Dis­kussion dann keine Rolle mehr. Aus dem »Dia­log«, der im Text ebenfalls fehlt, wird der Monolog. Das Schlüs­sel­wort des Haber­mas’schen Kos­mos, Kom­mu­ni­ka­tion, findet sich ein­mal als »kom­mu­ni­kative Rechen­schaft« – an­sonsten: Fron­tal­beleh­rung.

Einzig und allein das »Abwägen« hat seine Stellung im Haber­mas-Text. Es findet aber nicht »kom­mu­ni­kativ« statt, sondern wird vom Autor apo­dik­tisch vor­genommen, auf un­um­stöß­lichen, keinem Diskurs aus­gesetzten An­nahmen über die Ge­fähr­lich­keit des Virus. Es ist Haber­mas schon klar, daß »der Prima-facie-Vorrang eines Rechts, und sei es noch so hoch­rangig wie das auf Leben und Ge­sund­heit« — wie er ihn für den »Not­stand« im Krieg gegen Corona fordert — »die vor­behalt­lose Ab­wägung zwischen al­len grund­sätzlich gleich­mäßige Be­rück­sichtigung be­anspru­chen­den Grund­rechten [blockiert]«. Aber »für die Dauer einer solchen Kata­stro­phe« müsse das Aus­setzen dieser Ab­wägung eben als Raison d’être des Rechts­staates gelten.

Kurz gefaßt: Habermas’ Theo­rien vom kom­muni­kativen Mit­ein­ander sind papie­rene Schön­wet­ter­for­meln, die bei Stark­regen abge­löst werden von auto­ri­tären Dik­taten. Und wann Stark­regen herrscht, be­stimmt der, der die Diskurs­hoheit be­anspru­chen kann. Mit­ein­ander reden kann man lange und über alles, wenn es aber Ernst wird, er­teilt der Dis­kurs­ethi­ker dem Staat Hand­lungs­voll­macht aus eigener Denk­be­fug­nis.

Schweres Wetter [Bild von JL G auf Pixabay]

Zudem folgt aus der Haber­mas’schen Ver­keh­rung des Grund­rechts­ver­ständ­nis­ses eine Kon­se­quenz, die Uwe Volk­mann benennt: »Von hier aus werde, wie zuletzt durch den Kli­ma­be­schluß des Bundes­ver­fas­sungs­ge­richts für jeder­mann sicht­bar geworden sei, auch Frei­heit immer stärker zu einer be­wirt­schafte­ten oder kon­tin­gen­tier­ten Frei­heit: auf­ge­teilt gleich­sam in ein­zelne Frei­heits­päckchen, die dann vom Staat zwischen den ge­sell­schaft­lichen Grup­pen oder auch über die Zeit hinweg zu­ge­teilt werden.« Wie sehr diese Be­fürchtung zu­tref­fen dürfte, dar­auf verweist schon der er­wähnte Band Frei­heit oder Leben?: »Die Be­gren­zung der glo­ba­len Erd­erwärmung und der Kampf gegen ihre schon jetzt ab­seh­baren Fol­gen« seien das »nächste große An­wen­dungs­feld« — für eine Wägung und Adap­tion des Frei­heits­begriffs im Falle einer Be­drohung, hier dann eben durch den Klima­wandel.

Betrachtet man Habermas’ differenzierte Aussage zur Frei­heits­bedrohung durch den Terror und zur terror­bekämpfungs­beding­ten Ein­schränkung von Frei­heits­rechten in west­lichen Demo­kratien wie den USA nach 9/11, wird deutlich, wie sehr er später da­von abge­wichen ist. 2003 sah der Philosoph »das sy­ste­ma­tische Risiko der Über­reak­tion und Ent­legi­timierung, dem libera­le Demo­kratien in ihrem Kampf gegen den Terroris­mus aus­gesetzt sind« (Giovan­na Borra­dori). Dieses Risiko scheint er im Kampf gegen Corona nicht ge­sehen oder sogar ge­billigt zu haben.

