Aufheben

Teil 4 — Spurensuche

Geschrieben von Jürgen Schmid am 15.1.2024

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München[Wer kennt sie nicht, die schöne Stadt am Isarstrand — des Bayernlandes Städte­königin? Rauscht die Isar ihr uraltes Liedlein dazu, schön wie ein Märchen bist Du.]

Auf meinen Wegen durch München, oft ausgedehnte Stadtwanderungen, liegt eine ganze Reihe von »Riehl-Orten«, was mir sehr lange gar nicht bewußt war. Geht man aus dem grünen Haidhausen, am Kulturzentrum Gasteig vorbei, den »gachen [d.h. steilen] Steig« hinunter zur Isar und überquert diese auf Höhe der Lukas-Kirche hinüber zum Lehel, wo die »Besseren« wohnen, früher Ministerialbeamtenschaft, heute neubürgerliche Juppieschaft, trifft man auf die Maximilianstraße — und ist mitten drin im Riehl-Universum. Denn dieser Straßenzug, der von der Wittelsbacher Residenz im Stadt­zentrum hinausführt zum Maximilianeum, dem Landtag oben am Isarhoch­ufer, hat seinen Namen von König Maximilian II., dem Förderer von Wilhelm Heinrich Riehl — Vater der Volkskunde und Volkskundekönig, ein geniales Gespann.


Nachdem der vorherige Teil von »Aufheben« dem Denkweg Riehls durch seine Biographie gewidmet war, soll an dieser Stelle sein Nachleben beleuchtet werden, insbesondere jenes, in welchem dem wandernden Volkskundler Übles nachgerufen wurde. Es gilt zu ergründen, wer Interesse hatte, Riehls Denken in ein schlechtes Licht zu stellen, welches die Methoden dabei waren — und wie weit man dabei ging.

Bereits hinlänglich klar geworden sein dürfte, warum Wilhelm Heinrich Riehl den »Mächten der Bewegung«, die er für seine Zeit selbst treffsicher charakterisierte — ohne sie zu verteufeln, wie die Bewegten ihn —, als Person und mit seinen Ansichten und Schriften ein Dorn im Auge war und ist. Die »Progressiven« unserer jüngeren Zeitläufte haben dafür gesorgt, daß Riehls Stimme verstummt ist. Die Rezeption seines Werkes wurde bewußt abgeschnitten, und wo sie nicht verhindert werden kann, kommt das Mittel der Denunziation zur Anwendung.

Sicherlich wird bei mancher Mißgunst Neid im Spiel sein auf den unvergleichlichen Erfolg Riehls innerhalb und außerhalb der Universität, namentlich beim Publikum, zu dem und für das ein »echter« Wissenschaftler nicht zu sprechen hat. Riehl hat es getan — er fuhr mit der Eisenbahn kreuz und quer durch sein Vaterland, als »Lehrer in Deutschland«, mit hunderten von »Wandervorträgen« im Gepäck, die sein Biograph Geramb in Auszügen Revue passieren läßt, Volksbildung vom Allerfeinsten: »Im Semester lehre ich an der Münchner Universität und in den Ferien in Deutschland.«1 (Und nicht wochenlang den gleichen Vortrag, sondern an zehn Abenden in zehn Städten zehn verschiedene Themen!) Das verzeiht ihm der Zeitgeist nicht: Man hat das Volk nicht zu verstehen und mitzunehmen auf seine Gedankengänge, sondern zu belehren und umzuerziehen — und ist das Volk nicht willig, so braucht es Gewalt.

Wie lange die Liste ist, dessen jene »Gerichtshöfe der Moral, die keine Prozeßord­nung kennen« (Herrmann Lübbe), Riehl anklagen und prompt verurteilen! Sein konsequent konservatives Menschen- und Gesellschaftsbild; seine lebensnahe Orientierung an den Bedürfnissen des Menschen in allem Denken und politischen Fordern; sein Patriotismus (Glaube an die Nation!); seine harsche Stadt- und Zivili­sationskritik (präfaschistisch!); seine Kritik der Stubengelehrsamkeit (Nestbeschmut­zung!); sein Entwurf einer Großerzählung, was man als »echter« Wissenschaftler nicht zu unternehmen hat, sondern zu dekonstruieren, wo man solches vorfindet; seine Gläubigkeit in einem christlichen Sinne, wenn er von »göttlicher Vorsehung« und Gottes Ordnung spricht; seine Betonung von Naturgesetzlichkeiten, die ein »moder­ner« Wissenschaftler abzulehnen hat, weil alles Kultur, Sozialisation, Diskurs sei.


An dieser Stelle müssen wir München vorerst verlassen, um nach Tübingen zu blicken, den Ort, an dem seit den 1960er Jahre die Riehl’sche Volkskunde zerstört wurde, aus dem Ungeist der marxistischen Überhebung, einen »neuen Menschen« schaffen zu können — indem man behauptet, jede Wirklichkeit existiere nur im Diskurs darüber, der alles, was ist, im Sprechen darüber erst erschafft, weswegen man sich auch eine Welt errichten könne nach dem eigenen Bilde — und nichts und niemand zu achten brauche dabei. Dazu mußte erst einmal tabula rasa gemacht werden.


Hermann Bausingers bekennerhafter Aufsatz »Wir Kleinbürger« aus dem Jahr 1994 stellt im Untertitel das Programm seiner Tübinger Schule, die sich »Empirische Kultur­wissenschaft« (EKW) statt »Volkskunde« nannte, ins Schaufenster: »Die Unterwanderung der Kultur«.2 Der Sohn eines Bankdirektors und Möchtegern-Kleinbürger Hermann Bausinger (1926–2021) erzählt darin stolz, wie er diese Unterwande­rung als eine Art »Marsch­plan« für die »Usurpation« (sic!) der deutschen Volkskunde auf den Weg gebracht hatte. Tatsäch­lich fällt das Wort von der »Usurpation des Kultur­begriffs«, als Versuch, sich »Definiti­onsmacht anzueignen« über den »nationalen Temenos« der Kulturgüter, ein Angriff auf die »im geheiligten Raum auf- und ausgestellten kanonischen Kultur­güter«. Bausingers »Usurpation des Kulturbegriffs«, die jenen Begriff entsakralisieren und »demokratisie­ren« wollte, geht einher mit einer ostentativen Verachtung all dessen, was der Usurpator für kleinbürgerliches Denken hält. Ein Kollege, der sich über Wander­schäferei habilitiert hat, so anekdotisiert er mit angewidertem Unter­ton, sah sich der Demütigung einer Urlaubspostkarte ausgesetzt, auf der ihm jemand schrieb: »Immer, wenn ich Schafe sehe, denke ich an Sie!«3 Es schüttelt den Nicht-mehr-Kleinbürger-sein-Wollenden vor Ekel, wenn sich »Volk« so äußert, wie es sich eben äußert — was für ein Abstiegsweg aus jenen Augenhöhen, auf denen Riehl den Menschen zu begegnen versuchte auf seinen Wanderungen zum Volk.

Im Folgenden beschreibt Bausinger minutiös, wie er und seine EKW-Truppe alles dekonstruiert haben und sich angeeignet, was sie nicht dekonstruieren konnten. Er zeigt sich als Zyniker, dem nichts heilig ist und der für das Volk und sein Denken nur dünkelhaften Spott übrig hat. Mit Martin Walser sieht er »Kleinbürgertum definiert durch Enge, Provinz, Beschrän­kung«. »Walser denunziert das Kleinbürgerliche nicht« — der ihn zitierende Bausin­ger durchaus, wenn ihm die konkrete »Lebenswelt« des Volkes — im gewählten Bei­spiel ganz explizit diejenige seiner eigenen Mutter (!) — nicht mehr ist als »ein schmaler Ausschnitt, eingegrenzt auf Nischen, auf eine Reliktkultur, die nur in ideologischer Aufschwellung als eigentlicher und einzig legitimer Gegenpart der Hochkultur er­scheinen konnte.«4 Ist das der »Kulturstil« volkskundlicher »Akteure«, den Bernd Rieken charakterisiert hat als »das Bedürfnis eines ›kleinen‹ Faches, sich an den Mainstream, heutigentags den Konstruktivismus, anzu­schließen, um ernstgenom­men zu werden«?5

Jedenfalls beherzigt Bausinger in seinen »Kleinbürgern« nicht die Haltung, die Riehl lebte und zu der Pierre Bourdieu so unnachahmlich aufruft: »›Nicht bemitleiden, nicht auslachen, nicht verab­scheuen, sondern verstehen!‹ […] Um zu einem verstehenden Nachvollzug der Arten und Weisen [zu gelangen], in denen der ›Andere‹ denkt und handelt […], bedarf es der Kenntnis seiner wesentlichen sozialen Merkmale, d. h. seiner Position im Sozialraum. […] Bourdieu hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß es darum gehen muß, eine Person ›in ihrer inneren Notwendig­keit‹ zu begreifen bzw. die ›intellektuelle Freude‹ [… zu empfinden] an einem so tief wie möglich gehenden Verstehen bzw. Er­gründen einer anderen Person und einem Nachvollzug der Gründe ihres ›Andersseins‹ […]. Dieses ›Verstehen‹ ist nicht nur intellektueller Nachvollzug, sondern auch Quelle gesellschaftlicher Solidarität.«6

»Die Volkskunde ist eine Wissenschaft vom ganz Kleinen, die so gern über das große Ganze reden würde.« In dieser Tonlage hebt 1999 eine Suada über die in Halle ver­sammelten deutschen Volkskundler an, die Richard Kämmerlings in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung als »Plapperkrähen« klassifiziert — verbunden mit der rhetorischen Frage: »Wer braucht die bunten Vögel?«7 Beim Bayerischen Volkskundlertreffen in Augsburg im Februar 2000 hat der Passauer Ordinarius Walter Hartinger, ein äußerst angenehmer Konservativer, diese Frage zwar pointiert zur Diskussion gestellt, ein wirkliches Bedürfnis nach Klärung sah die Runde seinerzeit aber nicht.

