Zwischen Selbstanspruch und Wirklichkeit — Intellektuelle in Zeiten der Pandemie. Des Versagens Drama zweiter Akt: Ein Diskursethiker verweigert den Diskurs und ein Kapitalismuskritiker ist blind gegen Bedrohungen außerhalb seines Sichtfeldes.
Jürgen Habermas
Philosophie in Zeiten des Terrors (2003) und des Virus (2021). Oder: Zweierlei Maß
Vielleicht sollte man so beginnen: Im Juni 2019, im Sommer vor Corona, feierte Jürgen Habermas seinen 90. Geburtstag. Zu diesem Anlaß brachten die Medien eine Überfülle von Würdigungen seines Denkens. Für die Neue Zürcher Zeitung destillierte der Habermas-Schüler und Biograph Stefan Müller-Doohm daraus des Jubilars gesellschaftspolitisch relevante Quintessenz — nicht ahnend, auf welche Prüfwaage sie bald darauf gelegt werden sollte. Steigen wir also ein in die Habermas-Werkinterpretation eines autorisierten Mitglieds der Frankfurter Schule, die unter der Überschrift »Das Prinzip Verständigung« einen »Rückblick auf die Denkwege von Jürgen Habermas« bietet — und wohl als kanonisch gelten darf.
[Jürgen Habermas. Quelle: Európa Pont, CC BY 2.0, via Wikimedia Commons.]
Das Elementare in Habermas’ Zugriff auf die ›Strukturen der Öffentlichkeit‹, die wir Gesellschaft nennen, liege — so Müller-Doohm — in der »schlichten Frage«: »Welche allgemeinen Bedingungen müssen erfüllt sein, wenn ›Jemand sich mit Jemandem über etwas in der Welt verständigt‹?« Was aber, wenn diese Jemande dabei zu unterschiedlichen Schlüssen kommen? Mit Habermas gedacht kein Problem, sagt sein Biograph — denn: »Solange im Prozess des Miteinanderredens Gründe und Gegengründe über faktisch Wahres und moralisch Gerechtes aufeinanderstossen, darf erwartet werden, daß sich am Ende der zwanglose Zwang des besseren Arguments durchsetzt.« (Wir notieren uns erstens: Verständigung, Miteinander, Argument.)
Auf der Basis dieser Sprachtheorie gründet nun Habermas’ Modell einer Diskursethik, die — Müller-Doohm — eine Lösung für die Frage liefert: Wie ist Einigung ohne Zwang in strittigen Fragen möglich? Antwort: Über Diskurse. (Notiert.) Diskursive Verfahren wiederum sind an transparente Begründungsprozesse gebunden, weil es keinen Begriff des Wahren und Richtigen vor der Prüfung im Diskurs geben kann. Somit ist kommunikative Vernunft nach Habermas etwas, das in dialogischen Verfahren erst hervorgebracht werden muß. (Notiert: Dialog.) Entscheidend dabei: »Herrschaftsfrei geführte Diskurse, die alle Betroffenen als gleichberechtigte Teilnehmende einbeziehen, sind grundlegende Voraussetzung eines rationalen Konsenses, der die Anerkennung aller verdient.« (Notiert: Herrschaftsfreiheit, Gleichberechtigung, Konsens.)
Biograph Müller-Doohm betont Habermas’ »Idee einer streitbaren Demokratie aus dem Geiste der Kommunikation«. (Notiert: Kommunikation.) Politische Entscheidungen müssen durch »öffentliche Prozesse argumentativen Abwägens« zustande kommen, an denen alle Bürger der Zivilgesellschaft teilnahmeberechtigt sind. Ohne »vitale Debatten« über Pro und Contra und ohne »inklusive Beteiligung« verlöre die Demokratie ihre Triebkraft. (Notiert: Abwägen, Debatte.)
