σύνταξις | V | syntaxis

Geschrieben von Uwe Jochum am 7.8.2023

Vom selben Autor:


Habeck, der Formlose


Uwe Jochum

Wissenschaftlicher Bibliothekar

»Weltgeschichte ist Staatengeschichte. Staatengeschichte ist die Geschichte von Kriegen.«
(Oswald Spenger: Preußentum und Sozialismus, 1920, S. 52)

ξ

»Aber dieses Leben, das ist, diese Wirklichkeit um uns, in die wir vom Schicksal gestellt sind, mit dem höchstmöglichen Gehalt erfüllen, so leben, daß wir vor uns selbst stolz sein dürfen, so handeln, daß von uns irgendetwas in dieser sich vollendenden Wirklichkeit fortlebt, das ist die Aufgabe. Wir sind nicht ›Menschen an sich‹. Das gehört zur vergangnen Ideologie. Weltbürgertum ist eine elende Phrase. Wir sind Menschen eines Jahrhunderts, einer Nation, eines Kreises, eines Typus. Das sind die notwendigen Bedingungen, unter denen wir dem Dasein Sinn und Tiefe verleihen können, Täter, auch durch das Wort Täter sein können. Je mehr wir diese gegebenen Grenzen füllen, desto weiter ist unsre Wirkung. Plato war Athener, Cäsar war Römer, Goethe war Deutscher: daß sie das ganz und zuerst waren, war die Voraussetzung ihrer welthistorischen Wirkung.«
(Ebd., S. 80.)

ξ

Holla:

»Nichts kann jämmerlicher sein als die Versuche eines gewissen Protestantismus, seinen Leichnam mit bolschewistischem Kot wieder lebendig zu reiben.«
(Ebd., S. 96.)

ξ

»Sozialismus bedeutet Können, nicht Wollen. Nicht der Rang der Absichten, sondern der Rang der Leistungen ist entscheidend.«
(Ebd., S. 98.

ξ

Wenn ich Spengler richtig verstanden habe, müssen wir grosso modo mit drei politischen Systemen rechnen, jedenfalls im Westen:

Erstens mit dem angelsächsischen System, das die Politik als ausführendes Organ wirtschaftlicher Interessen betrachtet. Seine historische Grundlage ist das Wikingertum, das auf Beute geht und um Beute konkurriert, insgesamt aber alle Beteiligten darin eint, daß es ums Beutemachen geht. Auf den britischen Inseln gab es für dieses System insofern ideale Ausgangsbedingungen, als die Insellage es ermöglichte, den Staat weitgehend absterben zu lassen (die Insellage bot ausreichend Schutz nach außen) und sich auf die wirtschaftliche Konkurrenz zu verlegen, die dann von der geschützten Insel aus auf andere Länder ausgedehnt wurde: Was dem angelsächsischen Einfluß unterworfen wurde, war sofort wirtschaftliches Absatzgebiet und Gebiet zur Ausbeutung von Bodenschätzen und Arbeitskraft. Das Ziel war Reichtum, der den Reichen erlaubte, nicht mehr arbeiten zu müssen. Das öffentlich-politische Symbol dieser Verhältnisse ist ein Kleidungsstil, der den Reichtum erkennen läßt, das Leben als otium darstellt und ausgefeilte Konventionen ausbildet, in denen diese Lebensform sich selbst zum Ausdruck bringt: das Wohnzimmer nicht einfach als Salon, sondern als »drawing room«, die »tea time«, die Landschaftsgärten, die Schlösser. In diesem Kontext beschränkt sich das politische System auf den Ausgleich der wirtschaftlichen Interessengruppen, die aber immer darin geeint sind, daß das Ziel allen politökonomischen Handelns der florierende Handel zwecks Reichtumsgenerierung ist.

Zweitens müssen wir mit dem romanisch-französischen System rechnen, das den Staat als eine Privilegienmaschine betrachtet, so daß es darauf ankommt, durch die Übernahme der Macht im Staate die Privilegien auf die Mühlen der eigenen Leute umlenken zu können. Eine einigende Kraft gibt es auf dieser Ebene nicht, sondern nur so etwas wie eine anarchische Konkurrenz um die Privilegien, die Macht und Reichtum verschaffen. Wer sich anpaßt und zur richtigen, nämlich gewinnenden Clique gehört, steigt schnell auf und wird schnell reich und mächtig, bei einer scharfen Änderung der Verhältnisse aber auch schnell wieder abserviert. Der Sonnenkönig, der über all dem thront, kann dieses Cliquenwesen höchsten nutzen, um selbst ganz oben als Privilegienverteiler seine Macht zu erhalten (Ludwig XIV.), oder er wird im mit Gewalt ausgetragenen Kampf um die Privilegien zermalmt (Ludwig XVI.). Einen Staat, so Spengler, stellt dieses System eigentlich nicht dar.