Fragesteller Kämmerlings (*1969) hatte Germanistik, Geschichte und Philosophie in Köln und Tübingen studiert — und damit Bausingers Institut aus eigener Anschauung gekannt, als er 1999 — frisch aus Tübingen entlassen — seine Generalabrechnung mit einer akademischen Disziplin als 30jähriger Journalist durch­aus wohlinformiert ins Werk setzt: »Weil die Volkskunde mit ihren althergebrachten empirischen Anbau­methoden nur schmale Felder bestellen kann, entlehnt sie den angrenzenden Nach­bargütern der Soziologen oder Ethnologen schon einmal einen schneidigen Pflug. Vor einigen Jahren hat sie auf Pump einen Mähdrescher Marke Konstruktivismus angeschafft, den sie immer noch abbezahlt. Allerdings darf man nicht vergessen, das Feld forschend zu beackern. Sonst bleiben vor allem Phrasen zu dreschen.«

Installation[Warum das Schöne suchen, das so nahe liegt, wenn das Neue auch so häßlich sein kann … »Installation« mit einem Turm blauer Blechfässer als Leistungsschau des Münchner Berufsverbandes Bildender Künstler für das Jahr 2022 in den Räumen des ehemaligen bayerischen Nationalmuseums, das König Maximilian II. erbaute und dem Wilhelm Heinrich Riehl als Direktor vorstand.]

Welche Ähren schneidet der »Mähdrescher Marke Konstruktivismus«? »Daß das Natürliche stets ein ›soziales Konstrukt‹ ist, daß gar die Naturgesetze selbst nicht ›entdeckt‹, sondern um eines sinistren Machtanspruchs willen von den ›exakten Wis­senschaften‹ zusammengestoppelt wurden, haben Kulturwissenschaftler offenbar mit der Muttermilch aufgesaugt.« Vor den ersten Vorträgen »wurde noch einmal für alle zum Mitbrummen das konstruktivistische Credo vorgebetet. […] Die Begriffspolizei klopft dem auf die Finger, der unbedacht irgendetwas für natürlich halten mag.« Dieser Jemand war 1999 in Halle Andreas Hartmann, wenngleich sein Beitrag alles andere als unbedacht war. Bernd Rieken rekonstruiert den Skandal, den »Biologie der Kultur« mit seiner tiefgreifenden Kritik am Konstruktivismus ausgelöst hat.8

»Hartmann befaßt sich in seinem Aufsatz mit der Frage, warum humanbiologische Erkenntnisse in der Europäischen Ethnologie nicht nur nicht wahrgenommen würden, sondern ihnen auch mit Ablehnung begegnet werde. Er gibt darauf drei Antworten:

Erstens nennt er die Tabula-rasa-Metapher, nach welcher der Mensch gewissermaßen als unbeschriebenes Blatt auf die Welt komme und ›in unsere von Haus aus kulturell gestaltete Welt hineingeboren [werde], weshalb restlos alles, was uns ausmacht und voneinander unterscheidet, dem Zuschnitt der Kultur und unseren sozialen Chancen in der Kultur geschuldet sei‹. Diese Vorstellung werde ›unter anderem von der über­spannten Befreiungsphantasie einer aufgeklärten Vernunft‹ gespeist, entbehre indes jeglichen empirischen Beweises. Darüber hinaus sei darin jene frühneuzeitliche Welt­anschauung enthalten, nach welcher ›die große Kette der Wesen [konstruiert ist] als eine erschaffene und noch nicht als eine evoluierte Ordnung [...]. Dank seiner ver­meintlich einzigartigen Kultur- und Vernunftfähigkeit [läßt der Mensch sich] zugleich als dem Tierreich vollständig entwachsenes, biologisch geschichtsloses Sonder­wesen‹ betrachten.« Die Tabula-rasa-Metapher stehe »in der Tradition der Aufklärung und ist in weiterer Folge auch und gerade für den Marxismus konstitutiv.«

»Zweitens betont Hartmann die Folgen ›des naturalistischen Fehlschlusses‹, der darin bestehe, hinter der Frage nach der Bedeutung des Angeborenen ›die Fratze antihu­maner Verwerflichkeit [zu] erblicken‹ Er hält dem entgegen, daß in der biologischen Fachliteratur nirgendwo eine ›Rechtfertigung von Barbarei und Rassismus‹ aufzu­finden sei. Da indes kaum Gesellschaften ohne Xenophobie existierten, könne man sich fragen, ob es sich dabei um eine Universalie mit biologischen Grundlagen hand­le.[Anmerkung J. S.9] Damit werde keinem Determinismus und keiner antihumanen Haltung das Wort ge­redet — ganz im Gegenteil, da die Beachtung verborgener Verhaltens-Bereitschaften auf die diesbezügliche Verantwortung des Menschen hinweise und Verantwortung ein zutiefst kulturelles Phänomen sei.

Drittens habe sich in weiten Teilen der Forschung ›der Fokus von den Dingen und den Menschen, wie sie real beschaffen sind oder beschaffen sein könnten, auf das Imagi­näre verlagert, darauf, wie die Menschen sich die Dinge und ihre eigene Existenz vor­stellen‹. Zwar sei dadurch die Kulturforschung für die Macht des Symbolischen, der Diskurse sowie für die kulturelle Bedingtheit der Wahrnehmung, des Verhaltens und des Denkens sensibilisiert worden, doch wenn die Wirklichkeit als ausschließlich kon­struiert betrachtet werde, dann wären Welt und Mensch reine Erfindungen. Das führte in eine metaphysische Sackgasse, weil man sich sofort fragen müßte, um wessen Er­findung es sich dabei handelte. Darüber hinaus ginge man jeglichen Bezugspunktes in der Realität verlustig, und ferner werde der Relativismus [Anmerkung J. S.10] totalisiert, der Kreationismus hätte dann den gleichen Wert wie die Darwin’sche Theorie.«

Konnte man diesen Frontalangriff des Kollegen Hartmann auf die Hausheiligtümer der Empirischen Kulturwissenschaft noch mit fachinternen Disziplinierungsattitüden abwehren, hatte man der schroffen Kritik, wie sie Kämmerlings in der FAZ unerbittlich der Öffentlichkeit vortrug, wenig mehr als betretenes Schweigen entgegenzusetzen.

»Nachdem sich die Historiografie längst für Alltags- und Mentalitätsgeschichte geöffnet hat und die Germanistik sich zur Kulturwissenschaft aufplustert, scheint die Volkskunde mit dem kulturalistischen Paradigma ihr letztes materiales Unterschei­dungskriterium zu verlieren. Es bleibt allein das Handwerkszeug der Feldforschung, das immer mehr Wissenschaftler ausschlagen [Anmerkung J. S.11] — im günstigen Fall für ein solides Quellenstudium, im ungünstigen für eine Lehnstuhlanthropologie mit Hilfe von Suchmaschinen im Internet. [Riehls »Stubengelehrsamkeit«] So droht eine Mischung aus Multikulturalismus und Beliebigkeit, wie sie die amerikanischen Cultural Studies bereits dominiert. […] Als empirisches Korrektiv soziologischer Abstraktionen könnte die Volkskunde dagegen unentbehrlich bleiben.« (Würde sie nicht selbst als Möchtegern-Neben- und Reserve-Soziologie immer mehr versoziolo­gisieren und damit ihrer Korrektivfunktion total verlustig gegangen sein.)


Zurückgekehrt nach München wandern wir weiter die Maximilianstraße hinab Richtung Stadtzentrum. Wir gelangen ans Bayerische Nationalmuseum — und müssen an diesem untrennbar mit dem Namen Riehl verbundenen Ort darüber nachdenken, wie sehr die Volkskunde ihre Obsession auslebte, sich von ihrem Begründer abzunabeln, sich von ihm zu distanzieren, ihn zu stigmatisieren als »umstrittene Gründerfigur«,12 letztlich auszugrenzen und mundtot zu machen.


Die vielleicht idiotischste unter allen Riehl-Verunglimpfungen sei vorangestellt: Eine Dissertation über »die Riehl-Rezeption« aus den 1990er Jahren verstieg sich zu haarsträubenden Thesen — Riehlsche Kategorien wie »Volk« oder »Nation« seien nichts weiter als »historisch-soziopsychologische Ideologeme«, während »Bauerntum«, »Familie«, »Mann und Frau« gar »pathogene Substanz« aufwiesen — allen voran jener, die im Titel aufscheint: Volkskunde auf dem Weg ins Dritte Reich. Riehl wird kurzerhand angeklagt für »Positionen, die auf dem Weg in den National­sozialismus rezipiert wurden und letztlich dazu dienten, nationalsozialistische Ideologie historisch zu legitimieren«.13 Der Prä-Faschismus lauert in einer solchen Lesart überall, als »Keim« etwa in Hamsuns Mysterien in den faschismusfernen 1890er Jahren (so Helmut Karasek im »Literarischen Quartett« 1995, live gesendet aus dem Augsburger Hotel »Drei Mohren«, das jetzt »Maximilians« meint heißen zu müssen; ab Minute 48:30), bei Riehl ums Jahr 1850, manche orten den »Keim« schon bei Luther — und irgendwann wärmt man sich in einer altsteinzeitlichen Höhle auf der schwäbi­schen Alb am präantifaschistischen Feuer, wo hellwache Faschismus-Detektoren endlich den Urkeim entdeckt haben…

Schelling[Auf einen Münchner Denkmalsockel schaffte es Wilhelm Heinrich Riehl nicht, jedoch in jenen hochillustren Kreis von Königsberatern, dem Maximilians Vorzeigephilosoph Schelling angehörte, welcher im Jahr 1854 starb, als Riehl an den Königshof berufen wurde. Maximilian II. ließ vor »seinem« Nationalmuseum in der Maximilianstraße,14, das Riehl von 1885 bis zu seinem Tod 1897 leiten sollte, ein Denkmal aufstellen — »Schelling, der große Philosoph«.]