Zu welchen Einschätzungen der staatlichen Corona-Maßnahmen hat nun »der Geist der Kommunikation« seinen akademischen Einhaucher in den Jahren 2020 ff. konkret geführt? Philosophische Theorie im Praxistest — unternommen von einem Philosophen »auf dem Zenit seines Denkens« (Müller-Doohm).
Im September 2021 veröffentlichte der Theoretiker des kommunikativen Handelns seine Stellungnahme »Corona und der Schutz des Lebens. Zur Grundrechtsdebatte in der pandemischen Ausnahmesituation«, ein Jahr später wiederabgedruckt im rechtsphilosophischen Sammelband Freiheit oder Leben?1 In den Worten der Herausgeber »modifiziert« Habermas »darin seine These von der […] Gleichgewichtigkeit von politischer und privater Autonomie der Bürger, von Volkssouveränität und subjektiven Rechten, von Demokratie und Rechtsstaat […]. In Ausnahmesituationen wie der Pandemie, argumentiert er nun, werde dieses komplementäre Verhältnis ›gestört‹ und setze sich die Politik als Mittel der kollektiven Zielverwirklichung gegen das Recht als Medium der Gewährleistung der subjektiven Freiheiten durch.« (S. 11 f.) Was die beiden Juristen — Klaus Günther gehört als einstiger Habermas-Mitarbeiter zur ›dritten Generation‹ der Frankfurter Schule — so habermasesk verschwiemelt verschleiern: Der Philosoph stellt kurzerhand sein Koordinatensystem auf den Kopf. Was dabei herauskam, nannte die WELT prägnant »Habermas-Diktatur«.
[Bild von Gerd Altmann auf Pixabay.]
Habermas, der die Pandemie-Politik als »Kriegführung von Species gegen Species« begreift (nämlich Virus gegen Mensch!), nimmt einige nicht weiter begründete Setzungen vor — die Pandemie sei »ein Naturgeschehen, das […] Leben und Gesundheit von Angehörigen der species homo sapiens […] bedroht«; der Staat werde dadurch zum Handeln »genötigt«; eine »Herdenimmunität« sei »letztlich nur durch Impfung erreichbar« –, um dann bisherige Vorstellungen von Grundrechten abzuräumen: Während diese stets als Abwehrrechte des Bürgers gegen staatliche Übergriffigkeit galten, soll nun deren erstes absolut gesetzt über alle anderen gestellt werden und zur Rechtfertigung staatlicher Zwangsmaßnahmen unter Ausschaltung aller anderen Grundrechte dienen.
Wie das? »Man kann nicht die Würde einer Person schützen wollen und deren Physis versehren lassen. Die im ersten Satz des Grundgesetzes gewährleistete Unantastbarkeit der Menschenwürde bliebe ein flatus vocis, wenn sich diese nicht in Personen aus Fleisch und Blut — als Trägern von Grundrechten — verkörperte. Daher setzen die in den folgenden Artikeln 2 ff. im einzelnen genannten Grundrechte, die die Unantastbarkeit der Würde der Person ausbuchstabieren, die Schutzwürdigkeit des Lebens dieser Person voraus.« Um Artikel 1 Grundgesetz zu gewährleisten, darf, ja muß der Staat, durch ein Virus dazu »genötigt«, alle anderen Grundrechte in einer Art Kriegsrecht stornieren. Nacktes physisches Überleben ist das höchste, ja einzige Gut, dem alle anderen Rechtsgüter weichen müssen. (In der nächsten Folge werden wir eruieren, wie diametral anders der Philosoph Giorgio Agamben dies beurteilt.)
Im Ergebnis seiner Überlegungen verkündet Habermas, die Frage sei gar nicht, wie sehr der Staat in die Grundrechte seines Souveräns eingreifen darf, sondern andersherum, ob der »demokratische Rechtsstaat« überhaupt »Politiken« verfolgen dürfe, »mit denen er vermeidbare Infektions- und Todeszahlen in Kauf nimmt«. Seine Antwort: Der Staat müsse angesichts todbringender Gefahr intervenieren und dabei Grundrechte außer Kraft setzen. Nicht eingepreist hat Habermas dabei die zynisch »Kollateralschäden« genannten Auswirkungen der »Maßnahmen«.
