Am 25. August 2023 plädierte in der Zeitung »Die Welt« der Militärtheoretiker Edward Luttwak dafür, den Krieg in der Ukraine von seiten der Ukrainer als »nationalen Befreiungskampf« zu führen, will sagen: alles zu mobilisieren, was sich an kampffähigen Männer mobilisieren läßt. Er kalkulierte dabei so: Für den Fall, daß sich nur fünf Prozent der ukrainischen Bevölkerung mobilisieren ließen, würden bei einer Bevölkerung von rund 30 Millionen anderthalb Millionen neue Soldaten herausspringen. Und er schloß: »Mit einer solchen Truppenstärke könnte die Ukraine ihre Schlachten gewinnen und ihr Territorium auf die altmodische Art und Weise befreien: in einem Zermürbungskrieg, so wie in den meisten europäischen Unabhängigkeitskriegen.«
Das läuft praktisch auf die Mobilisierung eines letzten Aufgebots hinaus, wie wir es in Deutschland aus der Endphase des Zweiten Weltkriegs kennen. Denn was Luttwak hier mit einer einfachen Prozentzahl — lediglich fünf Prozent, bloße fünf Prozent! — als leicht machbar und wünschenswert hinstellt, um die Ukraine wieder kampffähig zu machen, kippt bei näherem Hinsehen ins Unmöglich weg. Um das zu sehen, muß man kein Militärtheoretiker sein, es genügen einfacher Common sense und die Grundrechenarten. Versuchen wir es einmal damit.
Die Ukraine, so wissen wir, hat eine Bevölkerung von 30 Millionen. Bei einem Frauenanteil von, grob geschätzt, 50 Prozent, macht das 15 Millionen Männer. Davon sind — wenn sich westliche Durchschnittszahlen auf die Ukraine übertragen lassen — wahrscheinlich 30 Prozent unter 20 Jahren alt, kommen also als Soldaten nicht oder nur sehr bedingt in Frage, und 30 Prozent sind älter als 60 Jahre und sind als Soldaten zunächst auch einmal außen vor. Bleiben also von 15 Millionen Männern noch 40 Prozent, die als wehrfähig gelten können; das sind 6 Millionen. Von diesen werden mindestens 10 Prozent nicht verwendungsfähig sein, und mindestens 10 Prozent werden sich dem Wehrdienst durch Flucht ins Ausland entziehen. Bleiben, realistisch gesehen, nur noch rund 4,8 Millionen Männer übrig, die man in den Krieg schicken könnte. Das ist das Maximum, wenn man nicht mit Alten und Kranken und Kindern kämpfen will.
Nun sagt uns die Wikipedia, die ukrainischen Streitkräfte hätten 250.000 Mann aktiver Soldaten und 1.000.000 Reservisten (das waren die Angaben zu Kriegsbeginn). Das ist in der Summe ein Viertel der oben genannten 4,8 Millionen, die sich überhaupt mobilisieren und mit einer Waffe an die Front stellen ließen. Warum nur ein Viertel? Weil die anderen Dreiviertel Männer im besten Alter sind und anderswo ebenso benötigt werden wie an der Front: für den Betrieb der Kraftwerke, den Erhalt der Verkehrsinfrastruktur, die Verwaltung, die Krankenhäuser, die Schulen. Und weil ein kämpfendes Heer immer einen erheblich größeren Troß von Nichtkämpfenden braucht, die die Bewegung des Heeres organisieren und seine Versorgung sicherstellen. Kurzum: 4,8 Millionen Mann an der Front sind ein Ding der Unmöglichkeit, und die Wahrheit wird darin liegen, daß die Ukraine für den Krieg zwischen 1,25 Millionen Männer (jetzige Aktive plus Reservisten) und 2,5 Millionen Mann (die Hälfte der überhaupt Mobilisierbaren) zur Verfügung haben wird.
Luttwaks Zahlen liegen also durchaus im Bereich des Möglichen. Aber es ist ein Mögliches, das an der Grenze des Möglichen liegt und unmerklich ins Unmögliche übergeht oder bereits übergegangen ist. Denn was Luttwak verschweigt, ist die Anzahl der bereits jetzt gefallenen ukrainischen Männer, über die es natürlich nur Schätzungen gibt, denn beide Seiten, die russische und die ukrainische, haben ein Interesse daran, daß diese Zahlen nicht öffentlich werden. Es gibt jedenfalls Meldungen, in denen von 400.000 gefallenen Ukrainern die Rede ist. Sollte das stimmen, würden die Verluste jetzt schon die Anzahl der zu Kriegsbeginn verfügbaren Soldaten übersteigen. Und nimmt man die Maximalmobilisierungsmenge von 2,5 Millionen Mann, dann sind davon jetzt bereits fast 20 Prozent tot oder durch Verletzung kampfunfähig. Einsatzfähig sind auf ukrainischer Seite also nur noch zwischen 800.000 und maximal 2 Millionen Mann.
