Soziale Virologie IV

Wer den Maßnahmen-Staat kritisierte, bevor die Pandemie begann — und seinen Überzeugungen gemäß zum Maßnahmenkritiker wurde

Geschrieben von Jürgen Schmid am 22.5.2023

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Folge III der »Sozialen Virologe« hat Denker vorgestellt, deren geistig-moralisches Koordinatensystem im Angstmodus der Corona-Pandemie versagt hat und die sich dem polit-medialen Mainstream-Narrativ angedient haben. Nun ist es an der Zeit, jene Intellektuellen zu würdigen, die einer gespenstischen »Gesundheitsdiktatur« denkerischen Widerstand entgegengesetzt haben.


Es sind rare Exemplare der Glaubwürdigkeit, die in Übereinstimmung mit sich selbst und ihrem Denken blieben und folgerichtig die Freiheitsbeschränkungen autoritärer Maßnahmenstaaten kritisiert haben: Giorgio Agamben von Beginn an vollumfänglich und kompromißlos, ab Herbst 2020 ebenso Byung-Chul Han; Juli Zeh etwas zurück­haltender, aber nicht unengagiert; Roberto Esposito schließlich durchaus kritisch, zuweilen allerdings merkwürdig unentschieden und enigmatisch mäandrierend.

Juli Zeh

Corpus Delicti (2009). Oder: »Über Menschen« im Hygiene-Staat

Die Juristin, Verfassungsrichterin und Schriftstellerin Juli Zeh gehört — ebenso wie etwa die Dramaturgin Thea Dorn und der Romancier Daniel Kehlmann mit seiner Klage über die fatale Abhängigkeit allen Lebens von einer sogenannten R-Zahl1 — zu dieser kleinen Gruppe, wenngleich sie keinen tätigen Widerstand übte, indem sie (beispielsweise) Demonstrationen organisiert hätte. Es gehörte aber auch schon allerhand Zivilcourage dazu, »die Maßnahmen« nicht kritiklos abnickend mitzu­exekutieren, sondern seine Stimme öffentlich hörbar zu erheben. Die »Instrumente« waren nach schnellen ersten Verfemungen von Maß­nahmenkritikern nach dem Motto »Bestrafe einen, erziehe Tausende« bekannt; das Risiko, außer Reputation auch die materielle Existenz­grundlage zu verlieren, enorm.

Drawing[Juli Zeh. Quelle: Sven Mandel, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons.]

Im April 2020 forderte Zeh im SPIEGEL zusammen (u.a.) mit dem Philosophen Julian Nida-Rümelin die Beendigung des sogenannten Lockdowns, weil dieser »die Grund­rechte für die gesamte Bevölkerung in manchen Bereichen fast auf null« setze. Zeit­gleich wies sie in einem Gastbeitrag im Focus darauf hin, Grundrechte seien »kein Luxus nur für gute Zeiten«, müß(t)en — wie bereits der Name sagt — grundsätzlich gelten. Diese Auffassung teilte sie mit dem ehemaligen Verfassungsgerichtspräsident Hans-Jürgen Papier2nicht beliebig in die Grundrechte eingreifen«) und dem Jour­nalist Heribert Prantl, ebenfalls Jurist, der sich in dieser Causa einmal gegen sein Gutmenschentum und das seiner superstaatsfrommen SZ-Redaktion entschied, wo die Wissenschaftsjournalistin 2021, Christina Berndt, sich nicht entblödete zu behaup­ten, Geimpfte fühlten sich so unverwundbar als hätten sie »in Drachenblut gebadet«.

Juli Zeh erweist sich alleine schon mit den Zwischentiteln in ihrem frühen Focus-Warnruf als überaus hellsichtige und vorausblickende Zeitdiagnostikerin: »Freiheit erscheint als gefährliche Ausschweifung«, »Kritiker werden als herzlose Idioten dargestellt«, »Sehnsucht nach Kontrolle kann übermächtig werden«, »Demokratische Diskursfähigkeit wird zerstört«, »So viel wie nötig, so wenig wie möglich«, »Es ist ein Irrtum anzunehmen, es gebe Sicherheit und Gesundheit nur um den Preis der Frei­heit«, »Pandemie, die Rechtsstaat befällt, wäre noch schlimmer«. Alles, was Zeh am 9. April 2020 anmahnte, damit es nicht geschehe, ist geschehen — zum Schaden aller.

Warum hat eine Autorin wie Juli Zeh den Anforderungen ihrer Zeit in der Corona-Krise standgehalten — und Noam Chomsky nicht? Beide galten vor Corona als Stimmen der Vernunft, die Menschen- und Freiheitsrechte stark machten, im Krieg gegen den Terror davor warnten, Sicherheit über alles zu setzen, auch über Freiheit. Chomsky hat diese Prämisse in der Corona-Panik aufgegeben, weil er sich in eine monokausale Welterklärung verrannt hat mit einem personalisierten Feind, den er für alles verantwortlich machte — den Kapitalisten. Zeh dagegen hat sich nicht auf einen Feind festgelegt, was blind macht für Bedrohungen von anderer Seite, sondern eine übergeordnete Kategorie gewählt: Sie streitet grundsätzlich gegen das Ansinnen, Freiheit für Sicherheit immer weiter in den Hintergrund zu verschieben, weshalb sie ohne blinden Fleck gegen jeden antreten kann, der bedroht, was ihr essentiell ist.