Verständigung, Miteinander, Argument, Diskurs, Dialog, Herrschaftsfreiheit, Gleichberechtigung, Konsens, Kommunikation, Debatte — von allen Habermas-Axiomen frei präsentiert sich das Habermas-Traktat »Corona und der Schutz des Lebens«. Einen »Diskurs« sucht man in diesem zentralen Text des Diskursethikers vergebens. Nur ganz zu Beginn, wo der Autor den Stand der Dinge referiert, bevor er selbst Stellung bezieht, taucht der Wortblock »öffentliche Diskussion« auf. Für Habermas’ eigene Erwägungen, die er anstellt, nachdem er erklärt hat, die bisherige Diskussion sei zum »Kern« der »Kontroversen« noch »nicht wirklich vorgedrungen«, spielen Diskurs und Diskussion dann keine Rolle mehr. Aus dem »Dialog«, der im Text ebenfalls fehlt, wird der Monolog. Das Schlüsselwort des Habermas’schen Kosmos, Kommunikation, findet sich einmal als »kommunikative Rechenschaft« – ansonsten: Frontalbelehrung.
Einzig und allein das »Abwägen« hat seine Stellung im Habermas-Text. Es findet aber nicht »kommunikativ« statt, sondern wird vom Autor apodiktisch vorgenommen, auf unumstößlichen, keinem Diskurs ausgesetzten Annahmen über die Gefährlichkeit des Virus. Es ist Habermas schon klar, daß »der Prima-facie-Vorrang eines Rechts, und sei es noch so hochrangig wie das auf Leben und Gesundheit« — wie er ihn für den »Notstand« im Krieg gegen Corona fordert — »die vorbehaltlose Abwägung zwischen allen grundsätzlich gleichmäßige Berücksichtigung beanspruchenden Grundrechten [blockiert]«. Aber »für die Dauer einer solchen Katastrophe« müsse das Aussetzen dieser Abwägung eben als Raison d’être des Rechtsstaates gelten.
Kurz gefaßt: Habermas’ Theorien vom kommunikativen Miteinander sind papierene Schönwetterformeln, die bei Starkregen abgelöst werden von autoritären Diktaten. Und wann Starkregen herrscht, bestimmt der, der die Diskurshoheit beanspruchen kann. Miteinander reden kann man lange und über alles, wenn es aber Ernst wird, erteilt der Diskursethiker dem Staat Handlungsvollmacht aus eigener Denkbefugnis.
Zudem folgt aus der Habermas’schen Verkehrung des Grundrechtsverständnisses eine Konsequenz, die Uwe Volkmann benennt: »Von hier aus werde, wie zuletzt durch den Klimabeschluß des Bundesverfassungsgerichts für jedermann sichtbar geworden sei, auch Freiheit immer stärker zu einer bewirtschafteten oder kontingentierten Freiheit: aufgeteilt gleichsam in einzelne Freiheitspäckchen, die dann vom Staat zwischen den gesellschaftlichen Gruppen oder auch über die Zeit hinweg zugeteilt werden.« Wie sehr diese Befürchtung zutreffen dürfte, darauf verweist schon der erwähnte Band Freiheit oder Leben?: »Die Begrenzung der globalen Erderwärmung und der Kampf gegen ihre schon jetzt absehbaren Folgen« seien das »nächste große Anwendungsfeld« — für eine Wägung und Adaption des Freiheitsbegriffs im Falle einer Bedrohung, hier dann eben durch den Klimawandel.