Wer an dieser Stelle rasch in der Wikipedia nachschaut, um sich darüber zu informieren, wieviele Soldaten Rußland hat und als Maximum mobilisieren kann — nämlich 1 Mio Aktive plus 2 Mio Reservisten plus 2–5 Millionen weitere Wehrfähige —, der wird zu dem Schluß kommen müssen, daß die Ukraine keine Chance hat, diese Krieg zu gewinnen. Sie ist faktisch ausgeblutet oder steht kurz vor der Ausblutung.
Wäre es um die Kampfmoral der Ukrainer wirklich so gut bestellt, wie die Propagandamedien uns einreden wollen, müßte Selenski nicht damit drohen, daß die Ausmusterungen, die es seit dem Kriegsbeginn gegeben hat, alle nocheinmal überprüft werden sollen. Und neuerdings bittet man auf ukrainischer Seite sogar darum, die fahnenflüchtigen Ukrainer auszuliefern. Das macht man nur, wenn einem die regulär zur Verfügung stehenden Männer ausgehen bzw. bereits ausgegangen sind.
In der neuen Nummer der Zeitschrift Tumult (Herbst 2023) hat der Althistoriker Egon Flaig einen lesenswerten Artikel zum Ukraine-Konflikt geschrieben.
Zwei Punkte fallen dabei auf.
Zum ersten, daß er in seiner Lageanalyse zwar auf die Zehntausende von Russen zu sprechen kommt, die aus Rußland geflohen sind, um dem Kriegsdienst zu entgehen, der ihnen seit der Teilmobilisierung droht. Aber er spricht mit keinem Wort von den Zehntausenden von Ukrainern, die sich aus der Ukraine abgesetzt haben, nicht um der möglichen Mobilisierung, sondern um der dort längst praktizierten Zwangsrekrutierung auf offener Straße zu entkommen. Videos, die solche Vorgänge zeigen, hätte er im Internet leicht finden können.
Zum zweiten ist es natürlich richtig, wenn Flaig schreibt, daß die Ukraine ein Recht auf nationale Selbstbestimmung habe. Das ist aber nicht die kriegsentscheidende Frage. Die kriegsentscheidende Frage ist vielmehr die, wie und unter welchen Umständen versucht wird, die nationale Selbstbestimmung gegen die Interessen anderer Staaten durchzusetzen. Das heißt, die kriegsentscheidende Frage ist die dem Krieg vorgelagerte Frage nach dem politischen Kalkül in einer konkreten Situation und nach der historisch-strategischen Perspektive, die für die Durchsetzung eines politischen Ziels relevant ist. Auf dieser Ebene geht es darum, ob man ein Ziel mit langem Atem über Generationen hinweg verfolgen will und kann, um kräfteschonend und möglichst konfliktfrei das Ziel zu erreichen; oder ob man der Meinung ist, angesichts einer momentanen Schwäche des Gegners könne man das eigene Ziel im Hauruckverfahren auf Kosten des geschwächten Gegners durchsetzen. Letzteres birgt zwei Gefahren: Zum einen die Gefahr der Fehleinschätzung, wenn sich nämlich herausstellen sollte, daß der Gegner stärker ist als gedacht; und zum andern die Gefahr des historischen Rückschlags, wenn der im Krieg überwundene Gegner wieder zu Kräften kommt und dann auf eine Revision der Lage hinarbeitet und dafür seinerseits Gewaltmittel einzusetzen bereit ist.
Es geht also um Geduld versus Hast, um langfristige Strategie versus kurzfristigen taktischen Gewinnen, um List versus schiere Gewalt, um Einbindung des Gegners versus Brüskierung, um Gewinn auf allen Seiten oder Verlust auf allen Seiten.