Folgerichtig gab Zeh im Sommer 2021 zu Protokoll, es gehe darum, »die Freiheit zu schützen, in Fragen des Umgangs mit der Pandemie in der Minderheit zu sein«; sie warnte vor einem »ständigem Verweis auf moralische Verpflichtung«; sie warb für die »richtige Abwägung von Freiheit und Sicherheit« — und sie sprach sich gegen eine Impfpflicht aus, da es für eine derart »massive Einschränkung der individuellen Freiheit« zu diesem Zeitpunkt keinen Grund gäbe.

Eine weniger kritische (oder gar zustimmende) Positionierung Zeh’s wäre auch kaum glaubhaft gewesen, ist sie doch — abgesehen von ihren Romanerfolgen, angefangen mit Adler und Engel (2001) — einem breiten Publikum bekannt geworden als Streite­rin gegen digitale Totalüberwachung. In ihrem mit Ilija Trojanow veröffentlichten Buch Angriff auf die Freiheit: Sicherheitswahn, Überwachungsstaat und der Abbau bürger­licher Rechte (2009) setzte sie Akzente, denen sie während der Pandemie die Treue hielt — für eine Wahrung der Privatsphäre, gegen übersteigertes Sicherheitsbedürfnis, damals im Anti-Terror-Kampf für nötig befunden, später im »Krieg« gegen ein Virus.

Überwachung [Bild von Joseph Mucira auf Pixabay.]

Maßnahmen-Kritikerin Zeh verteidigte die Grundrechte aber nicht nur auf Grund ihrer Expertise als Juristin, sondern aus einem ganz besonderen Anlaß: Ihr Roman mit dem sprechenden Titel Corpus Delicti, uraufgeführt als Theaterstück 2007, auf dem Buchmarkt seit 2009, eine Dystopie anno 2057, bis in die Corona-Pandemie 2020 ff. hinein Schullektüre (!) etwa in Bayern, liest sich mit dem Wissen um den coronaren Alltag wie eine Blaupause für den Irrsinn einer — zum Zeitpunkt des Erscheinens von sämtlichen professionellen Lesern für ausgeschlossen gehaltenen — Gesundheits­diktatur »einer Gesellschaft, in der die Sorge um den Körper alle geistigen Werte verdrängt hat« (Klappentext), in der ein System mit »der Methode«, Konstrukt eines Wesens, das realiter später »die Wissenschaft« heißen sollte, etwas in Szene setzen konnte, was 2020 ff. als »die Maßnahmen« Wirklichkeitsstatus erlangten, wo selbst das Rauchen einer Zigarette als Delikt geahndet wurde. (Die Zigarette war im Roman strafbewehrt, das Parkbanksitzverbot gehört ins richtige Leben.)

Mit dem Wissen von heute die Rezensionen von »damals« zu lesen, läßt erschauern. Wenn auf manche Literaturkritiker die Zeh’schen Figuren zu »papieren« wirkten (NZZ, SZ), dürften ihnen zwölf Jahre später die Augen herausgefallen sein im Angesicht ihrer lebenden Karikaturen. Wer bereits vom Roman-Entwurf — wie »aus dem Gesund­heitswahn heutiger Tage eine totalitäre Anti-Utopie« wird (NZZ) — überzeugt war, wie faszinierend muß für so jemanden die echte »gesundheitsdikta­torischen Welt« (SZ) gewesen sein? Und was ist »die Vision einer Welt, in der die Idee der Prävention gesiegt hat« (FAZ) gegen einen tatsächlichen Lauterbach-Staat?

Die TAZ tat den Text beleidigt als »eines jener Gedankenexperimente« ab, »wie Zeh sie eben gut schreibt«. Pfff — wer’s mag. Wem Zehs konstruierte »Konflikte« zu »reiß­brett­artig« (SZ) erschienen, ist sicher ab 2020 auf seine Kosten gekommen. Merk­würdig nur, daß vorweggenommenen Warnungen vor einer zwangsverharmlosten Vorsorge-Welt denen »nicht verkehrt« erscheinen, die nachmals vollzogene Zwangs­sorge vergotteten und warnende Echtstimmen kriminalisierten (SZ). Die Rutschbahn vom Vorsorge- zum Entmündigungsstaat macht der FAZ mehr Angst im Roman als in Wirklichkeit, und wenn Zeh davon in ihrem Roman erzählt, bescheinigt das Frank­furter Blatt ihr »Mut zur Kulturkritik«, die »überaus angemessen« sei; doch wehe, die Autorin kritisiert auf ihren Roman verweisend den Lockdown vom März 2020, dann fährt FAZ-Feuilleton­chef Patrick Bahners höchstselbst dazwischen wie eine Furie.