Betrachtet man Habermas’ differenzierte Aussage zur Freiheitsbedrohung durch den Terror und zur terrorbekämpfungsbedingten Einschränkung von Freiheitsrechten in westlichen Demokratien wie den USA nach 9/11, wird deutlich, wie sehr er später davon abgewichen ist. 2003 sah der Philosoph »das systematische Risiko der Überreaktion und Entlegitimierung, dem liberale Demokratien in ihrem Kampf gegen den Terrorismus ausgesetzt sind« (Giovanna Borradori). Dieses Risiko scheint er im Kampf gegen Corona nicht gesehen oder sogar gebilligt zu haben.
Zurück zum vorcoronaren Habermas. Was diesen als Homo politicus immer wieder antreibe, so die NZZ-Hommage seines Schülers Müller-Doohm, sei »die Angst vor deutschen Kontinuitäten, vor einem Rückfall hinter die kulturellen Errungenschaften einer demokratischen Verfassung«. »Nervenpunkte« seien für ihn »bis heute [2019] Situationen, in denen die institutionellen Voraussetzungen der Demokratie gefährdet, ihr normativer Sinn verkannt und ihre rechtlichen Spielregeln missachtet werden.« Zu Beginn der Corona-Krise bezog sich Habermas’ Angst vor »gefährlichen postdemokratischen Zuständen« auf die »aggressive, unilaterale Politik« Trumps (obwohl dieser US-Präsident keine Kriege geführt hat) oder die »Ideologie des Nationalismus«, die er vor allem in »rechtspopulistischen Regimen« Osteuropas verortete.
Es muß diese Blindheit vor anderen Gefahren als den selbst imaginierten gewesen sein, die einen Denker wie Habermas in Pandemie-Zeiten auf Abwege geführt haben und unsensibel sein ließen für die reale Perversion eines autoritären Gesundheitsregimes, das allen Errungenschaften einer demokratischen Verfassung Hohn sprach.
Noam Chomsky
Profit over People (1999). Oder: Feindbild und Blindheit
Ausgerechnet Chomsky. Der rechtschaffene Gelehrte von Weltruf, Begründer einer modernen Linguistik, politischer Streiter für das Wahre und Gute, Schutzpatron der Entrechteten als Kämpfer gegen die kalte Welt des Kapitalismus, dessen Streitschrift Profit over People (1999) vielen erst die Augen öffnete für einen neuen Begriff: Neoliberalismus — und für die Verheerungen, die in dessen Ungeist angerichtet werden.
[Noam Chomsky. Quelle: Σ, retouched by Wugapodes, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons.]
Dann der Schock: Im Herbst 2021, als das Wüten gegen Impfverweigerer (»Blinddarm«) im polit-medialen Sündenbockkonstrukt »Pandemie der Ungeimpften« immer hemmungsloser wurde, als eine Ethikratsvorsitzende den Druck auf diese große Minderheit »hocheskalieren« wollte, obwohl zu diesem Zeitpunkt schon klar war, daß die Impfung entgegen aller Beteuerungen keine sterile Immunität bieten kann, wurde Noam Chomsky so zitiert: »Ungeimpfte sollten den Anstand besitzen, sich von der Gesellschaft zu isolieren. Wie sie an Essen kommen, sei deren Problem.« Für seine linke Fangemeinde brach eine Welt zusammen — zumindest für die nicht wenigen Maßnahmenkritiker, die sich in der Corona-Zeit vom Parteidogma abspalteten.
Mancher Titel aus Chomskys überbordendem Œuvre politischer Schriften klingt im Lichte seiner Corona-Ausfälle fast wie Hohn: Profit over People: Neoliberalismus und globale Weltordnung (2000). Profit? Pharmaindustrie? Mister Chomsky? Ist da noch wer? Das Gedankenspiel, daß der Chomsky während Corona den Chomsky vor Corona eigentlich bekämpfen müßte, ist furchterregend.