Es gab aber auch eine Zeit, wissenschaftsgeschichtlich betrachtet ist sie noch gar nicht solange vergangen, als diejenigen, die zu Riehls musealen Nachfolgern ausge­bildet wurden, noch wußten, wer ihr Vorgänger war. Für den Münchner Volkskunde-Ordinarius Leopold Kretzenbacher (1912–2007) ist es 1970 selbstverständlich, in seinem Seminar »Persönlichkeiten, Methoden und Ergebnisse europäischer Volks­kundeforschung« »Land und Leute bei Wilhelm Heinrich Riehl« von seiner Muster­schülerin Nina Gockerell (spätere Konservatorin am Bayerischen Nationalmuseum) referieren zu lassen, an der Seite von »Wilhelm Mannhardts Versuch zu einem Urkundenbuch der Volkskunde-Überlieferungen« und — aus damals neuester Zeit — »Hans Mosers und Karl-Sigismund Kramers Forschungen zu einer exakten Geschichtsschreibung der Volkskultur«. Von Kretzenbachers Schüler und Nachfolger Helge Gerndt wissen wir, daß auch er — noch 1982 — Riehl unter »Bedeutende Volkskundler und ihr wissenschaftliches Werk« subsumiert, neben (u. a.) Johann Gottfried Herder, Jacob Grimm, Wilhelm Mannhardt, Sir James George Frazer (The Golden Bough), Adolf Spamer, Richard Weiss, John Meier, Otto Lauffer, Rudolf Kriss, Mathilde Hain, Will-Erich Peuckert.

Dabei muß für diese Zeit schon konstatiert werden, daß es im Bibliotheks­bestand der Ludwig-Maximilians Universität München (LMU) über alle Fachbibliotheken hinweg mit Neuerwerbungen von Riehliana aus der Nachkriegszeit immer dünner wird: Der Novellenband Der stumme Ratsherr (d. i. Riehls Hund Thasso, ein schottischer Schäferhund), bei Reclam, ist 1959 die letzte Neuauflage in einem großen Verlag, welcher der Erwerbung für Wert befunden wird. Es folgen auf dem Weg an die Münchner Universität nur noch einige lokale Nachdrucke zu Regionalgeschichtlichem: Die Pfälzer, bei Lincks-Crusius in Kaiserslautern (1964), Drei Wunder von Kevelaer (1986) und Ein Gang durchs Taubertal, besorgt von den Fränkischen Nachrichten in Tauberbischofsheim (1986).

Nach dem Umzug des Volkskunde-Instituts von der Ludwigstraße unmittelbar am Universitätshauptgebäude ins ehemalige Sendestudio von Radio Free Europe am Englischen Garten, in Rufweite zum größten Biergarten der Stadt am Chinesischen Turm, übernahm eine amerikanische Gesamtstandortbibliotheksleiterin die »Fachbib­liothek Englischer Garten«, ein Multikultimischmasch aus ehedem eigenständigen Institutsbibliotheken, wozu neben der Volkskunde, die sich jetzt in rascher Abfolge von »Deutsche und vergleichende Volkskunde«15 (als einzig sinnvoller und substanti­eller Fachname) umbenannte in »Volkskunde / Europäische Ethnologie« (wobei man sich in der Nicht-Instituts-Öffentlichkeit schlicht als »Ethnologe« bezeichnete) und schließlich »Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie«,16 auch die Völkerkunde gehört, die sich Ethnologie nennt und die Japanologie, die merkwürdi­gerweise immer noch Japanologie heißt, aber auch — neben Politik- und Kommunika­tionswissenschaften — Informatik, Computerlinguistik und Biomolekulare Optik.

Maximilian
II.[Bayerns Volkskundekönig Maximilian II. auf dem Sockel in »seiner« Münchner Maximilianstraße am Kreuzungspunkt von Klassik und Moderne — links das alt­ehrwürdige Humanistische Wilhelmsgymnasium mit einer Schulbibliothek, deren Bestände in die Renaissance zurückgehen, wo zu Wittelsbacher Monarchenzeiten die Schüler des Kadettenkorps unterrichtet wurden, die in Maximilians II. Stiftung, dem Maximilianeum, zur »Hebung des monarchischen nationalen Volksgeistes« errichtet, oben am Isarhochufer wohnberechtigt waren; rechts der schuhschachtel­förmige Verwaltungsneubau der Bayerischen Versicherungskammer.]

In diesem Umfeld verschwindet Riehl langsam aus den Regalen des Freihand­bestandes, damit aus Blick und Sinn der Studenten, die jetzt Studierende heißen (oder noch Blöderes), nachdem er aus den Lehrplänen auch verabschiedet wurde. Das Schicksal von Riehls epochemachendem Vortrag »Die Volkskunde als Wissen­schaft« aus dem Jahr 1858 ist dabei Exemplum. Denn man würde meinen, das LMU-Volkskunde-Institut, das dieser Gründungsinitiative seine Existenz verdankt, hätte den Vortrag in Ehren zu halten. Weit gefehlt — die Ausgabe »Tübingen: Laupp, 1935« mit der Bibliothekssignatur »1211/Vka 688« verstaubt im lichtlosen Magazin, während der Text im LMU-Historicum und in der Bibliothek für Bayerische & Deutsche Rechts­geschichte im Freihandbestand zugänglich ist. Am Umfang kann die Verbannungs­aktion nicht liegen, 48 Seiten sollten auch in der kleinsten Bibliothek Platz finden.

Hier zeigt sich die Notwendigkeit eines Aufhebens in mehrfacher Weise: Der Begründer einer eigenständigen Wissenschaft von der Volkskunde wurde in Gestalt seiner Bücher aussortiert, auf dem Buchmarkt wie universitär, sein Fach hat sich von ihm inhaltlich verabschiedet, bevor es sich von sich selbst verabschiedete, es existiert schlicht nicht mehr, weder namentlich geschweige den in Substanz und Wesen. Die Austreibung des Volkes aus der Volkskunde ist inzwischen vollendet.

Was hatte nun Helge Gerndt, bis 2003 ein Nachfolger Riehls in der Münchner akademischen Volkskunde, bei seinem »Abschied von Riehl« an seinem Vorgänger auszusetzen?

Riehl habe keine »abgesicherten Ergebniskomplexe« hinterlassen17 (gibt es so etwas in der Wissenschaft?), sein »Denken« sei »banal« bis »abstrus«, seine Thesen »intuitiv« statt »analytisch«, sein Werk lebe »von der Antithese«18 — Waldland und Feldland, unwegsame und verkehrsreiche Gebiete, Stadt und Land. Gerade bei der Antithese Stadt vs. Land ist es geradezu frivol, dem Beobachter dessen, was so gewollt ist im »Werken und Wirken« (Kretzenbacher) der Menschen, einen Vorwurf zu machen. Die Stadt ist steingewordene Antithese gegen das Land. Man lese nur die Quellen des Alten Orient, wo sich die ältesten Städte der Menschheit in nahezu panischer Angst abgrenzen gegen »das Land« draußen, gegen ein Überranntwerden durch »Berg­völker« und jene Menschengruppen, die in der Steppe siedeln — der Alte Orient schuf in Mesopotamien einen »Garten in Eden«, weil »Eden« die unwirtliche Steppe ist und nicht der grüne Garten, wie es die Bibel will.

Außerdem ist dem Vorwurf, Riehl denke zu sehr in Gegensätzen zu entgegnen: Wie sollte er sonst sein Material ordnen, wie sollte man sonst Unterschiede — Riehl übt ja »Kritik« im ursprünglichen Sinne, und das heißt »Unterscheiden« — erkennen und herausarbeiten? Ein moderner Wanderer durch Bayern, der BR-Filmemacher Dieter Wieland, hat die kritische Unterscheidung zum unverwechselbaren Markenzeichen seines Engagements für das bessere Bauen im Land gemacht, indem er stets das Schöne herausarbeitete, indem er es dem Häßlichen gegenüberstellte.

Oft liest man, auch bei Gerndt, Riehl wäre abseits der Forschung gestanden und hätte keine Sekundärliteratur verwendet. Belegt ist tatsächlich eine Abneigung gegen reine Stubengelehrsamkeit, aber der Vorwurf läuft ins Leere, denn in den Hand­werksgeheimnisse[n] des Volksstudiums legt deren Verfasser ausführlich dar, wie wichtig bei jeder Feldforschung das Hinzuziehen und Lesen von Literatur als Vor- und Nachbereitung des Wanderns ist.19

Helge Gerndt muß man zugute halten, daß er noch 1997, nach seinem »Abschied von Riehl«, seinen Studenten zwei von dessen Arbeiten zur Lektüre empfiehlt: Unter »Exemplarische Monographien« Die Pfälzer. Ein rheinisches Volksbild (1857) als das neben Jacob Grimms Deutscher Mythologie (1835) älteste aufgelistete Werk und im Methodenkapitel die Handwerksgeheimnisse von 1869.20 Gerndt selbst war dann schneller vergessen als der »alte Riehl«, als nur wenige Jahre nach dem Abschied des Doyens deutscher Volkskunde vom Katheder kein Student in München mehr mit seinem Namen etwas anfangen konnte.