Eine total verkehrte Welt, wo zombieartiger »Journalismus« sich freut, wenn gezeigt wird, wie Unfreiheit selbst in freien Gesellschaften entstehen könne (solange dieses Zeigen in der Fiktion verbleibt), während dieselben »messerscharfen Argumenten« des Zeigens gegen ein »Abgleiten ins Brutale« als staatsgefährdend bekämpft werden, wenn es Ernst wird (so geschehen bei der Hamburger ZEIT). In denselben Zeitungen, denen »etatistische Entgleisungen« einer fiktionale Gesundheitsdiktatur Marke Zeh das Fürchten lehrte (ZEIT), wurde die verwirklichte Dystopie Marke Merkel als Ausweis verantwortungsvollen Regierungshandelns zum Wohl der Bürger abgefeiert, obwohl man sie wenige Jahre zuvor für eine »geschichtspessimistische Prophetie« hielt. Eine gespenstische Veranstaltung der Medien.

Menschenschutz [Bild von Helena Jankovičová Kováčová auf Pixabay.]

Absurd auch: Im Frühjahr 2020 hatte das Deutsche Theater Göttingen eine Adaption von Corpus Delicti vorbereitet und dann (Achtung!) »wegen der aktuellen COVID-19-Pandemie-Auflagen« nicht im Theater selbst aufgeführt, sondern »als in einer örtlichen Tiefgarage abzufahrenden Auto-Theater-Parcours«. Ein Theaterstück, das vor Ausbruch der Gesundheitsdiktatur fiktional vor einer Gesundheitsdiktatur warnte, wird in der realen Gesundheitsdiktatur unter den Bedingungen eben jener Gesund­heitsdiktatur inszeniert — und das alles ganz ohne Ironie! Irgendwann während der Pandemie spukte ein Bild durchs Netz, welches diese von den Zeugen Coronas gar nicht bemerkte kognitive Dissonanz bestens illustrierte: Mit Kaffeefilter vermummte Menschen stehen in vorschriftsmäßiger Schlange vor einem Kino, auf dessen Fassade der Film Matrix angekündigt wird…

Im zweiten Corona-Jahr legte Zeh ihren neuen Roman Über Menschen vor, der sogar die Bestjournalisten des Deutschlandfunk zufrieden stellte: Im Lockdown spielend, in einem Dorf irgendwo in Deutschland, eine »Gesellschaft im Virus-Fieber« schildernd (SRF) resümiert er, »wie gut das krisengestimmte Bewusstsein zur Pande­mie passt, ja, sie erwartet und gebraucht hat, um sich selbst anhand der allgemeinen Bedrohung in eine Position vernunftbestimmter Moral hochzustilisieren«. »Brillant be­obachtet« findet überraschenderweise die öffentlich-rechtliche Zero-Covid-Redaktion, wie »Dora«, ein Alter Ego der Autorin, welche selbst kurz vor Corona aufs Land gezogen war, was sie als »befreiend« empfand, »zwar durchaus Verständnis für alle Lockdown-Maßnahmen« hat, was auf ihre Schöpferin nicht durchweg zutraf, »die Social Correctness aber nicht zum höheren Sinn ihres Daseins erheben« möchte: »Die Flucht aufs Land und weg von diesem selbsternannten Besser-Menschen ist also der richtige Schritt«, resümiert der Deutschlandfunk, wiederum ironiefrei sein eigenes Programm karikierend.

Allerdings glaubte Juli Zeh — oder meinte, das so vortragen zu müssen (?) — selbst Mitte 2021, als die Varianten immer ungefährlicher wurden und bald den Zustand Omikron erreichten, immer noch an eine »fundamentale Bedrohung« durch die Corona-Pandemie. Zudem flicht sie gerne Abgrenzungsbeschwörun­gen und diverse Seitenhiebe gegen rechts in ihre Interviews und Texte ein. Vielleicht können diese Konzessionen ans — frei nach Orwell — Richtigdenken erklären, warum Zeh trotz ihrer durchaus glaubhaften Dissidenz in Corona-Fragen von den Qualitätsmedien (noch) nicht gänzlich verstoßen (wenngleich teils heftig kritisiert) wurde.

Giorgio Agamben

Ausnahmezustand (2003).3 Oder: Die Souveränität der Macht und das nackte Leben

Er hat es gleich zu Beginn der Corona-Krise geschafft, exkommuniziert zu werden. Giorgio Agamben, einstiger Liebling der »Progressiven«, im Stamm der Ethnologen sprichwörtlich geworden mit seinem Namen in Verbform: Statt dahin zu gehen, »wo es brodelt; da, wo es manchmal riecht, gelegentlich auch stinkt«, dorthin, wo der Platz der Ethnologie wäre, so resümiert der Bochumer Ethnologe Dieter Haller, »gefällt man sich darin, ohne ethnologische Basis zu Bhabheln, zu Agamben und zu Butlern, das ist ja auch viel angenehmer als sich an den Herd mit einer Familie zu setzen und mit ihnen über ein Jahr lang Kohlsuppe zu löffeln«, also Feldforschung zu betreiben.