An Noam Chomskys Entgleisung wird die Energie des Bösen sichtbar, die auf dem Boden einer aufgeheizten Angstwelle gedeihen konnte — einer Panik, die überwiegend weit mehr mediales Konstrukt war denn Realangst. Chomskys Aussetzer beweist, wie Dünn der Firnis der Zivilisation sein kann, kam aber nicht völlig überraschend, verlief doch der Weg des Vorzeige-Intellektuellen durch die Corona-Krise von Beginn an auf denkerischen Abwegen, weil er sich mit seiner Fixierung auf den Neoliberalismus als Feind die Sicht auf Bedrohungen anderer Art selbst verstellte.
Am 27. April 2020, die »erste Welle« war bereits abgeklungen, gab Noam Chomsky dem Portal Euractiv ein Interview per Videokonferenz. Haupttenor: Das Coronavirus zeige das »kolossale Versagen der neoliberalen Version des Kapitalismus«. Es funktioniert offenbar wie ein Reizwort-Trigger. Man fragt den Kapitalismuskritiker nach irgendeinem Problem — und die Maschinerie startet. Da hat sich jemand starr und stur ein monokausales Erklärmuster zugelegt, das er jeder Wirklichkeit überstülpt.
Chomsky nimmt die existentielle Gefährlichkeit des Virus ohne Begründung als gegeben an, um nicht etwa eine Überreaktion von Regierungen zu beklagen, sondern eine Unterreaktion sowie einen Mangel an Vorbereitung, fehlende Impfstoffe etwa. Es liege am »neoliberalen Hammer, daß die Regierungen nichts tun können.« Nach diesem Reflex, der kryptisch bleibt, folgt eine Salve gegen die »Bande« der US-Regierung, in der »soziopathische Narren« wie Trump »das Land in den Untergang treiben«.
Wie — so will die Interviewerin wissen — werde »die Krise uns als Gesellschaft verändern«? Chomsky weiter enigmatisch, aber den Triggerknopf haltend: »Die Pandemie könnte zu überaus autoritären, repressiven Staaten führen, die die neoliberale Pest noch weiter ausbreiten.« Was folgt, klingt wie das Raunen eines Verschwörungstheoretikers: »Tatsächlich arbeiten sie im Moment ja daran. Man sollte immer daran denken, daß die Kapitalistenklasse nicht nachgibt, daß sie immer kämpft.« Am Ende wird es vollends wirr: Die EU sei unfähig, auf Corona zu reagieren, Deutschland mache aber seine Sache gut, weil es nicht so »neoliberal« sei — und Kuba bewähre sich als größte humanitäre Hilfsmacht weltweit.
Er konnte wohl nicht anders: Schuld an allem sind Trump und das Kapital. Chomskys bestens kultivierter politischer Beißreflex blieb stärker als die Vernunft. Aber nicht der bekriegte Neoliberalismus hat Schuld an den Verheerungen der Corona-Krise. In ihr zeigte sich viel eher ein epochales Versagen von Verantwortlichkeit der Intellektuellen — so Buchtitel und Selbstanspruch Noam Chomskys aus dem Jahr 2008.
[Bild von Jeff Jacobs auf Pixabay.]
Wäre die Corona-Krise mit ihrem irrationalen, manipulativen und medienbefeuerten Panikantrieb nicht die Stunde des Medienkritikers Chomsky gewesen? Waren nicht Chomskys Claqueure in aller Welt berufen, mit Chomskys Schriften in der Hand die einseitige Medienpropaganda der Corona-Jahre zu entlarven? Ein Blick auf des Meisters einschlägige Veröffentlichungen im Abgleich mit der medialen Corona-Berichterstattung, die jedem vor Augen stehen dürfte, erteilt die Antwort: Konsens-Manufakturen (1988), Gedankenkontrolle (1989), Medien-Propaganda (2003).2
Welches Anwendungsfeld wäre die Corona-Berichterstattung für eine Theorie, die erklärt, wie Medienkonzerne ein Propagandasystem bilden, »das fähig sei, ohne zentrale Steuerung einen Konsens im Interesse einer […] Oberschicht herzustellen und die öffentliche Meinung über agenda setting und framing […] zu formen, während gleichzeitig der Anschein eines demokratischen Prozesses der Meinungsbildung und der Konsensfindung gewahrt bleibe.« Nur: Man hätte dafür den Focus von Klagen gegen Kapitalkonzentration in oligopolen Verlagshäusern in Richtung Kritik der medialen Meinungsformung im Sinne der Corona-Regime schwenken müssen. Das aber wollten weder Chomsky noch seine »linksliberale« Fangemeinde, weil man in diesen Kreisen »die Maßnahmen« begrüßte und unterstützte.
