Heimatkunde

Teil zwei

Geschrieben von Uwe Jochum am 26.8.2023

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Uwe Jochum

Wissenschaftlicher Bibliothekar

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Die große Vernachlässigung

Es muß in den späten 1970er Jahren gewesen sein, daß der Begriff des »Konsumterrors« seinen Siegeszug durch die Köpfe der Europäer und Amerikaner begann. Gemeint war damit, daß der Verbraucher durch die omnipräsente Werbung zu einem Konsumverhalten gedrängt werde, das ihm ein immer größeres Glück durch immer mehr zu kaufende Konsumgüter verheiße. Das war natürlich ein Element des damals Fahrt aufnehmenden linken Diskurses, der den arbeitenden und konsumierenden Menschen zum Opfer des kapitalistischen Systems erklärte, das den gesamten Planeten ins Unheil der ausgebeuteten und zerstörten Natur führen werde. Lasse man die Dinge laufen, so hieß es, werde die Erde zu einer Brache, auf der die übrigbleidenden Verbraucher und Konsumenten ein kümmerliches Dasein fristen werden, während die Herren des Systems es sich in splendiden Wohlstandsinseln gutgehen ließen.

Es war die Zeit, da der Klub von Rom seinen ersten aufrüttelnden Bericht über Die Grenzen des Wachstums veröffentlicht hatte (das war 1972), in dem er das baldige Ende der unterirdischen Rohstofflager vorhersagte. Das war die erste mit großer medialer Begleitung der Weltöffentlichkeit präsentierte Computermodellierung der Zukunft, auf die seither immer weitere folgten, von den unendlich vielen Modellierungen des Klimas bis zu den in den vergangenen drei Corona-Maßnahmenjahren schnell verbreiteten Modellierungen der Viruswellen und der von diesen Wellen induzierten Sterbefällen. Alle diese Modellierungen haben eines gemeinsam: Sie sind nicht mit der Erhebung der Empirie — also dessen, was ist — zu verwechseln, sondern sind Prognosen, die bestimmte Sachverhalte im Hinblick auf bestimmte Annahmen gewichten — und niemals ins Schwarze treffen. Sie verhalten sich wie ungedeckte Schecks auf die Zukunft, die allesamt platzen. Ihr einziges greifbares Resultat sind die Zukunftsangst und die Zukunftspanik, die diese Modelle sehr erfolgreich in die westlichen Gesellschaften injiziert haben. Seither vergeht kaum ein Jahr, und inzwischen kaum ein Monat oder kaum eine Woche, in der uns der nahe bevorstehende Untergang der Menschheit nicht in roter Farbe an die Wand gemalt wird.

Der Siegeszug des zu mathematischen Modellen geadelten Kaffeesatzlesens, das sich als Wissenschaft tarnt, hat seit den 1970er Jahren einen neuen Menschentypus in den westlichen Gesellschaften hervorgebracht: Es ist der Typus des »Gutmenschen«, der sich inzwischen überall ausgebreitet hat und das geistige Klima des Westens bestimmt. Sein intellektueller Genkode besteht darin, Modellierungen von was auch immer tatsächlich für Wissenschaft und Wissenschaft nur dann für seriös zu halten, wenn sie den Untergang predigt (den Untergang der Fruchtfliegen, der Bienen, des Waldes, der Rentiere, der Somalier, der Menschheit, der Erde, des Kosmos) und drastische Maßnahmen zur Rettung vorschlägt. »Follow the science« ist die Parole der Gutmenschen, eine Parole, die angesichts fraglos akzeptierter Rechenmodelle und der durch sie legitimierten Panikverkündungen identisch ist mit dem energischen Aufruf zum endgültigen Ausstieg aus allen naturverändernden Aktivitäten des Menschen. Der Einwand, daß der Mensch seit jeher wie jedes andere Lebewesen auf der Erde seine Umwelt verändert hat, im Kleinen wie im Großen, verfängt beim Gutmenschen keineswegs: Wenn es um die Rettung der Erde gehe, müsse der Mensch ein Opfer bringen, und sei es das Opfer des Menschen selbst. Denn ohne den Menschen, sagt uns der Gutmensch, könnte die Natur endlich wieder ganz sie selbst sein.

Geschenkmüll [Gelassener Müll auf der Straße. Photo: Uwe Jochum.]