Drawing[Giorgio Agamben. Quelle: Et sic in infinitum, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons.]

Solange Linksintellektuelle mit Agambens Theoremen hantieren konnten, etwa im Sinne ihrer »humanitären« Flüchtlingspolitik, galt der Philosoph als gern und oft angerufener Kronzeuge, dessen Beschreibungen der Welt als Leitfaden dienten, das Bestehende zu kritisieren und eine bessere Welt zu erträumen. Nichts illustriert den Kultstatus Agambens im linken Lager anschaulicher als eine »Literaturkritik« über seine Thesen zur »Normalisierung des Ausnahmefalls«, aus der wir zitieren wollen:

»In den Betrachtungen eines Unpolitischen, die Thomas Mann an der Heimatfront des ersten Weltkriegs anstellt, fällt der Begriff des ›nackten Lebens‹ des Menschen, der sonst ›garnichts ist‹. Dieses ›politische Tier‹, das nach Belieben ›dressiert‹ werde, könne für das ›größte Glück der größten Zahl‹ beliebig traktiert werden. […] Damit sind wir bei Giorgio Agambens Buch Homo Sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben [1995, deutsch 2002] angekommen, dessen zentrale These lautet, die Moderne produziere unaufhörlich jenes ›nackte Leben‹, das ausgeschlossen oder vernichtet werde. Es handele sich um die ›fundamentale biopolitische Spaltung des Abendlandes‹ in das ›Volk als Repräsentant schlechthin des integralen politischen Körpers‹ und die ausgeschlossenen Anderen.«

Souveränität der Macht: Wären die Corona-Lockdownisten und ihre Einflüsterer rechtsintellektuelle Denker gewesen, hätten sie jenes berühmt-berüchtigte Diktum Carl Schmitts zur Legitimierung ihres Handels bemüht: »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand verfügt«. Dies wäre auch ehrlicher gewesen, weil der Staatsrechtler Schmitt damit Macht legitimieren wollte, während Agambens Begriff »Souveränität der Macht« aus einer Haltung der Kritik am Autoritativen resultiert. Daß das linksintellektuelle Milieu auf eine philosophisch herleitende Begründung für ihre autoritären Forderungen verzichtete (Schmitt als eigentlich geborener Kronzeuge verbot sich aus Gründen) und statt konstruktiver Analyse-Ethik nicht viel mehr zur Krise beizutragen hatte als das Schlechtreden von kritischen Köpfen, zeigt seinen erbarmungswürdigen geistig-intellektuellen Zustand.

Agamben löst die Lagermetapher aus ihrer höchsten Pervertierung, dem Konzen­trationslager im NS-Staat (und hätte den stalinistischen Gulag ergänzen müssen), weil er feststellt, daß der moderne Souverän, an historischen Beispielen geschult, dazu übergegangen ist, den »Ausnahmezustand — die Möglichkeit der Entscheidung, auf die sich souveräne Macht gründet — normal [zu] realisier[en]«. In der Zusammen­fassung oben zitierter »Literaturkritik«: »Der Souverän löst die Ausnahme von jedem Bezug auf eine außerordentliche Situation — etwa der Gefahr, der Unruhe, des Bürgerkrieges — heraus, um jederzeit jedermann ›auf das nackte Leben reduzieren‹ zu können. Schmitts Ausnahme wird zur Regel, entsprechend ist das ›Zentrum des Staates‹ nun permanent sichtbar: das KZ. Souverän ist, wer über die Einweisung ins Lager entscheidet.« In Agambens eigenen Worten: »Das Lager, nicht der Staat ist das biopolitische Paradigma des Abendlandes.« Für ihn hat sich die ganze Welt (vor Corona bereits, wohlgemerkt) verwandelt in ein potentielles »Lager«, in einen Raum, in dem eine »souveräne Macht« ihren »originären« Willen umsetzt: »nacktes Leben zu produzieren, das ausgeschlossen und eingeschlossen werden kann«.

Drawing[Wachtturm in Majdanek. Quelle: Vincent de Groot — http://www.videgro.net, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons.]

Was war 1995, als Homo Sacer erschien, ein Lager im Sinne Agambens? »Ein Lager ist sowohl das Stadion von Bari, in dem 1991 die italienische Polizei vorüber­gehend die illegalen Einwohner aus Albanien zusammentrieb […], als auch die zones d’attente in den internationalen Flughäfen Frankreichs, wo die Ausländer, welche die Anerkennung des Flüchtlingsstatus verlangen, zurückgehalten werden.« Und noch ein Schritt weiter: Das »demokratisch-kapitalistische Projekt« verwandle »alle Bevölkerungen der Dritten Welt in nacktes Leben«.