Drittens endlich das preußische System, das Spengler als ein geboren sozialistisches System versteht, nicht im Sinne von Karl Marx, sondern in dem Sinne, daß es den Staat als eine Gesamtheit organisiert, die eine Gesamtheit von allen für alle ist, wobei das strukturbildende Organisationsprinzip nicht der Reichtum ist, sondern der Rang, den der einzelne in diesem Gesamtsystem einnimmt. Dieser Rang — und das ist entscheidend — verdankt sich aber nicht geglückter Reichtumsvermehrung und dem damit gegebenen politischen Einfluß, sondern der Sachkompetenz des einzelnen. Hierarchie also als Kompetenzhierarchie, die mit einem entsprechenden Machtumfang verbunden ist, beides – der Erwerb von Kompetenz und der Erwerb von Macht — reguliert durch Gesetze, die für alle gelten und es daher auch im Prinzip allen ermöglichen, eine ihrer Kompetenz angemessene Stellung im Gesamtsystem zu finden. Entscheidend ist dabei aber stets der Geist der Sache, wie Spengler mehrfach betont. D.h. nicht die Gesetze sind zuletzt die Basis des Staates, sondern der Gemeinschaftsgeist, der auf die Sachen geht, die für alle relevant sind und in einer für alle befriedigenden Weise vorangebracht werden müssen. Nach außen hin wird dieses System des preußischen Sozialismus durch die Uniform zum Ausdruck gebracht: Sie ist »des Königs Rock«, Zeichen der Unterordnung des einzelnen unter das Ganze, das dem einzelnen aber den ihm zukommenden Rang einräumt, ihn nicht kujoniert, sondern fördert. Und unter »Förderung« versteht dieses System eben nicht Akquirierung von Reichtum, sondern von Kompetenz, die im Rang des einzelnen sichtbar wird. Daher ist Arbeit im preußischen Sozialismus auch nichts, was durch Reichtum überwunden werden soll, sondern sie ist ein Dienst an der Allgemeinheit.

ξ

Das System des preußischen Sozialismus war von etwa dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 bis zum Ersten Weltkrieg das wirtschaftlich, wissenschaftlich und politisch dynamischste System des Westens. Japan und die USA haben ihre Universitäten damals nach deutschem Vorbild eingerichtet, Japan das deutsche Recht übernommen, ein Nobelpreis nach dem andern fiel an deutsche Wissenschaftler, wer in den USA wissenschaftlich etwas gelten wollte, lernte Deutsch, und wer in unseren Städten durch die Viertel streift, in denen die Häuser aus der Gründerzeit stehen, der kann nur staunen über den Reichtum, der damals möglich war. In der Stadt, in der ich lebe, lese ich an einem fünfstöckigen Gründerzeithaus: »Erbaut von J. Stehle Gipsermeister 1904.« Welcher Gipsermeister könnte heute ein so großes und schönes Haus in einem recht wohlhabenden Stadtviertel mit dieser Bauqualität errichten?

Wenn ich also immer wieder lese, wie sehr wir es dem wirtschaflichen Liberalismus zu verdanken haben, daß wir im Westen so erfolgreich und eben auch reich geworden sind, dann melden sich bei mir leise Zweifel, ob die Rechnung so einfach aufgeht. Die historische Dynamik lag jedenfalls für einige Jahrzehnte beim preußischen Sozialismus, wie Spengler ihn versteht.

ξ

Daß es den preußischen Sozialismus à la Spengler nicht mehr gibt, hat natürlich mit der deutschen Revolution von 1918 zu tun und mit dem Nationalsozialismus und der zweiten großen Kriegsniederlage 1945. Was zwischen 1918 und 1945 verschwand, war die Symbiose von Aristokratie und Großbürgertum, an deren Stelle ein sich rasch verkleinbürgerlichender Staat trat, in dem die Menschen auf soziale Sicherung geprägt wurden bzw. diese Prägung zur staatstragenden Ideologie transformierten. Rolf Peter Sieferle hat über diese Verschiebungen in seinem Essayband Finis Germania nachgedacht, und er hat das, was ab 1945 so mächtig im Nachfolgestaat des Deutschen Reiches hervortrat, »Sozialdemokratismus« genannt.

