Vom Unterscheiden

Geschrieben von Uwe Jochum am 8.10.2023

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Es geht wieder los

Die bequemste Ausrede, um eine Debatte über die Unterschiede zwischen den Menschen und über die Konflikte, die sich aus Unterschieden ergeben, zu vermeiden, besteht darin, kurz und knapp und ungehalten festzustellen: »Alle Menschen sind gleich!«

Ja freilich, das sind sie. Sie sind es als Menschen. Das meint: Jeder Mensch gehört als Mensch zur Gattung Homo sapiens, egal, ob er groß oder klein, dumm oder klug, Mann oder Frau, Eskimo, Inder oder Europäer ist. Die Gattung freilich unterteilt sich in Unterarten, die man früher »Rassen« nannte und nun nicht mehr so nennen will, weil man nicht nur meint, das Wort sei durch den Nationalsozialismus, seine Eugenik und Rassenvorstellungen belastet, sondern weil man ebenfalls meint, die Sache der Rasse gebe es gar nicht. Also darf man sie nicht einmal mehr in Anführungszeichen schreiben.

Das ist natürlich falsch. Jede Gattung gliedert sich in Unterarten, und das gilt auch für den Menschen. Die Unterarten unterscheiden sich untereinander durch die artbildenden Merkmale, die sie in ihren verschiedenen Habitaten ausgebildet haben. Jeder, der sich nicht künstlich blind stellt, wird einen europäischen Typus Mensch sofort von einem ostasiatischen Typus unterscheiden können; und bei näherem Kontakt wird man nicht nur unterschiedliche Äußerlichkeiten, sondern auch unterschiedliche Verhaltens- und Denkweisen bemerken. Seit langem fließen solche erkennbaren Unterschiede in prägnante Kurzcharakteristika ein, in denen Menschen einer Unterart die Menschen einer anderen Unterart »Langnasen«, »Schwarze«, »Weiße«, »Schlitzaugen«, »Gelbe« oder »Rote« nennen. Das ist im Wortsinne tatsächlich »diskriminierend«, insofern das lateinische Wort discrimen »Scheidelinie«, »Trennung« oder »Unterschied« meint. Wer diskriminiert, der unterscheidet.

Das tun wir alle ständig. Und wir müssen es tun, um uns in unserer Welt zu orientieren. Wir unterscheiden die Straßenbahn, die die Haltestelle anfährt, vom Müllwagen, der an ihr vorbeifährt. Wir unterscheiden den Porsche vom Mercedes, und wir unterscheiden den E-Mercedes vom Diesel-Mercedes. Das alles tun wir, weil einige dieser Unterscheidungen alltagsrelevant sind, mal mehr, mal weniger: In die Straßenbahn möchte ich einsteigen, in den Müllwagen nicht; beim Porsche sollte ich wissen, daß er schnell sein kann, wenn ich sehe, daß er an einem Zebrastreifen auf mich zufährt; und bei den vielen Menschen, die mir begegnen, ist es relevant zu wissen, bei welchen ich eine friedliche Begegnung erwarten kann und welchen ich besser aus dem Weg gehen sollte.

Die Frage ist also nicht, ob wir unterscheiden sollten. Natürlich sollten wir es tun, denn anders werden wir nicht lange ohne Blessuren durchs Leben gehen. Die Frage ist vielmehr, ob wir beim Unterscheiden auch immer und überall Werturteile fällen sollten oder müssen.

Die Antwort lautet: In vielen Fällen müssen wir das nicht explizit tun; es genügt, schlicht und einfach die richtige, nämlich wirklichkeitsadäquate Unterscheidung getroffen zu haben. In manchen Fällen aber wird sich die Unterscheidung mit einer Wertung verbinden; vor allem dann, wenn wir die Erfahrung gemacht haben, daß sich mit bestimmten von uns unterschiedenen Dingen, Sachverhalten, Lebewesen und Menschen gute oder schlechte Effekte verknüpfen. Wer etwa die Erfahrung gemacht hat, daß Dackel durchaus hinterhältige Hunde sein können, wird das Urteil, das er sich gebildet hat — nämlich daß Dackel hinterhältige Hunde sind —, bei seiner nächsten Begegnung mit einem Dackel berücksichtigen; und wer mit Menschen einer bestimmten Unterart negative Erfahrungen gemacht hat, wird nach einer gewissen Anzahl solcher Erfahrungen selbstverständlich werten: »Mit denen nicht!«

Machen wir diese Menschen damit zu Unmenschen? Kommt darauf an. Wenn unser Unterscheiden etwas Wahres trifft (und das sollte es, denn das ist das Ziel des Unterscheidens), dann ist der getroffene Unterschied sachhaltig: Er hilft uns, uns zu schützen vor denen, die es nicht gut mit uns meinen.