Solange mit Agamben linke Flüchtlingspolitik gerechtfertigt werden konnte und das Elend in Flüchtlingslagern instrumentalisiert, solange die »No Nation No Border«-Fraktion Agamben für sich nutzen konnte, solange galt der Denker als salonfähig in »progressiven« Kreisen. Aber mit Agambens Denkfiguren gegen Quarantänelager für Aborigines vorzugehen, errichtet von der australischen No-Covid-Gesundheitsdiktatur – das galt als so anrüchig, daß es nicht nur nicht gemacht wurde, sondern Agamben selbst und diejenigen, die es taten, als politische Wirrköpfe und wissenschaftliche Irrläufer abgekanzelt wurden.

Es hat schon etwas Gespenstisches, daß Agambens Thesen vor Corona, als man sie durchaus als zu pauschal und übertrieben hätte bewerten können, von Linksintellektuellen als komplett realistisch übernommen wurden für ihre ideologische Agenda, während sie — für jeden ersichtlich — während der Corona-Krise sich als absolut stichhaltige Beschreibungen der Realität erwiesen haben, um nunmehr von den linken Agamben-Epigonen als total absurd verworfen zu werden.

Vom Mainstream ausgestoßen unter Verlust sämtlicher »Produktionsmittel« (Brecht), schlug er bei den sogenannten alternativen Medien auf, die in der Corona-Krise des Vertrauensverlustes in die Etablierten wegen massenhaften Zulauf zu verzeichnen hatten, was ihm seine (neuen) Gegner, die Verbündeten von einst, sofort vorwarfen: »Seht her, wo der jetzt publiziert!« In Deutschland hat der Blog Rubikon das Verdienst, die Interventionen von Giorgio Agamben zur Corona-Krise ins Deutsche übersetzt und publik gemacht zu haben.

Agambens erste Intervention, die seine Thesen konsequent auf die Maßnahmen-Politik im Kampf gegen Corona anwandte, erschien am 26. Februar 2020 unter dem Titel »L’invenzione di un’epidemia«: »Es scheint, dass die Erfindung einer Epidemie, nachdem der Terrorismus als Ursache für außergewöhnliche Maßnahmen erschöpft ist, den idealen Vorwand bieten kann, diese Maßnahmen über alle Grenzen hinweg auszudehnen.« (Und wir sehen, dass die Ausdehnung gerade mit dem Argument »Klimaschutz« geschieht und die Einschränkung von Freiheitsrechten vom Krieg gegen den Terror über den Krieg gegen das Virus nun beim Kampf gegen den Klimawandel angekommen ist.)

Wie Georg Simmerl in der Süddeutschen Zeitung vom 27. Juli 2021 auf die Idee kommen konnte, Agambens »Einlassungen« von Ende Februar 2020, die über­triebene Angst vor Corona sei eine »Erfindung«, welche — in den Worten Simmerls — »dem Regieren im Ausnahmezustand ein ungekanntes Ausgreifen erlaube«, hätten die »philosophische Großtheorie« der »Biopolitik« »nachhaltig diskreditiert«, entzieht sich — in der Retrospektive zumal — klarem Menschenverstand. Denn Agamben hat — hellsichtiger als andere — nichts weiter beschrieben als einen Ist-Zustand.

Inmitten der polit-medialen Erzählung von der Erlöserwirkung der Impfung, am 16. April 2021, erschien diese Stellungnahme unter dem Titel »Il nuda vita e il vaccino« auf dem Blog Quodlibet: »Die ganze Identität dieses Lebens, das zwischen der Krankheit und der Gesundheit fluktuiert, besteht darin, Empfänger des Teststäbchens oder der Impfung zu sein, die, wie die Taufe einer neuen Religion, die ruinierte Gestalt dessen definieren, was es einmal hieß, Bürger zu sein.«

Virusüberfall [Quelle: Pixabay.]

Der »Krieg« (Macron) gegen ein unsichtbares Virus ist, mit Agamben gedacht, ein »Bürgerkrieg«, weil man nicht das Virus selbst bekämpfen kann, sondern sich vorstellen muß, daß das Virus als nach außen wirkender Feind im Körper von Menschen sitzt, die damit zu »Virenträgern« degradiert werden. Somit wird jeder (!) Mensch zum Feind in diesem Krieg, der deshalb ein Bürgerkrieg ist, und zwar ein spezifischer, der als Mehrfrontenkrieg geführt werden muß, als ein Krieg mit unend­lich vielen Fronten. In Deutschland alleine werden jedem Einwohner des Landes alle anderen 84 Millionen Bürger schlagartig zu Feinden, es eröffnen sich ebenso viele Frontverläufe. Einzige Lösung: Die Einzelisolation, wie sie von der Bundesregierung im Herbst 2020 in mehreren Werbespots tatsächlich propagiert wurde.

