Die große Vernachlässigung

Geschrieben von Uwe Jochum am 22.1.2024

Vom selben Autor:


Habeck, der Formlose


Uwe Jochum

Wissenschaftlicher Bibliothekar

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Wer in Deutschland an einen Bahnhof geht, wird dort die übliche öffentliche Tristesse finden: Die Wände der Unterführungen, die man für einen Wechsel der Bahnsteige benutzen muß, sind mit Grafitti beschmiert, es riecht nach Urin, die Bahnhofstoilette ist unbenutzbar und die Bahnhofsgebäude haben schon bessere Zeiten gesehen. Wer in Kreuzlingen, der Schweizer Nachbarstadt von Konstanz, den Bahnhof besucht, wird dort keine Grafitti an den Wänden finden, es riecht nicht nach Urin, die öffentlichen Toiletten sind benutzbar, und das Gebäude wurde samt den Bahnsteigen erst vor wenigen Jahren komplett saniert. Und in der Unterführung, die man auch in Kreuzlingen für den Bahnsteigwechsel braucht, steht in der Weihnachtszeit ein geschmückter Tannenbaum, der von Holzskulpturen umstanden ist, die brennende Kerzen vorstellen. Kurzum: Ein deutscher Bahnhof wirkt vernachlässigt, ein schweizerischer Bahnhof gepflegt.

Wer sich in Deutschland Bilder oder Videos von Staatsempfängen anschaut, wird feststellen, daß die Uniformen der Spalier stehenden Soldaten, wenn es sich nicht gerade um Marinesoldaten oder bayerische Gebirgsschützen handelt, in ihrem Feldgrau mit grünem Barett unförmig wirken und die Soldaten stets so aussehen, als seien sie nur zufällig und gezwungenermaßen beim Staatsakt anwesend. Wer sich dagegen Bilder und Videos französischer, niederländischer oder britischer Staatsempfänge anschaut, wird feststellen, daß dort nicht nur die Uniformen gut aussehen und perfekt sitzen, sondern das gesamte Zeremoniell den Stolz auf die eigene Geschichte und Kultur atmet und ebendieser Stolz dem Staatsgast auch vermittelt und in den Medien gezeigt wird.

Wer endlich sich die Mühe macht, die Reden unserer Minister anzuschauen, die von den ministeriellen Marketingabteilungen ins Internet gestellt werden, der wird eine merkwürdige Vorliebe fürs Hemdsärmelige und Aufgeknöpfte bemerken. Offenbar meint man und meint es besonders im Ministerium Habecks, daß Bürgernähe so etwas wie ein medienvermitteltes Plaudern im Privaten sei, bei dem man Anzug und Krawatte ablegen kann und sich auch nicht rasiert haben muß.

Ich habe mir die Mühe gemacht, das einmal auszuzählen: Von den 31 Videobotschaften, die Habeck seit Ende August 2023 über sein Ministerium verbreiten ließ, zeigen 20 Videos einen hemdsärmeligen, krawattenlosen und mindestens dreitagebärtigen Minister. Was immer uns Habeck mit dieser Selbstinszenierung sagen möchte, sie ist weit entfernt vom selbstsicheren und formvollendeten Auftritt seiner französischen, italienischen oder britischen Ministerkollegen. Dort weiß man offensichtlich noch sehr gut, was es bedeutet, ein öffentliches Amt zu bekleiden: Es bedeutet, die ästhetische Form auszufüllen, die das Amt verlangt. Hierzulande weiß man das offenbar nicht und geriert sich als eine Art ministerieller Privatmann, der am liebsten in Hausschuhen und unrasiert vor die Öffentlichkeit tritt. Was unter dem Aspekt der ästhetischen Form nur dann einen Sinn machen würde, wenn man zugleich erwartet, daß das deutsche Publikum dem Minister unrasiert und in Hausschuhen zuschaut.

Mit anderen Worten: In Deutschland hat man die politische Ästhetik abgeschafft, deren Aufgabe darin läge, die Identität des Staates in einem gepflegten öffentlichen Raum, in den Uniformen von Polizisten und Soldaten, aber auch im formvollendeten Auftritt der politischen Repräsentanten zum Ausdruck zu bringen. Und das wiederum heißt: Dieser Staat möchte nicht und kann nicht Politik machen, weder eine nationale noch eine internationale; er hat Politik ersetzt durch hemdsärmelige Aktionen, die ausagiert werden als sei man überall unter Freunden oder jedenfalls unter Gleichgesinnten, müsse sich also keinen Zwang auferlegen und könne auch durchaus etwas schlampig daherkommen, solange man nur die rechte Gesinnung zur Schau trägt.

Der Literaturwissenschaftler Karlheinz Bohrer hat diese Zustände bereits im Jahre 1990 in einer damals aufsehenerregenden Artikelreihe in der Zeitschrift »Merkur« beschrieben und kritisiert. Das Wort, das er damals fand, um das alles auf den Begriff zu bringen, lautete: »Provinzialismus«.

Ein Vierteljahrhundert später müssen wir sehen, wohin uns dieser deutsche Provinzialismus geführt hat. Wir müssen erkennen, daß der seither vorangeschrittene Abbau der Staatsästhetik nur der sichtbare Ausdruck einer voranschreitenden Vernachlässigung des öffentlichen Raums als eines allen gemeinsamen Raumes ist, in dem wir uns und unsere Werte und unsere Ästhetik und unsere Sprache wiederfinden können.

Und wir müssen erkennen, daß die Vernachlässigung des öffentlichen Raumes und der Staatsästhetik längst zu einem Auseinanderfallen dieses öffentlichen Raumes geführt hat. Wer bisher voller Illusionen meinte, er werde sich in diesem Raum alsbald gänzlich ungezwungen bewegen können, kann seit einiger Zeit die Erfahrung machen, daß er in dem vernachlässigten, verschlampten und formlosen Raum auch schutzlos ist.


Der vorstehende Text wurde auf Kontrafunk am 8. Januar 2024 in der Sendung »Kontrafunk aktuell« als Tageskommentar gesendet.