Sein Nachfolger räumte ihn und seine Werke komplett und geräuschlos ab, einen »Abschied« in Aufsatzform, wie ihn Gerndt seinem Vorläufer Riehl widmete, erhielt er selbst nicht. In meiner Philippika über die feindliche Übernahme des Münchner LMU-Volkskunde-Instituts seit 2006, welches weit hinten im Gedächtnis der Zeitschiene immerhin auf Riehl als einen Gründungsimpulsgeber zurückblicken kann, habe ich hier auf diesem Blog die Perfidität beschrieben, wie jene linksgrünen Aktivismus­wissenschaftler die Auslöschung der Erinnerung besorgten:

»Spätestens 2013 war ein Stadium der Damnatio memoriae erreicht, in dem selbst fortgeschrittene Studenten mit dem Namen Helge Gerndt nichts mehr anfangen konnten. Nach einem Vortrag, zu dem der Emeritus zehn Jahre nach seinem Ab­schied als Zuhörer gekommen war, unterhielten sich drei Studenten aus dem dritten Semester Bachelor (sprich: Halbzeit auf dem Weg zum Abschluß) über das Gehörte. Eine sagte, ihr hätte nicht gefallen, daß irgend so ein alter Mann das Wort ergreifen mußte mit so einem Schmarrn. Ein anderer meinte, im Gegenteil hätte er das als die beste aller Wortmeldungen empfunden. Und die dritte murmelte, sie hätte es sowieso nicht verstanden. Auf die Frage, ob sie denn nicht wüßten, über wen sie da diskutier­ten, zuckten alle Drei mit den Schultern. Gerndts ›Studienskript Volkskunde‹ von 1997 fand zu diesem Zeitpunkt in den Grundkursen keine Erwähnung mehr. Volkskundler ventilierten jetzt Theorien von Soziologen und Politologen. Sollte es in München noch Studenten geben, die Gerndts Vorgänger Leopold Kretzenbacher nicht für einen angesagten DJ aus der Wiener Post-Beat-Ära halten, wäre das verwunderlich.«

Zurück zu Gerndt und seinem Hauptkritikpunkt: Riehl entspräche nicht den Stan­dards wissenschaftlichen Denkens. Dabei übersieht der Kritiker, daß der Kritisierte das, was ihm vorgeworfen wird, bewußt so handhabte, wie er es tat, weil er »Stuben­gelehrsamkeit« ablehnte, womit Riehl nicht nur meinte, daß solcherart Gelehrte nicht feldforschend wanderten wie er, sondern auch ihre Denkart selbst und die Art und Weise, ihre Ergebnisse schreibend zu vermitteln. (Der vorerst letzte Münchner Riehl-Nachfolger verstieg sich gar dazu, das »Schreiben« selbst in der Öffentlichkeit nicht als »Schreiben« zu bezeichnen, sondern davon zu sprechen, man würde etwas »in den Modus der Repräsentation überführen«.) Riehls Ideal war, ein »Bild« zu zeichnen, »das atmet«, sehr zu Gerndts Verdruß: »Ein jeglicher will aber gemeiniglich nur das Leben im Volke ehren, was in die fertige Form seiner vorgefaßten theoretischen Meinung paßt.«

Nun habe ich selbst erlebt, wie nach der feindlichen Übernahme des LMU-Volks­kunde-Instituts in den ersten beiden Semestern »Theorie« vermittelt wurde, auf daß die Studenten im dritten Semester, als es von der Theorie endlich in die Praxis, sprich: Feldforschung ging (also der exakt verkehrte Weg beschritten wurde) einer­seits irritiert, andererseits erleichtert feststellten, daß es »da draußen« Menschen gibt, mit denen man sprechen kann.

Der Kurs »Kulturtheorien I« begann 2010 für Erstsemester nach zwei Wochen Uni­versität aus dem Nichts mit Max Webers Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, was ein gestandener Professor im Doktorandenkolloquium eine harte Nuß nannte, wolle man die Studie wirklich knacken. Eine Woche später ein Referat zu »Soziogenese und Zivilisation« nach Norbert Elias’ Prozeß der Zivilisation, gefolgt von Funktionalismus gemäß Malinowski, Bourdieus Habituskonzept, Theorie der Disziplinargesellschaft mit Foucault, schließlich unvermeidliche »feministische Ansätze«, die nicht einmal einen Klassiker aufzuweisen scheinen. In einer volks­kundlichen Einführung zu volkskundlichen Kulturtheorien wird kein einziger Volkskundler vorgestellt, sondern Soziologen und Ethnologen, sprich: Völkerkundler. Ein Fach, dessen akademische Karriere mit Riehls »ehrfurchtsvoller Hingabe« und »begeisterter Liebe« zu seinem Gegenstand, dem Volk begann, schafft sich ab!

Nachdem die Volkskunde-Studenten diese zweisemestrige Folter durchlaufen hatten — Folter nicht deshalb, weil die angebotene Lektüre schlecht gewesen wäre, sondern weil Anfänger diese schlicht nicht einordnen können — kamen sie in meine Kurse, wo »Begegnung mit dem Volk« obligat war, etwa in den »Berufsethnographien« oder bei »Handwerk im Wandel«. Dabei mußte man den jungen Leuten zunächst die Angst vor diesen Begegnungen nehmen (kein Witz!), sodann mühsam zu erklären versu­chen, daß jede »Theorie« nur Ausfluß dessen sein kann, was »draußen« realiter abläuft — und daß Theorie und Empirie keine getrennten Sphären seien, sowie jede »Theorie« stets und unausweichlich aus der Empirie abgeleitet sein müsse (oder nicht bzw. Mist ist). Hätte man sich nicht vorschnell von Riehl »verabschiedet« — solche Mißverständnisse wären nie aufgekommen.

Schließlich stoßen sich viele an Riehls essayistischer bzw. journalistischer Sprache, auch Gerndt, der diesem vorwirft, ein »sprachlicher Magier« gewesen zu sein, von dem man sich lösen müsse, um vorstoßen zu können — ja gar, um »frei« zu sein — »zu jenem klaren, argumentativen Denken, das einem modernen Wissenschaftsstandard entspricht«.21 Bereits zu seinen Lebzeiten hatte sich der solcherart kritisierte »Magier« mit Anwürfen dieser Art auseinandersetzen müssen: »Ein Gelehrter meinte, ich habe mir etwas vergeben, indem ich zur Novelle hinabge­stiegen sei; ein Poet dagegen, es sei eine Anmaßung, daß ich mich zu den Novellen hinaufdrängen wolle«22 — womit er zwischen alle Stühle gesetzt wird. Georg R. Schroubek, einem der Münchner Riehl-Nachfolger in der Volkskunde, erging es ähnlich — viele seiner glänzenden Studien, etwa zum sozial geschichteten Leben in Prag, fanden seine »verehrlichen Fach­kollegen unwissenschaftlich, feuilletonistisch, und das ist ein schweres Verdikt«. In Schroubeks, quasi auch in Riehls Institut, hörte ich als Lehrbeauftragter um 2006 ff. ähnliches: Journalisten, wie es Riehl einer von Gnaden war, würden eben »anders«, sprich: minderwertiger schreiben als gediegene Wissenschaftler. Bereits ein Münchner Nachkriegs-Volkskundler wie Hans Moser monierte, Riehls Sprache wäre voller »journalistische[r] Phrasen« (oder dem, was er dafür hielt). Die Zeiten ändern sich, manche Vorurteile aber nicht mit ihnen.

Wer sich nicht dem strengen Diktat der Wissenschaftssprache unterwirft, verfällt der Feme, so war es und so ist es im akademischen Getriebe dieses Landes. In einem meiner Seminare hatte ich 2008 den SZ-Autor Andreas Bernard, zu Gast, selbst gelernter Kulturwissenschaftler, sehr zum Wohlwollen der Studenten. Ich schlug in der »Lehrendenbesprechung«, wie es damals idiotischerweise schon hieß, vor, jemanden wie ihn für das Institut zu engagieren, um den Studenten gutes Schreiben näherzubringen. Abgelehnt. Man könne es selber besser, »wissenschaftlicher« eben, als ein »Journalist«, wie betont wurde. Ergebnis: Eine Ausstellung über Migration nach München, organisiert als Lernforschungsprojekt am LMU-Volkskunde-Institut, zeigte eine »Video-Installation ›Rap vom Rand — Representing 089 meine Stadt‹ von [einigen Studenten], die Münchner Hip-Hopper […] gebeten haben, auf wissenschaft­liche Aussagen, gerappt von Studenten im Lichthof der Uni, mit eigenen, spontanen Rap-Zeilen zu antworten.« Der Kritiker der Süddeutschen Zeitung fand das »komisch und aufschlußreich, weil man schnell merkt, wer da wirklich virtuos mit der deutschen Sprache umgehen kann: Es sind natürlich die Hip-Hopper mit dem Migranten-Hinter­grund, die trotz aller Klischees ganz wunderbare Reime finden — während die Stu­denten sich mit ihrem Wissenschaftssprech und einer Mischung aus Fremdwörtern und Englisch abquälen müssen.«23

Gerndt räumt immerhin ein, daß Riehl entgegen der in der Romantik überwiegend vergangenheitsorientierten Volkskunde »zeitgenössische Zustände von Land und Leuten« berücksichtigt,24 ja darauf für seine staats- und sozialpolitische Agenda sogar seinen Schwerpunkt setzt — eine Auffassung von Volkskunde, wie sie »moderner« — wenn man schon diese Hohlfloskel verwenden will — in seiner Zeit gar nicht hätte sein können, denn Gegenwartsvolkskunde hat in den letzten Jahrzehnten das Fach domi­niert, es gibt eigentlich überhaupt keine historische Tiefensondierung mehr, nachdem Ruth Mohrmann gestorben ist, Wolfgang Brückner und Silke Göttsch emeritiert sind, Lutz Röhrichs Freiburger Institut zunehmend ins Nirwana abgleitet und die Göttinger Märchen- und Sagen-Schule von der linksradikalen Polit-Aktivistin Sabine Hess feindlich übernommen wurde.