Eigentlich hätte es in der Logik der in immer dichterer Folge verbreiteten apokalyptischen Modellrechnungen liegen müssen, den »Konsumterror« und seine Folgen zum Verschwinden zu bringen. Daß dem nicht so ist, zeigen die wiederkehrenden Schlagzeilen, die davon künden, daß dieser oder jener Klimapapst, dieser oder jener Untergangsprophet und dieser oder jener einfache Straßenkleber dabei erwischt wurde, wie er seinen Urlaub in bester konsumistischer Manier per Langstreckenflug in der Karibik oder dem Fernen Osten verbrachte, in Kalifornien ein Eis schleckte oder nichts dabei fand, seinen klimaschädlichen Body-Mass-Index durch Zufuhr von Allerfettestem auf einem kugelrunden Stand zu halten. Kurzum, unter dem Zeichen apokalyptischer Modellrechnerei und Weltrettung betritt wie eh und je der Heuchler die Bühne und spielt seine Rolle wie weiland die Päpste mit ihren Konkubinen.

Womit ich endlich beim Nahfeld bin, das jeder selbst erkunden kann: in seiner Straße, in seinem Stadtviertel, in seiner Stadt. Dort kann er nämlich beobachten, wie die Befolgung ebenjener Ratschläge oder per Gesetz und Verordnung verfügter Zwangsmaßnahmen, die den Konsum reduzieren und den Planeten retten sollen, dazu führt, daß der Konsum sich einen heuchlerischen Ausweg schafft, in dem das Wegwerfen des nicht mehr benötigten Konsumguts als gute weltrettende Tat erscheint. Man kann dann mit bestem Gewissen Müll produzieren und in der Müllproduktion dokumentieren, daß man Erich Fromms Haben oder Sein internalisiert hat: Man läßt das jüngst gekaufte und gehabte Konsumgut los, und indem man es auf die Straße stellt und anderen zugänglich macht, wechselt man auf die Seite des reinen Seins und darf sich wie einst die Mystiker Gott nahe fühlen. Man hat etwas gelassen und darf nun gelassen dabei zuschauen, wie es von anderen in Gebrauch genommen wird, bis auch diese es eines Tages — vielleicht — ihrerseits lassen werden. Auf diese Weise darf sich der Gutmensch einbilden, er habe dem fatalen Kreislauf des naturzerstörerischen Extraktivismus den Kreislauf des gelassenen Verbrauchs von bereits vorhandenen Konsumgütern entgegengesetzt, bei dem die Konsumgüter allmählich und zuletzt der Konsum verschwinden werden.

Bis es soweit ist, steht der Müll — und immer mehr Müll — auf der Straße. Und damit jedermann klar wird, daß dieser Müll moralisch hochwertig ist, wird er in eine Kiste getan und diese mit der Aufschrift versehen: »ZU VERSCHENKEN«. Man beachte das Herzchen und führe sich vor Augen, daß dieser Müll von Herzen kommt:

Müll von Herzen [Herzensmüll. Photo: Uwe Jochum.]

Der Wiederverwendungszweck springt hier in die Augen: ausgediente Kinderschuhe, aus der die Kleinen viel schneller herauswachsen als den Eltern lieb ist, die dazugehörigen Kindersöckchen, ein Nuckelfläschchen und das passende Kinderbuch, auf daß der nachnutzende Kleine und seine Eltern sich gut unterhalten, während die mutterbrustschonende Ersatzmilch im Töpfchen aufkocht. Früher hätte man sich geschämt, sowas auf die Straße zu stellen, heute dokumentiert es die auch ohne Christentum praktizierbare Nächstenliebe, die den Gang zum Mülleimer hinterm Haus oder zum Wertstoffhof oder zum Second-Hand-Shop erspart. Und niemand wird mehr sagen können: »Räum den Mist gefälligst vom Eingang weg!« Denn jedem wird man fragend entgegenhalten, ob er denn kein Herz für Kinder habe.

Nun, die Sache ist keineswegs eine Sache für Kindersachen, deren schneller Verbrauch die Eltern immer schon geplagt hat, weshalb in früheren Generationen die jüngeren Geschwister auftrugen, was die Älteren schon angehabt hatten. Heute, angesichts zeitgenössischer Kleinfamilien mit alleinerziehender Mutter, gemeindet man die ganze Nachbarschaft als Ersatzfamilie ein und läßt die Nachbarskinder auftragen, was das Töchterchen wachstumsmäßig hinter sich gelassen hat. Das ist ein ziemlich schräges Bild von Nützlichkeit, denn es hat in der Regel die Rechnung ohne den Wirt und also die Nachbarn gemacht, die eben nicht Familie sind, in größeren Städten sowieso in ihrem Woher und Wohin unbekannt sein werden, also mit dem menschenfreundlichen Nachbarschaftsmüll nichts werden anfangen können. Das gilt erst recht für all das, was jenseits der Kindersachen noch vors Haus gestellt wird. Etwa dies:

Geistiger Müll [Geistesmüll. Photo: Uwe Jochum.]