Der »Wertewesten« scheint hier, angeführt von den USA, sich für die Hast und schnelle Überwältigung des Gegners entschieden zu haben, den man seit Jahren politisch, ökonomisch und militärisch unter Druck setzt, offenbar mit dem besten Gewissen der Welt, denn man glaubt, die Moral auf seiner Seite zu haben. Dabei ist die »nationale Selbstbestimmung« die moralische Trumpfkarte, die die strategische Geduld ausgestochen hat. Man möchte alles, und man möchte es jetzt. Und man glaubt es haben zu dürfen, weil die Moral der zentrale Parameter des Handelns ist, der alles rechtfertigt, was der Moral zu entsprechen scheint, und alle anderen für konkretes Handeln relevanten Maßstäbe depotenziert. Das drängt selbstverständlich von der Logik her auf den Endkampf zwischen dem Guten und dem Bösen, auf ein Harmageddon, nach dem der Welt das ewige Reich des Friedens beschieden sein wird.
Auf dem Weg dahin wird der Gegner freilich an jedem Tag etwas mehr entmenschlicht und etwas mehr kriminalisiert, denn nur so, in der sukzessiven Zurechnung des Gegners zum schlechthin Bösen, kann das eigene Handeln auch dann, wenn es in bestimmten Situationen so böse ist wie das des Gegners, immer noch als gut erscheinen: weil es nur relativ böse ist, den bösen Umständen geschuldet, die, wenn sie denn anders gewesen wären, eine weniger böse Antwort ermöglicht hätten. So bleibt das eigene Böse als ein relatives immer eine Reaktion auf das absolut Böse, das vom Gegner ausgeht.
Politisch klug ist das nicht und kann es nicht sein, denn die Moral liegt auf einer ganz anderen Ebene als die Politik. Die Moral gibt die absoluten Maßstäbe, die Politik gibt die relativen Maßstäbe für ein situativ angepaßtes Handeln. Wer beides miteinander vermischt, verbiegt die Moral zu einer Heuchelmaschine, die ebenjene Werte als absolute ausspuckt, die von der Politik gerade jetzt, in dieser Situation gebraucht werden; oder er verbiegt die Politik zu einer absoluten Moralherrschaft, die kein Zögern und Zaudern, kein Abwägen und kein Seinlassen mehr kennt. Das ist die Situation, in der wir sind. Und eben deshalb wird sie von Woche zu Woche nicht besser, sondern schlechter und böser. Der gordische Knoten wird immer fester gezurrt. Bis dann, wir wissen nicht ob und wann und wie, einer auf die Idee kommt, ihn durchzuhauen.
Es gibt einen Ausweg aus der Lage. Er ist dort zu suchen, wo der Krieg nicht als finales Mittel zur Durchsetzung moralischer Ansprüche legitimiert wird, sondern dort, wo er heimgeholt wird in den politischen Kontext, in den er gehört. Denn seit Clausewitz kann jeder wissen, daß der Krieg die »Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln« ist, womit Clausewitz meinte: Der Krieg ist immer ein politischer Akt. Er wird daher nicht auf dem Schlachtfeld begonnen und dort auch nicht beendet, sondern in den Kabinettssälen, in denen die politischen Optionen vor dem Hintergrund langfristiger Überlegungen durchgespielt werden. Dort werden aus der absoluten Moral wieder die relativen Maßstäbe unserer Welt, also die Abwägung zwischen Schaden und Nutzen, zwischen Versöhnung und Haß, zwischen absoluter Moral und relativem Kompromiß.
Große Ziele kann und darf jeder haben, der einzelne Mensch so gut wie jeder Staat. Aber große Ziele begründen nicht immer auch großes Handeln, sondern schlagen allzugerne und allzuoft in kleinliche Maßnahmen um, die gegen die Widerständigkeit der Welt anrennen und jeden Sachwiderstand und jede widerspenstige Person mit Haß verfolgen. Große Ziele, mit anderen Worten, werden um so maßloser, je größer sie sind.
Um das, was hier zu bedenken ist, nocheinmal aus einem fernen Blickwinkel zu betrachten, muß man an einen Satz aus Meister Suns Kriegskanon erinnern:
»Optimal ist es vielmehr, eine Auseinandersetzung mittels Strategemen oder diplomatischen Mitteln ohne Waffengang zu gewinnen, so dass die Menschen einen solchen Sieg ohne Waffeneinsatz gar nicht wahrnehmen und natürlich auch kein Lob spenden.«
Die vorstehenden Überlegungen wurden zuerst auf Sezession in zwei Folgen veröffentlicht, die erste am 15. September 2023, der zweite am 18. September 2023. Ich danke Götz Kubitschek für das Interesse an den Überlegungen und den Lesern der Sezession für die Mitteilung weiterführender, korrigierender und kritischer Kommentare.