Scharf wurde auch gerügt, Riehl würde den Bauernstand auf ein Podest stellen. Der Historiker Heinrich von Treitschke äußert sich dahingehend in seiner Habilitations­schrift Die Gesellschaftswissenschaft anno 1859 mit schweren Seitenhieben zu Riehls »Vorliebe für die idyllische Plumpheit der Bauern« — was auf den Verfasser zurückfällt, der recht plump etwas zuspitzt, was so bei Riehl nicht steht, nicht im Buchstaben und nicht im Gehalt.25 Denn dieser macht zum einen stets deutlich, daß sowohl die Mächte der Beharrung, die Bauern also, als auch diesen entgegen­wirkende Kräfte der Bewegung in einem gesunden Verhältnis notwendig seien für eine funktionierende Volksgemeinschaft — was soll daran falsch sein? Zudem hat Riehl in einem volkskundlichen Gutachten für König Maximilian II. am 6. Juli 1856 festgehalten, daß »bei dem altbayerischen Landvolk« »Naturkraft — dies ist die Lichtseite – und Naturroheit — dies ist die Schattenseite« herrsche.26 Im selben Gutachten wird in seinen wohlwollenden »Vorschläge[n] in der Proletarier-Frage«27 — eine der »Mächte der Bewegung« betreffend — sehr deutlich, wie sehr eine Kritik an Riehl fehlgeht, die ihn als rein beharrenden, rückwärtsgewandten, fortschrittsfeind­lichen Reaktionär abkanzeln will. Er denkt eben nach, bevor er erneuern will, er wägt ab getreu dem Motto: Prüfet alles, das Gute aber behaltet.

Es sei nur Mythos der Fachgeschichte, so Gerndt schließlich, »daß man zahlreiche theoretische Konzepte der Volkskunde des 20. Jahrhunderts bereits bei Riehl finden könne«, etwa »wesentliche Elemente der Regel vom sinkenden Kulturgut«. Denn: »Daß unter der Fülle von Riehls pointiert, zum Teil auch generalisiert formulierten Beobachtungen etliche Aussagen sind, die im Prinzip solche späteren Forschungen vorausnehmen, ist gewiß richtig.« Aber? »Riehls Feststellungen, daß Volkstracht abgelegte städtische Mode sei […], daß die Bauern solche Zierpflanzen verwenden, die in der Stadt bereits altmodisch geworden sind« (also genügend Belege dafür, wie früh und richtig Riehl das erkannt hat, was man Jahrzehnte später »gesunkenes Kulturgut« nennen sollte), all das ist für Gerndt zwar »beachtenswert« und genüge sogar »einigen erst viel später formulierten volkskundlichen Theoriekonzepten, theoretische Konzepte sind sie aber ganz und gar nicht.«28 (Rabulistik bei der Arbeit.)

Also: Gerndts »Abschied von Riehl« steht auf argumentativ schwachen Beinen; er ist sicherlich in der Art, wie er vorgetragen wird, in keinster Weise gerechtfertigt. Eher — es tut mir leid, dies sagen zu müssen, bin ich doch durch Gerndt zum Volks­kundler geworden — wird man sich von Gerndt verabschieden müssen als von Riehl. Denn irgendwo ist der Kretzenbacher-Schüler, dessen Qualifikationsarbeiten volkskund­lichen Geist ebenso atmen wie seine Lehrveranstaltungen lange Zeit den Kanon vorbildlich vermittelten und in die Moderne überführten (Erzählforschung zu Tscher­nobyl), falsch abgebogen im Bestreben, aus einer Gesellschaftswissenschaft eine Art Naturwissenschaft zu machen: »Die Physik ist das große, geheime Vorbild — es geht letztlich um eine Physik der Gesellschaft«.29 Dagegen hätte es ihm und allen anderen Theoretikern gut angestanden, Hans Peter Duerrs Bonmot aus seinem Wunderwerk Traumzeit (»endlich wieder Ethnologie«) zu beherzigen, daß auch der Strukturalist den Alfa Romeo stehen lassen sollte und zu Fuß weitergehen, wo der Dschungel beginnt. Was Duerr einmal über diese »Forscher« gesagt hat in seinem Fach, der Völkerkunde, trifft auf die Riehl-Verabschieder in der Volkskunde haargenau zu: Sie betreten blühende Wiesen — und unter ihren schreibenden Händen verdörrt und ver­trocknet alles, was da wuchs und gedieh. Oder wie Michael Klonovsky so unnach­ahmlich formulierte: »Durch ein deutschen Geisteswissenschaftlerhirn gequetscht zu werden, ist das Schlimmste, was einer Wirklichkeit passieren kann.«30

Und so, in ihren deutschen Geisteswissenschaftlerhirnen, haben sie das Fach, das Wilhelm Heinrich Riehl als einer der ersten wirklich ernsthaft anfaßte, getötet. Sie haben seinem Gegenstand, dem Menschen, in ihrer hermetisch eiseskalten Sprache und mit ihrem unmenschlichen Zugriff jedes Leben bis aufs Knochenmark ausge­saugt: »Die Ernährung kann als eine Form sozialen Handelns begriffen werden. […] Die Mahlzeit wird in Form eines Stammbaumschemas in einzelne Bestandteile zer­legt. Als die beiden Hauptkomponenten sieht Tolksdorf die ›Speise‹ und die ›Verzehr-Situation‹. Die Speise wiederum setzt sich zusammen aus dem ›Nahrungsmittel‹ (N) und der ›kulturellen Technik‹ (T), mit der ein pflanzliches, tierisches oder mineralisches Produkt für den menschlichen Verzehr verändert, also zubereitet wird (Kochen, Grillen). […] Die Verzehr-Situation, immer als ›soziale Situation‹ aufgefaßt, zerlegt Tolksdorf in zwei Komponenten, die ›soziale Zeit‹ (Z) und den ›sozialen Raum‹ (R). […] Wichtig ist: Alle terminalen Konstituenten (N, T, Z, R) sind wertbesetzt, das heißt mit gesellschaftlichen Wertvorstellungen aufgeladen (Nw, Tw, Zw, Rw). […] Tolksdorf faßt zusammen: ›Nach der Konstruktion unseres Modells ist es möglich, die Konsti­tuenten N, T, Z, R (was? wie? wann? wo?) jeweils mit ihren kollektiven Bewertungen Nw, Tw usw. und je für sich zu thematisieren.‹«31

Diese Sprach- und Wirklichkeitszerstörer begnügen sich auch nicht mehr damit, die Lebenswirklichkeit der Menschen verschieden zu beschreiben, sie wollen die Welt verändern (»transformieren«), wozu sie Tabula rasa machen müssen. Sie haben keine innige »Hingabe« mehr zum Volk, schon gar keine »liebevolle« wie Riehl, sondern sie verachten es in gleicher Weise wie dies alle gesellschaftlichen und politischen Grup­pierungen tun, die sich »progressiv« nennen, angefangen bei den Grünen und bis hinunter zur Sozialdemokratie, die dafür unentwegt die Quittung vorgehalten bekommt, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken in ihrem unentwegten selbstverschuldeten Niedergang in Richtung Exitus. Hinzu kommt eine zynische Tiefenverlogenheit, die dem Milieu offensichtlich genetisch eingeschrieben ist, wie es ein Münchner Volks­kundler berichtet: »Zur Volkskunde-Tagung in Kiel 1978 sind wir Münchner mit dem Zelt angereist — und die Tübinger haben im Hotel gewohnt, als die ganz großen Linken…«

Wo Bausinger konstatieren muß, daß Riehl die »deutschen Wälder« gegen die »reine Fabrik-Cultur« verteidigt, ja gar ein »Recht der Wildniß« fordert (ungeheuer »modern« und »fortschrittlich« im Jahr 1851), Riehl also mit Fug und Recht als konser­vativer Pionier des Umweltschutzgedankens bezeichnet werden müßte, heißt es bei Bausinger in Analogie zur Gerndt-Rabulistik: »Tatsächlich ist diese Verbindungslinie [zu Mitscherlichs »Unwirklichkeit unserer Städte«, die Bausinger selbst affirmativ auf­ruft32] nicht völlig falsch; aber der Kontext bei Riehl verbiegt sie doch ganz erheblich. Es geht ihm um den Wald als ›eine wahrhaft großartige Schutzhege unserer eigen­sten volksthümlichen Gesittung‹«33. Vorbildlicher Umweltschutz-Gedanke hin oder her, wenn er im »falschen« »Kontext« (»Volkstum«, »Nation«) wurzelt, will er das Falsche im Richtigen — und ist abzulehnen.

»Bräuche erwandern«, ein letzter Punkt: Was Riehl begonnen hat, führten bis ans Ende des 20. Jahrhunderts zahlreiche Volkskundler in seiner Nachfolge fort — heute ist auf diesem Feld nur mehr eine Verlustskizze zu zeichnen.