Der Sozialdemokratismus der Bundesrepublik unterscheidet sich vom preußischen Sozialismus darin, daß der hierarchische Rang einer Person, der sich aus ihrer Kompetenz ergab und ihr kompetenzbasiert Macht zuordnete, keine Rolle mehr spielte, sondern an die Stelle der Rangunterschiede und des Bestrebens, durch Leistung aufzusteigen, das sozialdemokratische Paradigma der »Gleichheit der Lebensverhältnisse« trat, das alle Differenzen einebnete: So wie es keine geographisch verteilten Unterschiede in den Lebensvollzügen mehr geben sollte und also ein oberbayrischer Bauer in etwa dasselbe Leben sollte leben können wie ein Angestellter in Hamburg, so sollte es auch keine sozialen Unterschiede zwischen einem Facharbeiter und einem Firmenchef mehr geben, jedenfalls keine wesentlichen. Das Paradigma wurde implementiert in der Hoffnung, durch fleißige Arbeit — hier wirkte das Preußentum noch nach — einen gesteigerten Wohlstand erwirtschaften zu können, der eine soziale Nivellierung nach oben erlaubte. Was wir derzeit erleben, ist das Sichtbarwerden einer Nivellierung nach unten, die dem sozialdemokratischen Programm als dem kleinen Bruder des marxistischen Programms innewohnt: Wo mit dem Umverteilen begonnen wird, gibt es kein Halten mehr, bis immer mehr Reichtumsspitzen und also -unterschiede nivelliert sind – will sagen: nach unten durchgereicht sind, bis zuletzt nichts mehr »oben« ist, das noch umverteilt werden könnte, so daß plötzlich alle gleich arm dastehen und das negative Schneeballsystem, wenn es nichts mehr zu verteilen gibt, schlußendlich zusammenbricht.

Die Frage, die sich im gerade stattfindenden und immer deutlicher zutage tretenden Zusammenbruch des politischen Systems der Bundesrepublik neu stellt, ist einfach: Wird es nach dem Zusammenbruch gelingen, an den preußischen Sozialismus anzuknüpfen und erneut ein System des Gemeinschaftsgeistes zu implementieren, das Unterschiede und damit auch Konflikte zuläßt, aber über klare Kompetenzzuweisungen und Hierarchien jedem Staatsbürger eine Perspektive »nach oben« bietet, so daß er seine Identität finden und vielleicht auch aufsteigen kann (wenn er möchte und die dafür nötige Kompetenz besitzt)? Oder wird Deutschland zur Beute des angelsächsischen Wikingerkapitalismus, der Deutschland ausplündern und höchstens noch als Basis für Rohstoffe und Menschenmaterial und als Absatzbasis für anderswo gefertige Produkte betrachten wird? Das romanisch-französische Modell, das den Staat als Privilegienmaschine in der Hand einer kleinen Elite betrachtet, wird mit dem Ende der Europäischen Union, das dieses romanisch-französische Modell zu einem Monstrum aufgebläht hat, erledigt sein. Es bleibt daher, von Spengler aus gedacht, nur dies: preußischer Sozialismus oder angelsächsischer Wikingerstaat; Kompetenzhierarchie oder Finanzoligarchie.

ξ

Rolf Peter Sieferle hat freilich auf eine andere Möglichkeit hingewiesen: daß der preußische Sozialismus in Deutschland nicht mehr verwirklicht werden könne, sondern sich vielmehr in Asien eine eigene Spielart dieses Modells herausbilde. Er schrieb: »Ein solches Modell könnte insofern erfolgträchtig sein, als der Westen Gefahr läuft, nach vollständiger Aufzehrung seiner moralischen Ressourcen Zuständen zu verfallen, wie sie in amerikanischen Innenstädten beispielhaft sichtbar werden.« (Finis Germania, S.53)

Für Deutschland aber hielt er fest: »Seine Zeit als welthistorisches Volk liegt hinter ihm.« (ebd.)