Zurück zum vorcoronaren Haber­mas. Was diesen als Homo poli­ticus immer wieder antreibe, so die NZZ-Hommage seines Schülers Müller-Doohm, sei »die Angst vor deut­schen Kon­ti­nui­täten, vor einem Rück­fall hinter die kulturel­len Er­rungen­schaften einer demo­krati­schen Ver­fassung«. »Nerven­punkte« seien für ihn »bis heute [2019] Situa­tionen, in denen die in­stitutio­nel­len Vor­aus­setzungen der Demo­kratie gefährdet, ihr nor­ma­tiver Sinn ver­kannt und ihre recht­lichen Spiel­regeln miss­achtet werden.« Zu Beginn der Corona-Krise bezog sich Habermas’ Angst vor »ge­fähr­lichen post­demo­kra­tischen Zu­ständen« auf die »aggres­sive, uni­late­rale Poli­tik« Trumps (ob­wohl dieser US-Präsident keine Kriege ge­führt hat) oder die »Ideo­logie des Natio­na­lismus«, die er vor allem in »rechts­popu­listi­schen Re­gimen« Ost­europas ver­ortete.

Es muß diese Blind­heit vor anderen Ge­fah­ren als den selbst ima­gi­nierten ge­wesen sein, die einen Den­ker wie Haber­mas in Pan­demie-Zeiten auf Ab­wege geführt haben und un­sensibel sein ließen für die reale Per­ver­sion eines autoritären Gesund­heits­regimes, das allen Er­rungen­schaften einer demo­kratischen Ver­fassung Hohn sprach.

Noam Chomsky

Profit over People (1999). Oder: Feindbild und Blindheit

Ausgerechnet Chomsky. Der recht­schaffene Gelehrte von Welt­ruf, Be­gründer einer moder­nen Lin­gui­stik, poli­tischer Strei­ter für das Wahre und Gute, Schutz­patron der Ent­rechte­ten als Kämpfer gegen die kalte Welt des Ka­pi­talis­mus, des­sen Streit­schrift Profit over People (1999) vielen erst die Augen öffne­te für einen neuen Be­griff: Neo­libera­lis­mus — und für die Ver­heerungen, die in dessen Un­geist angerichtet werden.

Drawing[Noam Chomsky. Quelle: Σ, retouched by Wugapodes, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons.]

Dann der Schock: Im Herbst 2021, als das Wüten gegen Impf­ver­weigerer (»Blind­darm«) im polit-medialen Sün­den­bock­konstrukt »Pan­demie der Un­ge­impften« immer hem­mungs­loser wurde, als eine Ethik­rats­vor­sitzende den Druck auf diese große Min­der­heit »hoch­eska­lie­ren« wollte, obwohl zu diesem Zeit­punkt schon klar war, daß die Impfung ent­gegen aller Be­teuerun­gen keine ste­rile Im­mu­nität bieten kann, wurde Noam Chom­sky so zitiert: »Un­ge­impfte sollten den An­stand besitzen, sich von der Ge­sell­schaft zu iso­lieren. Wie sie an Essen kommen, sei deren Problem.« Für seine linke Fan­ge­meinde brach eine Welt zusammen — zu­mindest für die nicht wenigen Maß­nahmen­kritiker, die sich in der Corona-Zeit vom Partei­dogma abspalteten.

Mancher Titel aus Chomskys über­bor­dendem Œuvre poli­ti­scher Schriften klingt im Lichte seiner Corona-Aus­fälle fast wie Hohn: Profit over People: Neo­libe­ra­lis­mus und glo­bale Welt­ordnung (2000). Profit? Phar­ma­in­dustrie? Mister Chom­sky? Ist da noch wer? Das Ge­danken­spiel, daß der Chomsky während Corona den Chomsky vor Coro­na eigent­lich be­kämpfen müßte, ist furcht­er­regend.

An Noam Chomskys Entgleisung wird die Energie des Bösen sichtbar, die auf dem Boden einer auf­geheiz­ten Angst­welle ge­deihen konnte — einer Panik, die über­wiegend weit mehr mediales Kon­strukt war denn Real­angst. Chomskys Aus­setzer beweist, wie Dünn der Firnis der Zivi­li­sa­tion sein kann, kam aber nicht völlig über­raschend, verlief doch der Weg des Vor­zeige-Intel­lektu­ellen durch die Coro­na-Krise von Be­ginn an auf denkeri­schen Ab­wegen, weil er sich mit seiner Fixie­rung auf den Neo­li­be­ra­lis­mus als Feind die Sicht auf Be­drohungen an­derer Art selbst verstellte.