»Der Erforscher des Volkslebens muß vor allen Dingen auf Reisen gehen. Das versteht sich von selbst. Ich meine aber gehen im Wortsinne, und das verstehen viele nicht von selbst«, so Riehl. »Wer forschen und lernen will auf der Wanderschaft, der gehe allein. Nur der einsame Wanderer lebt mit den Leuten, nur wer allein kommt, wird überall angeredet und ins Gespräch gezogen. Nur der einsame Wanderer, der sein Reisegepäck selber auf dem Rücken trägt und seinen Schulsack obendrein, findet die nie erlahmende Spannkraft zum rastlosen Beobachten.«34

Als Leopold Kretzenbacher 1966 den Münchner Lehrstuhl für Volkskunde übernimmt, ist eine seiner ersten Amtshandlungen die Anschaffung von Zelten. Er will mit den Studenten das tun, was seiner innersten Überzeugung entspricht: »Bräuche erwandern«, am liebsten »im Alleingang«, wie es Riehl ausdrücklich empfohlen hatte. Für Kretzenbacher35 ist — in bester Riehl’scher Tradition — Volkskunde »Begegnung mit dem Volk«, »Begegnung mit seinem Denken und Fühlen, mit seinem Werken und Wirken. Das heißt: mit seiner Art, das Leben zu meistern, es zu erleiden und zu erdulden, auf jeden Fall zu bestehen […] und durch das Mittel von Ritus und Brauch zu ›bewältigen‹.«36 Für Kretzenbachers österreichischen Landsmann und Freund Leopold Schmidt, Direktor des vom Wokeismus brutal verwüsteten Wiener Volkskundemuseums, ist, noch nach dem Zweiten Weltkrieg — echt riehlsch auch dies — Volkskunde die »Wissenschaft vom Leben in überlieferten Ordnungen«.37

Neben Kretzenbacher wirkten zu seiner Zeit weitere große Wanderer in der Münchner Volkskunde. Zum einen sein Freund Rudolf Kriss (1903–1973), der eine Mittelmeer umspannende religiöse Volkskunde entwickelte, die er sich im Wortsinne »erwanderte« — in Italien, auf dem Balkan, in Griechenland, auf Zypern, in der Levante, der Türkei und im Maghreb.38 In Felix Karlinger (1920–2000), Schüler von Rudolf Kriss (Dissertation Beiträge zu einer Volkskunde der Pyrenäen und ihrer Umwelt im Spiegel des Volkslieds, 1948), steht ein Romanist vor uns, dessen Forschungen zu iberoromanischer, sardischer und rumänischer (Volks)Literatur die besten Traditionen vergleichender Volkskunde repräsentieren. Die Enzyklopädie des Märchens berichtet über ihn: »Er [Karlinger] durchwanderte, mit einem Tondbandgerät beschwert, Sardinien und Korsika, auch Teile des Balkans und der Iberischen Halbinsel auf der Suche nach oral tradierten Texten der Volksliteratur […]. Mit dieser Arbeit […] ist K.[arlonger] einer der letzten wandernden Feldforscher.«39

Volkskundliches Wandern heißt, den Menschen in seiner »mythischen Landschaft« wahrzunehmen, wie es für Will-Erich Peuckerts Sagenausdeutung selbstverständlich war.40 Wandern heißt, sich dem Menschen behutsam zu nähern, im menschlichen Maß des Gehens. Volkskundliches Wandern atmet auch die Erkenntnis, daß der Mensch – Nomaden ausgenommen — kein »moving target« ist (so »moderne« Ethnolo­gen), sondern notorisch seßhaft und sich deshalb ein Erkenntnissucher auf ihn zu bewegen muß, wobei der Akt des physischen Hingehens aufs Symbolträchtigste jenen intellektuellen Standortwechsel abbildet, den unabdingbar vornehmen muß, wer die Perspektive desjenigen erkennen will, dessen Weltzugang er nachvollziehen möchte. Der Wanderer verläßt seinen Wirkungsort, Akademiker wie Riehl oder Kretzenbacher, die Stadt, er wechselt seinen Standpunkt, er ist einer, der aufsucht, seine Wege zur Bewußtseinserweiterung geht auf neue Perspektiven zu, wörtlich wie metaphorisch — so wie sich Francesco Petrarca am 26. April 1336 den Mont Ventoux erschloß: »Zuerst von ungewohntem Zug der Luft und dem freien Schauspiel ergriffen, stand ich wie ein Staunender — ich schaue zurück: da lagerten die Wolken zu meinen Füßen.«

Ist die Figur des Wanderers in der Volkskunde ein Muster ohne Zukunft? Eine bejahende Antwort scheint wahrscheinlich, markierte aber einen ungeheuren Verlust, wenn man mit dem Wanderer Erhart Kästner das Wesen jeden wirklichen Forschers sieht als das eines »Beiträger[s] zur großen Welt-Beschreibung, die seit dem Hero­dotos im Gang ist und offensichtlich den Sinn hat, die Dinge den Menschen bekannt und befreundet […] zu machen. Ohne sich dessen bewußt zu sein, kennt er die Linie, die zwischen Nutzung der Dinge und ihrer überzogenen Ausnutzung, Ausfor­schung und Überlistung verläuft: das ist die Grenzlinie der Neuzeit. Er beschreibt.«41

Dem marxistischen Kulturkampf genügt die Beschreibung nicht, denn sie ist kon­struktiv; dort liebt man die Destruktion, schafft nicht, schon gar nichts, was Bestand haben könnte, sondern baut ab, was andere aufgebaut haben.42 In der Volkskunde wurde diese Destruktion euphemistisch »Abschiede« genannt — und diese gab es inflationär: Abschied vom Volksleben (1970)43, Abschied vom Kanon (1970)44, Abschied von Riehl (1986), Abschied vom »nationalen Temenos« (1994, s.o.)

Maximilianstraße[Noch steht der König auf dem Sockel in der Münchner Maximilianstraße und trotzt der Moderne.]

Ausgerechnet ein Theologe, der Münchner Alttestamentler Jörg Jeremias, kritisiert diese Zerstörungswut hart: Er beklagt eine »Dekonstruktion von Hypothesen«, womit ein Verlust der »Erzählung« einhergehe, ohne daß die Dekonstrukteure Alternativen anzubieten hätten.45 Wolfgang Brückner bemerkt dazu für die Volkskunde: »Die Ablehnung jeglichen Kanons und die Verfluchung [sic!] der konkreten Dinge haben die Freisetzung des flottierenden Geistes für alles und zugleich nichts bewirkt.« Es genüge »halt nicht, bloß zu wissen, was man nicht mehr mag.«46

Der Abschiedsfuror der Tübinger Marxisten richtete sich gegen das allenorts fehlgeleitete Establishment in ihrer Dis­ziplin, die es zu »modernisieren« galt. Welche Kapriolen dieses Aggiornamento schlug, offenbart sich in der ersten Pro­grammschrift Populus revisus von 1966, in deren Titel unmittelbar nach Abschaffung der Lateinischen Messe durch das Zweite Vatikanum zugunsten der Landessprachen ausgerechnet Volkskundler eine distinktive Sprachbarriere errichteten.47

An die Stelle Riehlscher Volkskunde gesetzt wurde 1970 die »Falkensteiner Formel [!]«: »[Volkskunde] analysiert die Vermittlung (die sie bedingenden Ursachen und die sie begleitenden Prozesse) von kulturalen Werten in Objektivationen (Güter und Normen) und Subjek­tivationen (Attitüden und Meinungen). Ziel ist es, an der Lösung soziokultureller Probleme mitzuwirken.« Die bittere Ironie an dieser Retortenformel aus der Tiefkühltruhe, die Riehl verabschieden wollte, ist: nichts anderes hatte dieser im Sinn, sowohl in der Analyse als auch in seiner Zielsetzung als Sozialpolitiker. Aber wohlwollend dem Menschen gegenüber, mit dem er es als Forscher zu tun hatte, ihm in einer Sprache begegnend, die angemessen ist. Mensch und Leben geraten Riehl nie aus dem Blick, sie entgleiten auch nie seinem Schreiben und Sprechen. Über die Falkensteiner Formel kann man mit dem Freiburger Sprachwissenschaftler Uwe Pörk­sen nur kopfschüttelnd befinden: »Man hört in solchen Sätzen keine Stimme, sieht keinen Leser, nichts läßt auf den doch menschlichen Gegenstand der Rede schließen.«48

Man kann die (idealtypischen) Anforderungen an die Universität als Freiraum des Den­kens nicht besser beschreiben als Karl Popper das getan hat: »Jeder Intellektuelle hat eine ganz spezielle Verantwortung. Er hat das Privileg und die Gelegenheit, zu studie­ren. Dafür schuldet er es seinen Mitmenschen (oder ›der Gesellschaft‹), die Ergebnisse seines Studiums in der einfachsten und klarsten und bescheidensten Form darzustel­len. Das schlimmste — die Sünde gegen den heiligen Geist — ist, wenn die Intellektuel­len es versuchen, sich ihren Mitmenschen gegenüber als große Propheten aufzuspie­len und sie mit orakelnden Philosophien zu beeindrucken. Wer’s nicht einfach und klar sagen, kann, der soll schweigen und weiterarbeiten, bis er’s klar sagen kann. […] Die Sünde gegen den heiligen Geist […], das ist das Phrasendreschen, das Vorgeben einer Weisheit, die wir nicht besitzen. Das Kochrezept ist: Tautologien und Trivialitäten gewürzt mit paradoxem Unsinn. Ein anderes Kochrezept ist: Schreibe schwer ver­ständlichen Schwulst und füge von Zeit zu Zeit Trivialitäten hinzu. […] Wenn ein Student an die Universität kommt, so weiß er nicht, welche Maßstäbe er anlegen soll. Daher übernimmt er die Maßstäbe, die er vorfindet. Da die intellektuellen Maßstäbe in den meisten Philosophenschulen (und in ganz besonders in der Soziologie) den Schwulst und das angemaßte Wissen zulassen (alle diese Leute scheinen sehr viel zu wissen), werden auch gute Köpfe völlig verdreht.«49 Riehl scheint mir dem Popper’schen Ideal im Gegensatz zu seinen Kritikern sehr nahe gekommen zu sein. Daß die Wissenschaft für den Menschen da ist und sich nicht selbstreferenziell selbst genügen kann, das ist eine Lehre Riehls. Nicht die unwichtigste.