Mit seiner Interpretation »der Maßnahmen« hat der italienische Philosoph nicht nur sein denkerisches Werk an der Realität weitergedacht, er hat am empirischen Befund eine Art Formel der Sozialpsychologie zur Errichtung einer Diktatur unter Bedingungen der postmodernen Massen- und Medienkultur formuliert. Hatte nicht der ehemalige Verfassungsgerichtspräsident Hans-Jürgen Papier gesagt, wenn er eine Diktatur errichten wollte, könnte ihm nichts Besseres passieren als Corona?

Giorgio Agamben machte im Vergleich zu maßnahmenbefürwortenden Philosophen wie Jürgen Habermas, aber auch im Unterschied zu seinen worttriefenden Kritikern, keine langen, komplizierten, verschachtelten und selbstverliebten Worte, sondern brachte, was er zu sagen hatte, konzis und verständlich auf den Punkt. Bei Akade­mikern, die an Agamben herumnörgeln wollten, galt dies wohl schon als veritabler Verstoß gegen den Comment intellectuel, der gebietet, so unverständlich und abge­hoben wie möglich zu formulieren, nur um alle Kollegen für nicht satisfaktionsfähig halten zu können, die solches Geschwurbel nicht produzieren können bzw. — weit häufiger — nicht produzieren wollen und um alle Leser mit Verachtung strafen zu können, die den elenden Sermon nicht verstehen.

Selbes gilt auch für die großen wissenschaftlichen Werke von Giorgio Agamben: Klarheit der Sprache ist eben eine Voraussetzung für die Klarheit des Denkens — und logisches, strukturiertes Denken in Einklang mit der Wirklichkeit erschafft eindeutige schriftliche Darstellungen. Und auf Seiten der enigmatischen Unklarschreiber dürfte der gleiche Befund gelten — nur spiegelverkehrt: Verschwurbelte Sprache bringt ab­surde Denkprozesse hervor, unlogische und wirklichkeitsfremde Realitätserfassung gebiert monströse Textungeheuer, ja erfordert sie zuweilen sogar, wenn eine unlieb­same Wirklich­keit solange durch linksdrehende Windungen von Wissenschaftler­gehirnen gequetscht werden muss, bis sie irgendwie zu einer Passung an die wirklichkeitsentgegengesetzte Ideologie aufmanipuliert werden kann.

Es gibt ihn noch, den Triumph des Geistes in unserer geistlos gewordenen Zeit. Giorgio Agamben hat (erstens) frühzeitig, als erster (einziger?) in dieser Klarheit und Deutlichkeit, seinen eigenen Thesen folgend und vertrauend, die Lage so durch­schaut, wie sie sich in situ schon auf Anschauung gestützt darbot, was später durch empirische Fakten vielfach belegt wurde, (zweitens) die wahre Lage ungeschönt und nicht übertrieben in den perfekten Metaphern verbildlicht und verdeutlicht — die Reduzierung menschlichen Daseins auf das »nackte Leben« im »Ausnahmezustand«, der ein »Bürgerkrieg« jeder gegen jeden war —, worauf sich (leider) die Wirklichkeit (drittens) im Fortgang der Corona-Krise so verhalten hat, wie Agamben — aus Indizien abgeleitet — von Anfang an prognostiziert hatte. (Viertens) hat »Bergamo« nicht, wie Agambens Kritiker triumphierend behaupteten, dessen frühe Einschätzung von der »Erfindung einer Epidemie« widerlegt, sondern im Gegenteil hat die zu Tage gekommene Wahrheit über »Bergamo« seine Kritiker widerlegt und den Kritisierten vollumfänglich bestätigt. Was wurde nicht alles erfunden, gefälscht, manipuliert, um die Gefährlichkeit des Virus zu dramatisieren?

Das nackte Leben [Quelle: Pixabay.]

Wer beobachtet hat, mit welchem Haß die linksintellektuelle Maßnahmenbefürworter­szene während der Pandemie-Jahre, die Jahre ohne Pandemie waren, Agamben verfolgt hat, reibt sich verwundert die Augen, wie wenig davon am Prangerportal Nummer Eins dieser Szene, auf Wikipedia, übrig blieb. Und das Wenige, was die linkslastige Wikipedia-Community gegen Agamben vorzubringen hat, zeugt davon, daß der Kritisierte in allem Recht hatte: Damit, daß er vor »hektischen, irrationalen und völlig grundlosen Notfallmaßnahmen« warnte; daß er die Idee der Ansteckung »eine der unmenschlichsten Folgen« der herrschenden Corona-Hysterie nannte (die Traumatisierungen von Kindern lassen sich inzwischen nicht mehr verleugnen); daß er erkannte, wie die Corona-Auflagen »faktisch jedes Individuum in einen potenziellen Überträger [verwandelten], so wie einst die Terrorgesetze faktisch und rechtlich jeden Bürger zum potenziellen Terroristen machten«. Alle, die während der sogenannten Corona-Krise nicht unter einem Stein geschlafen haben, konnten exakt diese Mecha­nismen und ihre verheerenden Wirkungen jeden Tag beobachten. Alle hämische und ehrabschneidende Kritik an Agamben wendet sich somit gegen die Kritiker.