Am 27. April 2020, die »erste Welle« war bereits ab­ge­klungen, gab Noam Chomsky dem Por­tal Euractiv ein Interview per Video­kon­ferenz. Haupt­tenor: Das Co­rona­virus zeige das »kolos­sale Versagen der neo­liberalen Ver­sion des Kapitalismus«. Es funk­tioniert of­fenbar wie ein Reiz­wort-Trigger. Man fragt den Kapi­ta­lis­mus­kritiker nach ir­gend­einem Problem — und die Maschi­nerie star­tet. Da hat sich jemand starr und stur ein mono­kau­sales Er­klär­muster zu­gelegt, das er jeder Wirk­lich­keit überstülpt.

Chomsky nimmt die exi­stentiel­le Gefährlich­keit des Virus ohne Be­grün­dung als ge­geben an, um nicht etwa eine Über­reaktion von Regierun­gen zu be­klagen, son­dern eine Unter­reak­tion sowie einen Mangel an Vor­be­reitung, fehlende Impf­stof­fe etwa. Es liege am »neo­liberalen Ham­mer, daß die Re­gierungen nichts tun können.« Nach diesem Re­flex, der kryptisch bleibt, folgt eine Salve gegen die »Bande« der US-Regie­rung, in der »sozio­pathi­sche Narren« wie Trump »das Land in den Unter­gang treiben«.

Wie — so will die Inter­viewerin wissen — werde »die Krise uns als Gesell­schaft ver­än­dern«? Chomsky weiter enigma­tisch, aber den Trig­ger­knopf haltend: »Die Pan­demie könnte zu überaus autori­tären, re­pres­siven Staaten führen, die die neo­liberale Pest noch weiter aus­breiten.« Was folgt, klingt wie das Raunen eines Ver­schwörungs­theo­re­tikers: »Tat­säch­lich arbeiten sie im Mo­ment ja daran. Man sollte im­mer daran denken, daß die Kapita­listen­klasse nicht nach­gibt, daß sie im­mer kämpft.« Am Ende wird es vollends wirr: Die EU sei unfähig, auf Coro­na zu re­agieren, Deutsch­land mache aber seine Sache gut, weil es nicht so »neo­liberal« sei — und Kuba bewähre sich als größte humani­täre Hilfs­macht weltweit.

Er konnte wohl nicht anders: Schuld an allem sind Trump und das Kapital. Chomskys bestens kul­ti­vierter poli­tischer Beiß­re­flex blieb stärker als die Ver­nunft. Aber nicht der bekriegte Neo­libera­lismus hat Schuld an den Ver­heerungen der Corona-Krise. In ihr zeigte sich viel eher ein epo­cha­les Ver­sagen von Ver­ant­wortlich­keit der Intel­lektu­ellen — so Buch­titel und Selbst­anspruch Noam Chomskys aus dem Jahr 2008.

Unser Mann Moses [Bild von Jeff Jacobs auf Pixabay.]

Wäre die Corona-Krise mit ihrem ir­ratio­nalen, mani­pula­tiven und medien­befeuer­ten Panik­antrieb nicht die Stunde des Medien­kritikers Chomsky gewesen? Waren nicht Chomskys Claqueure in aller Welt berufen, mit Chomskys Schriften in der Hand die ein­seitige Medien­pro­pa­ganda der Corona-Jahre zu entlarven? Ein Blick auf des Meisters einschlägige Ver­öf­fent­lichungen im Ab­gleich mit der medialen Corona-Bericht­erstat­tung, die jedem vor Augen stehen dürfte, erteilt die Ant­wort: Konsens-Manufakturen (1988), Gedankenkontrolle (1989), Medien-Propaganda (2003).2

Welches Anwendungsfeld wäre die Corona-Berichterstattung für eine Theorie, die erklärt, wie Medien­kon­zerne ein Propaganda­system bilden, »das fähig sei, ohne zen­trale Steuerung einen Kon­sens im Inter­esse einer […] Ober­schicht her­zu­stellen und die öffent­liche Meinung über agenda set­ting und framing […] zu formen, während gleichzeitig der An­schein eines demo­kra­tischen Prozesses der Meinungs­bildung und der Kon­sens­findung ge­wahrt bleibe.« Nur: Man hätte dafür den Focus von Klagen gegen Kapital­kon­zentration in oligo­polen Ver­lags­häusern in Rich­tung Kritik der medialen Meinungs­formung im Sin­ne der Corona-Regime schwenken müs­sen. Das aber wollten weder Chomsky noch seine »links­liberale« Fan­ge­meinde, weil man in diesen Kreisen »die Maß­nahmen« begrüßte und unter­stützte.