Wenn Erkenntnis nur noch in hermetischer und unverständlicher Form »wissenschaft­lich« sein soll, wenn sie nur noch in ihrer dekonstruktivistischen und destruktiven Spielart »anerkannt« ist, dann geht das Wissenschaftsparadigma seinem Ende entgegen. Riehl jedenfalls war stets konstruktiv, auch und gerade in seiner Kritik an Zuständen und Wirklichkeitsbeschreibungen, die er vorgefunden hat. Bausinger immerhin muß man zugute halten, daß er (1971) Riehl erst vorstellt mit seinen Thesen und wahrnimmt in seinen Ansichten, bevor er ihn kritisiert; von anderen (Gerndt und Zinnecker) kann man das nicht behaupten. Daß er allerdings meinte, Riehl und Hitler kurzschließen zu müssen, in geschichtsfälschender und suggestiver Denunziationsabsicht, ist mehr als schäbig: Riehl sei »Professor der Kameral- und Staatswissenschaften« gewesen, was Bausinger »vielleicht« »präzisieren« zu meinen glaubt als »organische Gesellschaftslehre«, ein Begriff, von dem Bausinger glaubt, »Riehl hätte eine solche Lehrstuhlbezeichnung gewiß akzeptiert«. Von diesen Konjunktiven, Unterstellungen und haltlosen Vermutungen gelangt Bausinger in einem kühnen Sprung durch die Zeiten dazu: »Die Bezeichnung taucht in der deutschen Universitätsgeschichte spätestens 1932 tatsächlich [sic!] auf: Damals versuchten die Nationalsozialisten, ihrem Führer Adolf Hitler an der Technischen Hochschule Braunschweig eine außerordentliche Professur für organische Gesellschaftslehre und Politik zu verschaffen.« Urteil Bausingers: Riehls Denken führe zu einem »konsequente[n] Extrem: Völkische Wissenschaft«.50 — Daß ebenjener Bausinger im Alter von weit über 90 Jahren Heimat, seine eigene Heimat — nota bene! —, nicht mehr anders sehen konnte denn als »Planungskategorie« — über diesen Mißbrauch von allem, was ihm heilig war, würde sich Riehl im Grabe umdrehen.

Am Ende geht es soweit, daß »Agendawissenschaftler« (Sandra Kostner), die gar keine Volkskundler mehr sein wollen, dem Gründungsvater ihrer Disziplin, die sie wahlweise verleugnen, denunzieren, deformieren und / oder abschaffen, absprechen, Volkskundler zu sein.

Der Dirigent Günter Wand (1912–2002) war — so hält es die Schrottsammelstelle wahrheitsgemäß fest — ein »unnachgiebiger Verfechter absoluter Werktreue. Partituren erschienen ihm grundsätzlich völlig unantastbar. Eigenmächtige Ritardandi oder Crescendi galten ihm als beifallheischender ›Firlefanz‹.« Darin war er sich mit einem anderen Großen einig: Gustav Gründgens, der stets »nach der Partitur« inszenierte, wie Weggefährten berichten. War etwas unklar auf der Bühne, verlangte Gründgens nach dem Textbuch, las nach und die Entscheidung, wie es zu machen sei, war gefallen: So, wie es der Autor vorgesehen hat. Wand, gefragt, wie er Beethovens Neunte zu interpretieren gedenke, »eher wie Arturo Toscanini oder mehr im Stile Wilhelm Furtwänglers«, antwortete: »Wie Beethoven«. Würde mich jemand fragen, wie ich die Volkskunde verstehe, wäre meine Antwort: Wie Wilhelm Heinrich Riehl — und seine Nachfolger im Geiste.

Bauzaun

Statt einer Welt eine Stadt, ein Punkt, in dem sich das ganze Leben weiter Länder sammelt, während der Rest verdorrt; statt eines formvollen, mit der Erde verwach­senen Volkes ein neuer Nomade, ein Parasit, der Großstadtbewohner, der reine, traditionslose, in formlos fluktuierender Masse auftretende Tatsachenmensch, irreli­giös, intelligent, unfruchtbar, mit einer tiefen Abneigung gegen das Bauerntum, also ein ungeheurer Schritt zum Anorganischen, zum Ende. […] Immer wieder taucht dieser Typus starkgeistiger, vollkommen unmetaphysischer Menschen auf. In ihren Händen liegt das geistige und materielle Geschick einer jeden Spätzeit.

Oswald Spengler: Der Untergang des Abendlandes.
Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte (1918)

Anmerkungen

  1. Viktor von Geramb: Wilhelm Heinrich Riehl. Leben und Wirken (1823-1897). Salzburg: Otto Müller Verlag, 1954, S. 385–430, hier S. 388. 

  2. Hermann Bausinger, Wir Kleinbürger. Die Unterwanderung der Kultur. In: Zeitschrift für Volkskunde 90, 1994, S. 1-12, hier S. 6 f., www.digi-hub.de/viewer/image/DE-11-001938300/19/

  3. Ebd. S. 8. 

  4. Ebd. S. 1, 2 u. 7. 

  5. Bernd Rieken: Ressentiment und Abwehr in der Volkskunde / Europäischen Ethnologie oder: Über Vorbehalte gegenüber der Tiefenpsychologie als Kulturstil. In Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde 54/55 (2019/20), S. 33–45, hier S. 44. — Wie der ostfriesisch-wiener Psychoanalytiker Rieken 2006 fast auf dem Münchner Lehrstuhl für Volkskunde gelandet wäre, ist ein eigenes Kapitel (Nicht)Fachgeschichte für sich, das hier nicht erzählt werden kann. 

  6. Franz Schultheis, Berthold Vogel, Michael Gemperle (Hrsg.): Einleitung. In: Ein halbes Leben. Biografische Zeugnisse aus einer Arbeitswelt im Umbruch. Konstanz 2010, S. 11–18, hier S. 12 f. 

  7. Richard Kämmerlings: Plapperkrähen kriegen kein Telegramm. Wer braucht die bunten Vögel? Die Deutsche Gesell­schaft für Volkskunde tagt in Halle. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13.10.1999, Nr. 238, S. 54. 

  8. Bernd Rieken: »In Halle fand mein Vortrag ein geteiltes Echo«. Psychoanalytische Anmerkungen zu Andreas Hartmanns Aufsatz »Biologie der Kultur«. In: Rheinisch-westfälische Zeitschrift für Volkskunde 62/63 (2017/2018), S. 27–38 (zugl.: Grenzgänger. Festschrift für Prof. Dr. Andreas Hartmann. Heraus­gegeben von Oliwia Murawska). 

  9. Erinnert sei an dieser Stelle an den Streit zwischen dem (linken) Psychoanalytiker Werner Schmid­bauer und dem Biologen und Ethologen Irenäus Eibl-Eibesfeldt in den frühen 1970er Jahren darüber, ob Territorialität und Aggressivität sozialisiert (Schmidbauer) oder angeboren sei, wofür Eibesfeldt empirisch die weit besseren Argumente vorlegte. 

  10. Eine Anspielung auf den Kulturrelativismus der amerikanischen Boas-Schule, der in Deutschland sehr populär unter Kulturwissenschaftlern wurde, weil die Vorstellung, daß man jede Kultur nur und ausschließlich aus sich selbst heraus bewerten dürfe, ihrer gesellschaftpolitisch gewollten Gleich­macherei entgegenkam. 

  11. Statt dahin zu gehen, »wo es brodelt; da, wo es manchmal riecht, gelegentlich auch stinkt«, dorthin, wo der Platz der Ethnologie wäre, so resümiert der Bochumer Ethnologe Dieter Haller, »gefällt man sich darin, ohne ethnologische Basis zu Bhabheln, zu Agamben und zu Butlern, das ist ja auch viel angenehmer als sich an den Herd mit einer Familie zu setzen und mit ihnen über ein Jahr lang Kohlsuppe zu löffeln«, also Feldforschung zu betreiben: blog.uni-koeln.de/gssc-whatsinaname/2018/04/17/die-umbenennung-moralisches-schulterklopfen-und-geschichtsvergessenheit/

  12. Ingeborg Weber-Kellermann, Andreas C. Bimmer, Siegfried Becker: Einführung in die Volkskunde / Europäische Ethnologie. Eine Wissenschaftsgeschichte. 3., vollständig überarbeitete und aktualisierte Auflage. Stuttgart 2003, S. 49 ff. 

  13. Andrea Zinnecker: Romantik, Rock und Kamisol. Volkskunde auf dem Weg ins Dritte Reich — die Riehl-Rezeption. München u.a.: Waxmann, 1996. — Immerhin befiel auch die Rezensentin Silke Götsch mehr als leises Unwohlsein bei der Lektüre dieses Pamphlets, unter anderem deshalb, weil »allzu schnell aufgrund von Wortanalogien nationalsozialistische Gesinnung unterstellt« würden: Zeitschrift für Volkskunde 95 (1999), S. 109–110, hier S. 110. 

  14. Heute beherbergt das ehemalige Nationalmuseumsgebäude das Völkerkundemuseum, das sich irrwitzigerweise umbenannte in »Museum Fünf Kontinente — weltoffen seit 1867«. Im Januar 2023, als die Fotografie entstand, warb man für die Ausstellung »Witches in Exile«. Der Ankündigungstext dafür beginnt mit der Feststellung: »Immer wieder werden Menschen von Gemeinschaften für ein vermeint­liches Gemeinwohl stigmatisiert und ausgegrenzt.« Eine Corona-Aufarbeitung, endlich. Nein. Es geht um »Hexen« in Ghana. 

  15. Als ich 2003 meine zehnjährige Tätigkeit als Lehrbeauftragter an diesem Institut antrat, wußte ich nicht, auf welchen Wegen ich wandeln durfte — auf jenen Riehls. 

  16. An den anderen einstigen Volkskunde-Standorten in Deutschland firmiert man heute unter: Empirische Kulturwissenschaft (Tübingen, Hamburg), Ethnologie und Kulturwissenschaft (Bremen), Europäische Ethnologie (Bamberg, HU Berlin), Europäische Ethnologie / Kulturwissen­schaft (Marburg), Europäische Ethnologie / Volkskunde (Augsburg, Eichstätt, Kiel, Rostock, Würzburg), Kulturanthropologie (Bonn), Kulturanthropologie / Europäische Ethnologie (Münster, Göttingen), Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie (Frankfurt am Main, Freiburg im Breisgau), Kulturanthropologie / Volkskunde (Mainz), Vergleichende Kulturwissenschaft (Regensburg), Volkskunde / Kulturgeschichte (Jena). — Für die Aktualität dieser Auflistung kann der Verfasser keine Gewähr übernehmen, weil sich die Namen dieser Institute praktisch täglich ändern können. 