Wenn wir uns aber in unserem Urteil von einem anderen Menschen so unterscheiden, daß wir alles, was zu unseren Eigenschaften gehört, für höherwertig halten als alles, was zu den Eigenschaften des anderen Menschen gehört, dann kippt das schnell in ein rein negatives Unterscheiden und also in ein Diskriminieren im schlechten Sinne. Denn das diskriminierende Unterscheiden verhindert gerade, daß wir durch das Unterscheiden näher an die Wirklichkeit heranrücken, mehr von ihr in mehr relevanten Hinsichten wahrnehmen und dann zu sachhaltigeren Schlüssen kommen. Das im schlechten Sinne diskriminierende Unterscheiden ist daher bequem, aber falsch.

Hinzu kommt, daß unser Unterscheiden nun zwar anhand von allerlei Erfahrungen mit anderen Menschen vorgenommen wird, wir aber insgesamt immer nur einer endlichen Zahl von anderen Menschen aus einer anderen Unterart begegnen. Diese Begegnungen können uns in Stand setzen, die typischen Merkmale einer Unterart wahrzunehmen; wir können aber auch schlicht und einfach und ohne es zu bemerken bei unseren Begegnungen ausgerechnet den übelsten Typen der anderen Unterart begegnet sein, so daß wir von den üblen Exemplaren auf die üble Unterart insgesamt schließen — was ein Fehlschluß sein kann.

Wie kommen wir da nun heraus? Sicherlich nicht, indem wir alles Unterscheiden und damit alles Diskriminieren bleibenlassen. Denn würden wir das versuchen, würden wir schlagartig unsere Wirklichkeitskompetenz verlieren: Wer zwischen einer Straßenbahn und einem Müllwagen nicht unterscheiden kann und/oder will, wird demnächst nirgendwo mehr ankommen; wer nicht zwischen freundlichen und unfreundlichen Menschenarten unterscheiden kann, wird womöglich bald von den unfreundlichen geschlachtet und gegessen werden, wie es zahllosen Missionaren in fernen Ländern geschah.

Worauf es vielmehr ankommt, ist einfach dies: Unterschiede machen, weil und wenn es notwendig ist; aber eingedenk der Tatsache bleiben, daß wir uns dabei vertun können. Also offen bleiben und vorsichtig sein. Beides. Denn letztlich dient das richtige Unterscheiden immer unserem Schutz.

Lebt man so, kann man Unterschiede erkennen und benennen, ohne sich etwas zu vergeben oder sich selbst und die Unterart, der man angehört, ohne weiteres für die Krone der Schöpfung zu halten. So zu leben wäre eine gute Übung in neugieriger Distanz und distanzierter Neugier, aus der in den besten Fällen und Momenten dann auch Nähe sich ergeben mag. Man darf nur nicht enttäuscht sein, wenn man nach einiger Zeit der Nähe entdeckt, daß die Unterschiede noch vorhanden sind. Und manchmal wird man dann feststellen, daß man besser wieder auf Distanz geht.

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In dem 1929 erschienenen Buch Heitere Tage mit braunen Menschen hat der einst berühmte Reiseschriftsteller Richard Katz ein interessantes Kapitel untergebracht, das den Titel trägt: »Der Niedergang der weißen Macht«. Darin schrieb er:

»Es ist der tragische Irrtum vieler kolonisierender Mächte, daß sie die Farbigen nach westlichem Vorbild ›erziehen‹ wollen. Es ist ein Irrtum, der begründet ist in der falschen Annahme, europäisches Niveau stünde höher als asiatisches. […]
Der Farbige steht nämlich nicht auf einem niedrigeren Niveau als der Weiße, sondern auf einem anderen. Ihn zur westlichen Zivilisation herüberzuziehen, heißt, ihm die Duldsamkeit seiner Rasse nehmen, ohne ihm statt ihrer europäische Denkart zu geben. Denn die ist ihm wesensfremd. Die Gedanken des Malaien oder des Inders, des Chinesen oder des Arabers verlaufen auf anderen Gehirnbahnen als die unsern.«

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Die kürzeste Version, die das Problem des richtigen Unterscheidens angesichts unserer aktuellen Lage auf den Punkt bringt, hat Peter Scholl-Latour vor einigen Jahren geliefert:

»Wer halb Kalkutta aufnimmt, der rettet nicht Kalkutta, sondern der wird selbst Kalkutta.«

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Und Scholl-Latour hielt ebenfalls fest: »Europa steht im Begriff, alle Voraussetzungen zu erfüllen, um eine leichte Beute der Barbaren zu werden.«

Wir werden zur leichte Beute, weil wir nicht mehr unterscheiden. Ein Großteil der akademischen Ausbildung an den Universitäten dient längst dem Ziel, den jungen Menschen das Unterscheiden — den Beginn und den Königsweg alles glückenden Lebens und aller Wissenschaft — abzugewöhnen. »Inklusion« ist das Zauberwort, mit dem das Ununterscheiden hoffähig gemacht werden soll. Aber das Zauberwort dient dem Versuch, »den Westen« (die alten weißen Männer und ihre Karens, die Intelligenten, die Kreativen, die Ingenieure und und und) zum Verschwinden zu bringen.

Was dagegen hilft? Nun, wir bekreuzigen uns — und fort ist der falsche Zauber.