Mitten hinein in die Corona-Panik platzte stattdessen Noam Chomskys neuestes Buch: Rebellion oder Untergang. Ein Aufruf zu globalem Ungehorsam zur Rettung unserer Zivilisation (2021). War für den Autor in der Pandemie Ungehorsam ein Zeichen von Unreife, erklärt er ihn nun zur Pflicht. Selbst dem besonnensten Chronisten von Gleichzeitigkeiten sich ausschließender Forderungen droht dabei die Hutschnur zu platzen ob der Unreflektiertheit des »Parade-Intellektuellen« (Deutschlandfunk). Immerhin blieb der Vielschreiber sich im Panikmodus treu: »Wenn wir jetzt nichts gegen den Klimawandel unternehmen, steht die Auslöschung der Menschheit bevor«.
Im Interview mit dem Deutschlandfunk offenbart der ältere Herr aus den USA ein erschütterndes Maß an Selbstüberschätzung: Der Linguist maßt sich an zu wissen, »welche Mittel wir ergreifen müssen, um bis Mitte dieses Jahrhunderts [das Ziel] von null Emissionen zu erreichen«. Er will nichts weniger als »die Zivilisation ändern« und »eine bessere Welt schaffen«. Ein Wissenschaftler klingt zum Ende seines Lebenswerkes wie ein pubertärer Jüngling, dem die Gäule durchgehen.
Im »Krieg gegen den Terror« mahnten Naom Chomsky (Power and Terror. US-Waffen, Menschenrechte und der internationale Terrorismus, 2004), mit Abstrichen auch Jürgen Habermas, die Respektierung von Menschenrechten an. Im Krieg gegen Corona glaubte Habermas dagegen, die Grundrechte zugunsten eines autoritativen Staates umdefinieren zu müssen — Chomsky schmiß gleich alle Bedenken über Bord und wurde seinen Mitmenschen zum Wolf. Andere blieben sich treu — zu ihnen gehört in Deutschland als eine der prominentesten die Juristin und Schriftstellerin Juli Zeh, international der Philosoph Giorgio Agamben. Ihre Positionen zur Corona-Pandemie werden den Schwerpunkt der nächsten Folge der »Sozialen Virologie« bilden.
In Teil IV wird unsere Erkundung der Denkerlandschaft in Zeiten der Pandemie fortgesetzt — dann mit Intellektuellen, die ihr denkerisches Koordinatensystem nicht verrieten und dem Corona-Autoritarismus die Stirn geboten haben.
Anmerkungen
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Erstveröffentlichung in: Blätter für deutsche und internationale Politik, erneut abgedruckt mit neuem Titel: Jürgen Habermas: Grundrechtsschutz in der pandemischen Ausnahmesituation. Zum Problem der gesetzlichen Verordnung staatsbürgerlicher Solidarleistungen. In: Klaus Günther, Uwe Volkmann (Hrsg.): Freiheit oder Leben? Das Abwägungsproblem der Zukunft. Berlin: Suhrkamp, 2022, S. 20–45. ↩
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Noam Chomsky: Manufacturing consent. The political economy of the mass media. New York: Pantheon Books, 1988 (with Edward S. Herman). — Ders.: Necessary illusions. Thought control in democratic societies. London: Pluto, 1989. — Ders.: Media control. The spectacular achievements of propaganda. New York: Seven Stories Press, 1997 (Media Control. Wie die Medien uns manipulieren. Frankfurt am Main: Nomen, 2018). ↩