Am 17. Januar 2022, zu einem Zeitpunkt also, als die Booster-Kampagne sich in Israel, dem Vorreiter bei der Corona-Impfung, als nutzlos und schädlich erwiesen hatte, glaubte Karen Krüger in der FAZ Agambens treffende Bemerkung, der »Impfstoff werde zu einer Art politisch-religiösem Symbol«, skandalisieren zu müssen.

Es tönt mehr als absurd, wenn Bernhard Pörksen Denkern wie Agamben unterstellt, »Lügen« und »Bullshit« zu verbreiten, die »Wahrheit« für sich reklamiert und behauptet: »Die Realität schlägt zurück.« In der Tat hat sie das getan — und Wissenschaftler wie Pörksen blamiert.

Die Linksliberalen, wie sie sich selbst euphemistisch nennen, sind am Ende. Sie können die Welt nicht mehr beschreiben, weil sie sich das selbst verboten haben. Und sie müssen Beschreibungen der Welt, wie sie ist, diskreditieren, selbst um den Preis, ihre eigenen Beschreibungen aus der Vergangenheit zu negieren. Es ist ein mitleiderregendes Schauspiel der Selbstzerstörung.

Der Solitär Giorgio Agamben steht wie ein Fels inmitten des Niedergangs der Linksintellektualität, deren Offenbarungseid in ihrer hilflosen Affirmation des Corona-Regimes endgültig sichtbar wurde, als eine nahezu singuläre Ausnahme. Agamben und seine Haltung in der Corona-Krise — es ist die Krönung eines großen Lebens­werks. Der 26. Februar 2020, als L’invenzione di un’epidemia veröffentlicht wird, darf als historischer Tag wahrhaft philosophischer Erkenntnis gelten. Sein Verfasser erweist sich damit als einer der bedeutendsten Denker seiner Zeit. Seine Kritiker hingegen kann man nicht mehr Ernst nehmen.

Roberto Esposito

Immunitas (2002). Oder: Schutz und Negation des Lebens

Merkwürdig unentschieden, beinahe absichtlich kryptisch verschlungen schien Roberto Espositos Denkweg durch die Pandemie zu mäandrieren. Im Streit um Agambens frühe und eindeutige Positionierung wollte er anfangs mäßigend wirken.

Drawing[Roberto Esposito. Quelle: Wikinade, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons.]

Als jener Denker, der »Immunitas« als Grundprinzip zwischen Einschluß und Ausschluß definiert hatte,4 schrieb Esposito am 16. Mai 2020 in der Neuen Zürcher Zeitung zunächst etwas unscharf, die wichtigste Aufgabe in Zeiten des Coronavirus sei es, »das Leben institutionell ein[zu]richten«. (Taten das nicht Maßnahmenbefür­worter und Kritiker, jeder auf seine Weise?) Konkreter wird der Neapolitaner, wenn er statuiert, das menschliche Leben lasse sich »nicht auf das blosse Überleben reduzieren«, womit er — ohne den Kollegen zu nennen — wie Agamben klingt, dem er offensichtlich zur Seite springen wollte.

Im Gegensatz zu Agamben neigte Esposito aber zur Dramatisierung der Situation: »Uns am Leben zu halten, ist unsere erste Aufgabe im tödlichen Kampf gegen dieses Virus« — um sogleich wieder in Agambens Abwehrreflexe gegen überzogene Maßnahmen zu fallen, denn man dürfe keinesfalls auf »das Leben mit den anderen, für die anderen und durch die anderen verzichten.« Denn »die Notwendigkeit, weiterhin als Gemeinschaft zu leben, ist so gross wie zuvor.« Aber welche Schlüsse sind aus dieser Einsicht, welche die Zero-Covid-Fraktion vor den Kopf stößt, zu ziehen? Solche, die das Gegenteil der ersten Feststellung aussagen und sofort die Alarmisten wieder beruhigen wollen: »Die Entfernung bedeutet nicht das Ende der Menschlichkeit, sondern stellt eine zutiefst menschliche Dimension dar, genauso wie die Nähe, aus der die Distanz ihren Sinn schöpft. […] Zur Zeit der Pandemie sind die Menschen durch die allen gemeinsame Distanz vereint.« Man könnte diesen »Stand­punkt« auch standpunktlos nennen; korrekt müßte er wohl als Unsinn bezeichnet werden. Denn einsam gemeinsam — was soll das sein?

Sehr scharfsichtig sodann Espositos Beobachtung einer »Medikalisierung der Politik«, welche »die eigene schützende Rolle angesichts realer oder imaginierter Gefahren hervorhebt und dabei Ängste verfolgt, die sie selbst erzeugt«. Als »vielleicht [warum die Einschränkung?] beunruhigendste[s] Symptom der Verflechtung von Politik und biologischem Leben« benennt Esposito die »Verschiebung von den regulären demo­kratischen Verfahren zur Notstandsgesetzgebung«: »Die Tendenz hin zum Ausnahme­zustand ist umso beunruhigender, als sich dadurch die politische Praxis demokrati­scher Staaten derjenigen autoritärer Regime wie China zunehmend angleicht.« Agamben hätte es nicht anders formulieren können, hat aber hinsichtlich gesell­schaftszerstörender Maßnahmen diametral andere Schlüsse gezogen als Esposito — Schlüsse, die nicht mit zuvor vorgenommenen Annahmen in Kollision gerieten.