  17. Helge Gerndt: Abschied von Riehl — in allen Ehren. In: ders.: Kultur als Forschungsfeld. Über volks­kundliches Denken und Arbeiten. Zweite, erweiterte Auflage. München: Münchner Vereinigung für Volkskunde, 1986, S. 146–159, hier S. 158. 

  18. Ebd. S. 152 f. 

  19. Wilhelm Heinrich Riehl: Wanderbuch. Stuttgart 1869, S. 3–33. 

  20. Helge Gerndt: Studienskript Volkskunde. Eine Handreichung für Studierende. 3. Auflage. Münster u.a.: Waxmann, 1997 (Münchner Beiträge für Volkskunde; 20), S. 175, S. 47. — Was Elisabeth Noelles Umfragen in der Massengesellschaft (1963) als »Methode« in einer qualitativen Sozialwissenschaft wie der Volkskunde zu suchen haben, noch dazu als einziges Methodenbeispiel neben Riehls Wanderbuch, erschließt sich beim besten Willen nicht. 

  21. Gerndt: Riehl (1986), wie Anm. 17, S. 159. 

  22. Novellenband Aus der Ecke, 1874, S. XII; zitiert nach Geramb: Riehl (1954), wie Anm. 1, S. 272. 

  23. Franz Kotteder: Da kann ja jeder kommen. Süddeutsche Zeitung [Münchner Kultur], 9. Juli 2009. 

  24. Gerndt: Studienskript (1997), wie Anm. 20, S. 136. 

  25. Zitiert nach Gerndt: Riehl (1986), wie Anm. 17, S. 157. — Ein Treitschke-Satz wie: »Der von Riehl als ›künstlich‹ mit unverhohlener Verachtung behandelte Beamtenstand ist für das 19. Jahrhundert ebenso gewiß natürlich, als der ›naturwüchsigste‹ der Stände, der Bauernstand, in der Zeit, wo unsere Väter Nomaden waren, unmöglich, also unnatürlich war« ist so verquaster, unlogischer und sinnloser Mist, das sich niemand wundern muß, wenn dergleichen akademische Elaborate als Belege für die Verzichtbarkeit solchen Tuns aufgefaßt werden; im 19. Jahrhundert ebenso wie in unseren Tagen. — Aus dieser Perspektive Riehl einen »unzulänglichen Blick für die tatsächliche Wirklichkeit« vorzuwerfen, wie es Gerndt mit Treitschke tut, ist überdies leicht abstrus. 

  26. Zitiert nach Geramb: Riehl (1954), wie Anm. 1, S. 275. — Riehl schildert, wie schwer es ihm — im Gegensatz zu anderen Landstrichen — fiel, Zugang zu bekommen zum bayerischen Bauern, dieser sei »spröde, abschließend, unzugänglich, ungesprächig, mißtrauisch gegen jeden Fremden«. »Hiermit hängt zusammen, daß diese Leute, wie sie nicht neugierig sind auf das Neue und Fremde, überhaupt vom Fortschritt — der ja immer etwas Neues und Fremdes ist — nichts wissen wollen. Sie sind sich selbst genug, und was sie haben genügt ihnen. [Verzicht in Bestform!] Vieles bessere verschmähen sie, nicht aus bewußter Opposition gegen dasselbe, sondern weil sie es überhaupt nicht kennen und nicht kennen lernen wollen. Dies hat seine gute und seine schlimme Seite. Unvernünftige Neuerungs­sucht, Wühlerei, eitle Projectenmacherei prallt ab vom bayerischen Bauern; er ist conservativ, treu beharrend, eine Stütze des historisch Bestehenden — kraft dieser seiner Abgeschlossenheit und Unzugänglichkeit.« 

  27. Geramb: Riehl (1954), wie Anm. 1, S. 276 f. 

  28. Ebd. S. 154. 

  29. Peter Graf Kielmansegg: Die Sprachlosigkeit der Sozialwissenschaften. In: Paul Kirchhof (Hrsg.): Wissenschaft und Gesellschaft. Begegnung von Wissenschaft und Gesellschaft in Sprache. Symposion zur Hundertjahrfeier der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Akademie­konferenzen 7. Heidel­berg 2010, S. 93–101. 

  30. Michael Klonovsky: Land der Wunder. Zürich: Kein & Aber, 2005, S. 430. — Klonovsky schrieb res­pektive seine Figur Reger sagte »Journalistenhirn«, nicht »Geisteswissenschaftlerhirn«, aber sei’s drum. Besagter Klonovsky-Reger ist übrigens nicht denkbar ohne eine weit berühmtere Figur aus dem Bernhard-Kosmos, aus den »Alten Meistern«, die Klonovsky schamlos entlieh, nicht nur namentlich, sondern besonders auch den unverwechselbaren Stil der Bernhard’schen Wortsuaden, nicht ohne stets darauf zu verweisen, für was für einen mittelmäßigen Schriftsteller er, Klonovsky, ihn, Bernhard, doch halte. 

  31. Helge Gerndt: Kultur als Forschungsfeld. Über volks­kundliches Denken und Arbeiten. 2., erweiterte Auflage. München: Münchner Vereinigung für Volkskunde, 1986, S. 194 f. 

  32. Diese Zustimmung zu Mitscherlich’scher Zivilisations- und Großstadtkritik verwundert doch sehr, weil Bausinger selbst wie auch Gerndt (u.v.a.m.) ansonsten diese Art von Kritik als quais präfaschistisch brandmarken, etwa in Gerndts Aussage, Riehl habe die Stadt »verdammt« und damit »Großstadtfeindlichkeit« das Wort geredet: Gerndt: Studienskript (1997), wie Anm. 20, S. 120. 

  33. Hermann Bausinger: Volkskunde. Von der Altertumsforschung zur Kulturanalyse. Tübingen: Tübinger Vereinigung für Volkskunde, 1971, S. 57. 

  34. Zitiert nach Geramb: Riehl (1954), wie Anm. 1, S. 379 f. 

  35. Das Schriftenverzeichnis von Leopold Kretzenbacher spricht Bände. Polyglott seit Studententagen, Italienisch, Griechisch und Serbokroatisch fließend beherrschend, spannte der Steiermärker seine religionsgeschichtlichen Interessen über ganz Südosteuropa, wo er in den Worten seiner Schülerin Marianne Stößl die »Schatzhäuser post-byzantinischer Bildauswirkung« weit aufgesperrt hat. Kretzenbacher hat den Beweis erbracht, daß eine substantielle »Ethnologia Europaea« in einem Forscherleben geleistet werden kann — geschöpft aus eigener, empirischer Anschauung und Feldforschung. 

  36. Leopold Kretzenbacher: Ethnologia Europaea. Studienwanderungen und Erlebnisse auf volkskundlicher Feldforschung im Alleingang. München: Trofenik, 1986, S. 1. 

  37. Zitiert nach ebd., S. 115. 

  38. Fußend im Eigenen, der bayerischen Heimat, erweiterte Kriss, sobald ihm das nach Berufsverbot und Krieg wieder möglich war, sein großes Thema, das Wallfahrtswesen, zunächst mit Blick auf das südöstliche Europa und später den Vorderen Orient. In gewichtigen Monographien erschloß er dabei die volksreligiösen Landschaften des Katholizismus, der Orthodoxie und des Islam. 

  39. Dieter Messner: Enzyklopädie des Märchens VII, 1994, Sp. 1003. 

  40. Will-Erich Peuckert: Sagen. Geburt und Antwort der mythischen Welt. Einführungsband zur Reihe Europäische Sagen. Berlin: Schmidt, 1965, S. 51–71. 

  41. Erhart Kästner: Aufstand der Dinge. Byzantinische Aufzeichnungen. Frankfurt am Main: Insel, 1973, S. 130. 

  42. Es ist das große bleibende Verdienst von Wolfgang Brückner, diesen Umtrieben massiv entgegen­getreten zu sein — und es ist ein nahezu unbegreifliches Versäumnis von Helge Gerndt, sich dem Kulturkampf, der exemplarisch für die ganze Gesellschaft in seinem Fach tobte, ausgewichen zu sein. 

  43. Klaus Geiger, Utz Jeggle, Gottfried Korff: Vorwort. In: Abschied vom Volksleben. Tübingen 1970. 

  44. Martin Scharfe: Kritik des Kanons. Ebd. S. 74–84. 

  45. Jörg Jeremias: Vier Jahrzehnte Forschung am Alten Testament – Ein Rückblick. In: Verkündigung und Forschung 50 (2005), S. 10–25. 

  46. Wolfgang Brückner: Volkskunde als historische Kulturwissenschaft. Gesammelte Schriften von Wolfgang Brückner IV: Zeitgeist und Zeitzeugenschaft 1968–1998. Würzburg 2000, S. 417, S. 403. 

  47. Hermann Bausinger (Hrsg.): Populus Re­visus. Beiträge zur Erforschung der Gegenwart. Tübingen 1966. 

  48. Uwe Pörksen: Wissenschaftssprache und Sprachkritik. Untersuchungen zur Geschichte und Gegenwart. Tübingen 1994. 

  49. Karl R. Popper: Gegen die großen Worte (Ein Brief, der ursprünglich nicht zur Veröffentlichung bestimmt war). In: ders.: Auf der Suche nach einer besseren Welt. Vorträge und Aufsätze aus dreißig Jahren. München 2011, S. 99–113, hier S. 100, S. 103. 

  50. Bausinger: Volkskunde (1971), wie Anm. 33, S. 61.