Mitten hinein in die Corona-Panik platzte statt­dessen Noam Chomskys neuestes Buch: Rebel­lion oder Unter­gang. Ein Auf­ruf zu globalem Ungehorsam zur Ret­tung un­serer Zivili­sation (2021). War für den Autor in der Pan­demie Un­ge­horsam ein Zei­chen von Un­reife, er­klärt er ihn nun zur Pflicht. Selbst dem be­sonnensten Chro­nisten von Gleich­zeitig­keiten sich aus­schließender Forderun­gen droht dabei die Hut­schnur zu platzen ob der Un­reflektiert­heit des »Parade-Intel­lektuellen« (Deutsch­landfunk). Im­mer­hin blieb der Viel­schreiber sich im Panik­modus treu: »Wenn wir jetzt nichts gegen den Klima­wandel unter­nehmen, steht die Aus­löschung der Mensch­heit bevor«.

Im Interview mit dem Deutsch­land­funk of­fenbart der ältere Herr aus den USA ein er­schütterndes Maß an Selbst­übers­chätzung: Der Linguist maßt sich an zu wissen, »welche Mittel wir er­greifen müssen, um bis Mitte dieses Jahr­hunderts [das Ziel] von null Emis­sionen zu er­reichen«. Er will nichts weniger als »die Zivi­li­sation ändern« und »eine bessere Welt schaffen«. Ein Wissen­schaftler klingt zum Ende seines Lebens­werkes wie ein puber­tärer Jüng­ling, dem die Gäule durchgehen.

Im »Krieg gegen den Terror« mahnten Naom Chomsky (Power and Terror. US-Waffen, Menschenrechte und der internationale Terrorismus, 2004), mit Ab­strichen auch Jürgen Haber­mas, die Respek­tierung von Menschen­rechten an. Im Krieg gegen Corona glaubte Haber­mas dagegen, die Grund­rechte zugun­sten eines autori­ta­tiven Staates um­de­finieren zu müssen — Chomsky schmiß gleich alle Be­denken über Bord und wurde seinen Mit­men­schen zum Wolf. Andere blieben sich treu — zu ihnen gehört in Deutschland als eine der prominentesten die Juristin und Schrift­stellerin Juli Zeh, international der Philo­soph Giorgio Agamben. Ihre Po­si­tionen zur Corona-Pandemie werden den Schwer­punkt der nächsten Folge der »Sozia­len Viro­logie« bilden.


In Teil IV wird un­sere Erkundung der Denker­land­schaft in Zeiten der Pan­demie fortgesetzt — dann mit Intel­lektuel­len, die ihr denkeri­sches Ko­ordina­ten­system nicht ver­rieten und dem Corona-Auto­ri­ta­rismus die Stirn ge­boten haben.

Anmerkungen

  1. Erstveröffentlichung in: Blätter für deutsche und internationale Politik, erneut abgedruckt mit neuem Titel: Jürgen Habermas: Grundrechtsschutz in der pandemischen Ausnahmesituation. Zum Problem der gesetzlichen Verordnung staatsbürgerlicher Solidarleistungen. In: Klaus Günther, Uwe Volkmann (Hrsg.): Freiheit oder Leben? Das Abwägungsproblem der Zukunft. Berlin: Suhrkamp, 2022, S. 20–45. 

  2. Noam Chomsky: Manufacturing consent. The political economy of the mass media. New York: Pantheon Books, 1988 (with Edward S. Herman). — Ders.: Necessary illusions. Thought control in democratic societies. London: Pluto, 1989. — Ders.: Media control. The spectacular achievements of propaganda. New York: Seven Stories Press, 1997 (Media Control. Wie die Medien uns manipulieren. Frankfurt am Main: Nomen, 2018).