Warum Roberto Esposito sich in Zeiten von Corona entschieden hat, zwei einander ausschließende Positionen zu beziehen — zum Teil in ein und demselben Text —, jene des Apologeten von Maßnahmen und diejenige des Kritikers, der sich in die Nähe von Agamben rückt, darüber läßt sich nur spekulieren. Wollte da jemand um jeden Preis auf der Seite derer stehen, die am Ende, wenn alle Fakten gewogen werden, auf der richtigen Seite gestanden zu sein für sich reklamieren können?


Folge V setzt den Reigen an Intellektuellen fort, die den Anforderungen der Corona-Krise denkerisch standhielten – mit dem koreanisch-deutschen Philosophen Byung-Chul Han, der Agambens Lagermetapher weiterdachte: »In der Quarantäne erstarrt das Leben zum Überleben. Je mehr das Leben ein Überleben ist, desto mehr Angst hat man vor dem Tod.«

Anmerkungen

  1. »Diese grauen Hüter über die Zahlen sind Beamte [beim RKI], sie müssen die Folgen einer stillgelegten Gesellschaft nicht fürchten. Gleichzeitig erleben sie einen Machtzuwachs, von dem sie nie hätten träumen können […]. Es ist schon albtraumhaft, dass die Zukunft der Gesellschaft […] an der Entwicklung einer statistischen Größe liegt, von der praktisch kaum vermittelbar ist, wie sie überhaupt ermittelt wird.« In der Tat muteten die Zahlen-Orakel der Corona-Zeit oftmals geradezu kurios an: Nachdem zuerst die R-Zahl als alleingültiger Maßstab ausgegeben wurde, mutierte plötzlich eine sogenannte Inzidenz zum alleingültigen Richtwert, dessen Ausschläge nach oben — selbst im minimalsten Bereich — für polit-mediale Panikexzesse genutzt wurden. Offensichtlich hatte die coronare Gesellschaft weniger Angst vor einem Virus als vor Zahlen. Kehlmann zog aus seinen Beobachtungen weiterreichende Schlüsse: »Ich werde mich in der demokratischen Zivilgesellschaft nie wieder so sicher fühlen wie früher. Denn ich habe ja jetzt gesehen, wie schnell unter dem Druck der Angst wesentliche Freiheitsrechte reduziert werden können. Potenzielle Autokraten wissen jetzt sehr gut, dass eine Epidemie ein sehr effektiver Weg zur Machtergreifung sein kann.« Diese Zitate des Schriftstellers, die im November 2020 auf dem Nachrichtenportal des NDR unter diesem Link www.ndr.de/nachrichten/info/sendungen/kommentare/Kommentar-Brachial-die-Zuegel-anziehen-,corona4554.html zu lesen waren, sind im Mai 2023 weder unter dem angegebenem Pfad noch überhaupt auffindbar. 

  2. Es ist davon auszugehen, daß das Bundesverfassungsgericht unter einem Präsidenten Papier die Verfassungsbeschwerde gegen die Corona-Bundesnotbremse anders gewichtet und entschieden hätte als sie dies mit der Zurückweisung unter Präsident Stephan Harbarth tat, womit das Gericht die Maßnahmen für »verfassungsgemäß« befand. — Ebensolches wie für die angeführten Juristen Zeh, Papier und Prantl gilt es auch über den Verfassungsrechtler Kai Möller von der London School of Economics zu sagen. Möller hielt die Maskenpflicht für eine »radikale Maßnahme« und die diskutierte Impfpflicht für ein »Albtraumszenario«, das »gegen den Grundsatz der Patientenautonomie verstößt« und deshalb »weder moralisch noch verfassungsrechtlich rechtfertigbar« sei. Auffällig an Möllers Ein­lassungen zur Corona-Krise in der WELT ist sein Blick als Deutscher von außen auf sein Heimatland, wo sich seinen Beobachtungen zu Folge breite Massen der Bevölkerung völlig anders verhielten als in seiner Wahlheimat London, wo etwa die deutsche »Maskenobsession« (Möller) nicht nur nicht zu registrieren war, sondern sich viele Briten über die German Angst nur wundern konnten. 

  3. Giorgio Agamben: Ausnahmezustand. Aus dem Italienischen von Ulrich Müller-Schöll. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2004 (Original: Stato di eccezione. Torino: Bollati Boringhieri, 2003). 

  4. Roberto Esposito: Immunitas. Schutz und Negation des Lebens. Aus dem Italienischen von Sabine Schulz. Berlin: Diaphanes Verlag, 2021 (deutsche Erstausgabe 2002).