ξ

Hinter dem Urteil, Deutschland habe seine Rolle als welthistorisches Volk ausgespielt, steht bei Sieferle zum einen die Theorie, daß die Komplexität der historischen Prozesse es nicht zulasse, Akteure anzunehmen, die diese Prozesse beeinflussen oder gar lenken könnten. Zum andern aber unterstellt er einen Geschichtsprozeß, in dem jedes Volk historisch nur einmal zum Zuge komme, aufblühe und vergehe. Das mag von Hegel oder von Spengler her gedacht sein, die die Geschichte als ein Zu-sich-selbst-Kommen des Geistes (Hegel) oder als einen naturalen Lebensprozeß (Spengler) beschrieben haben, der für jedes Volk nur einen Auftritt auf der Bühne der Geschichte kennt. Und in der Tat: Wo sind die Griechen und Makedonen mit ihrem Alexanderreich geblieben, wo die Römer mit dem Römischen Imperium? Sie sanken in den Staub, und die heutigen Griechen und Italiener scheinen Menschen eines ganz anderen Schlags als ihre antiken Vorfahren. Die Inkas, Azteken und ihre Reiche? Verschwunden bis auf die Trümmer ihrer Städte.

Schaut man aber nocheinmal hin, zeigt sich die Geschichte keineswegs als ein einsinniger Vorgang, der die Individuen und Völker nach Erfüllung ihres historischen Auftrags — ein Auftrag von wem? — einfach wegwirft. Vielmehr gibt es historische Wiedergänger wie China, dessen Geschichte ein Pulsieren zwischen maximaler territorialer Ausdehnung und Schrumpfung zeigt, einen nahezu vollständigen Verlust an eigenständiger politischer Gestaltungskraft zur Zeit des Kolonialismus und ein Wiedererstarken nach dem Zweiten Weltkrieg — bis hin zu einem stetigen Ausbau seines internationalen Einflusses, der ganz offensichtlich auf ein Ende des US-amerikanischen Imperiums zielt. Oder nehmen wir — warum nicht? — Deutschland und seine Vorläufer: Waren es nicht die Gothen, Franken, Vandalen und Langobarden, die ins Römische Reich einwanderten und dort die Macht übernahmen, zuerst in einzelnen kleineren Gebieten, dann diese Gebiete vergrößernd und zu eigenen Reichen ausbauend? Und natürlich erinnern wir uns an das Heilige Römische Reich (Deutscher Nation), das, wenn man etwas großzügig rechnet, beinahe ein Jahrtausend lang die bestimmende politische Organisationsform in Mitteleuropa war, bis es 1806 unterging. Aber doch nur, um 1871 in veränderter Form fortgesetzt und 1918 territorial beschnitten zu werden, ein Prozeß, der während der Zeit des Nationalsozialismus umgekehrt werden sollte, aber infolge des Zweiten Weltkriegs doch nur zu einer weiteren Reduktion des Staatsgebiets und zu beinahe totaler politischer Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten führte. Das alles sind Vorgänge, in denen die politische Gestaltungskraft eines Volkes oder von Teilen eines Volkes zu verschiedenen Zeiten einen erneuten Schub bekam und wieder geschichtsmächtig wurde, aber zeitweise auch verlorengehen konnte.

Freilich: Einen »Sinn« der Geschichte wird man darin kaum erkennen können, jedenfalls solange nicht, wie man meint, ein solcher Sinn müsse in irgendeinem »Fortschritt« zu finden sein, der als Resultat von einem Lehrer an die Schultafel geschrieben werden kann. Mit Hegel (und gegen Hegel) müßte man vielmehr annehmen, daß es Phasen gibt, in denen ein Volk sein Selbstbewußtsein gewinnt, dann aber wieder verliert, und manchmal erneut gewinnt; und mit Spengler (und gegen Spengler) müßte man annehmen, daß ein Volk mehr als einmal zur Blüte gelangen kann, ganz so, wie es Pflanzen gibt, die mehr als einmal austreiben.

In diesem Sinne hat Sieferle am Ende seines Finis Germania einen Gedanken notiert, mit dem er gleichsam gegen sich selbst gedacht hat. Er schreibt dort, daß es sinnvoll sein könnte, den antiken Gedanken einer ungeordneten Fluktuation der Geschichte neu zu beleben, ohne diese Fluktuation sogleich als Fortschritt oder als Niedergang zu werten. Wohin Deutschland treibt, wird man also sehen müssen. Jedenfalls ist sein Ausscheiden aus der Weltgeschichte à la longue nicht selbstverständlicher als die Wiederaufnahme seiner welthistorischen Rolle.