Was hier reichlich lieblos in die Kiste getan wurde, sieht zwar auf den ersten Blick nach Lesestoff aus, aber auf den zweiten Blick zeigt sich: Das ist Geistesstoff höchstens für Kreuzworträtsellöser, die beim abendlichen Ausfüllen der Kästchen einen blau-roten Pullover mit Ärmelschoner tragen. Weshalb der auch gleich dabeiliegt. Man weiß ja nie, wen man damit beglücken kann. Und auch wenn das nach Lage der Dinge Niemand sein wird, darf man sich doch beim Packen der Kiste vorstellen, es könnte der fernreisende Odysseus sein, der hier vorbeikommt und erfreut nach Ithaka mitnimmt, was auf der Straße liegt.

Ganz abstrus wird die Sache, wenn man auf der Straße nicht nur durchgesessene Sitzmöbel findet (siehe oben), sondern auch noch Lampen mit Lüsterklemme, die in irgendeinem Wohn- oder Eßzimmer einmal die passende Beleuchtung gewesen sein mögen, nun aber auf der Straße jedem Vorbeigehenden angedient werden, auf daß sie Licht in seinen Alltag bringen. Wie hoch wird die Wahrscheinlichkeit sein, daß dieses Gelump in einen anderen Haushalt nicht nur paßt, sondern dort auch funktional und richtig leuchten wird? Ich weiß es nicht. Ich bin ratlos. Sehe aber, daß hier leuchternder Müll vors Haus gestellt wird, bei dessen Anblick es bei mir schlagartig ästhetisch dunkel wird.

Leuchtender Müll [Leuchtmüll. Photo: Uwe Jochum.]

Daß es sich bei diesen Phänomenen nicht um eine Art Unterschichtverhalten handelt, das dadurch erklärt werden könnte, daß in wirtschaftlich schwierigen Zeiten man dem Nächsten hilft, so gut man kann, weshalb man eben auch gebrauchsästhetisch durch die Finger schauen müsse, ergibt sich daraus, daß die hier bemerkte Praxis des moralisch verbrämten Müll-Loswerdens in jedem Stadtteil gefunden werden kann. In den einfachen wie in den wohlhabenden, in den Vierteln mit Mietskasernen wie in den Villenvierteln. Das spricht folglich eher für einen die ganze Gesellschaft treffenden Niedergang des ästhetischen Empfindens, es spricht aber vor allem für einen alle Stadtviertel und Gegenden Deutschlands bewohnenden Gutmenschen, der seine moralische Selbsterhöhung immer und überall über die Ästhetik stellen wird. Denn die Katastrophe des angedrohten Untergangs läßt niemandem Zeit für eine schöne Leich, und folglich darf auch das bessere Stadtviertel mit Müll moralisch aufgewertet und ästhetisch verschandelt werden, so wie hier in Konstanz im Stadtteil Staad, einem klassischen Ärzte-, Anwälte- und Beamtenviertel mit Einfamilienhausbebauung:

Unidentifizierbarer
Müll [Sammelsuriumsmüll. Photo: Uwe Jochum.]

Haben oder Sein hieß der Gegensatz, mit dem Erich Fromm in den 1970er Jahren im Anschluß an die mittelalterliche Mystik vor allem Meister Eckharts hantierte, um die Menschen auf einen besseren Weg zu führen. Ein halbes Jahrhundert später können wir lernen, daß der Verzicht auf das Haben keineswegs zu einem besseren Sein führt, sondern die öffentlich sichtbare Bekundung des »Lassens« den Müll wieder zu einem Bestandteil unserer Straßenbilder macht. Freilich so, daß wir jetzt den moralisch minderwertigen Müll trennen und verschämt in den Mülltonnen hinterm Haus entsorgen, während wir den moralisch hochwertigen Müll gänzlich ungesondert vors Haus stellen.

Müllmüll [Müllmüll. Photo: Uwe Jochum.]