σύνταξις | IX | syntaxis

Geschrieben von Uwe Jochum am 29.1.2024

Man muß die Dinge durch den Menschen und nicht den Menschen durch die Dinge erklären.
Ein von Franz von Baader zitiertes Wort.

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»Die Herrscher müssen verstehen, daß wenn die Staatlichkeit beginnt, auf Spionage der Bürger und auf Intrigen reduziert zu werden, indem sie den Geist des Bürgerkriegs füttert, sie so sich selbst und die gemeinschaftliche Sittlichkeit vernichten wird, und dann wird sie nicht mehr gegen das Böse kämpfen, sondern ihm dienen«.
(Iwan Iljin: Über den gewaltsamen Widerstand gegen das Böse. Wachtendonk: Philosophia Eurasia, 2018, S. 286.)

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Warum haben wir die Politik, die wir haben? Die Antwort gab Arnold Gehlen schon vor 67 Jahren:

»Denn jedes arbeitsteilig hochspezialisierte Handeln, wie es die Industriekultur überall außer im Bereiche der Landwirtschaft und gewisser schon vorindustrieller Handwerke verlangt, trennt sich vom Resultat und damit von der Kontrolle am Erfolg oder Mißerfolg. Es wird damit leicht leerlaufend, steril und, in unbemerkter Zweckwidrigkeit weiter betrieben, imaginär. Dies gilt besonders dort, wo die großen disponierenden Tätigkeiten in Wirtschaft, Politik, Verwaltung mit unvollständiger Kenntnis der Operationsbedingungen und mangelhaften oder unscharfen Informationen arbeiten müssen und wo die Frage, ob überhaupt Erfolge erreicht wurden, ihrerseits wieder nur an Hand ebensolcher Informationen zu beantworten ist«.
(Arnold Gehlen: Die Seele im technischen Zeitalter. Hamburg: Rowohlt, 1957.)

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Seitdem mit der »Ampelkoalition« ein Parteienbündnis die Regierungsgeschäfte übernommen hat, das sichtlich damit beschäftigt ist, eine harte ideologische Agenda durchzusetzen, kann jedermann erkennen, daß diese Agenda durch den Einspruch der Realität gar nicht zu stoppen ist. Denn längst ist das der Fall, was der Philosoph Arnold Gehlen — siehe oben — schon in den 1950er Jahren feststellen mußte: Sobald in komplexen Gesellschaften die Erfolgskontrolle nicht mehr davon abhängig gemacht wird, ob der gewünschte Erfolg auch real eintritt, sondern nur noch davon, ob die Statistiken, die man sich von willfährigen Mitläufern und Opportunisten erstellen läßt, den vermeintlichen Erfolg in Form von Türmchengraphiken darstellen — sobald das der Fall ist, ist das politische Handeln vollkommen von der Wirklichkeit abgekoppelt. Es läuft dann als Programm sturheil einfach weiter.

Die Frage ist freilich, wie lange es das tut. Die Antwort lautet: Das geht solange, bis die Wirklichkeit nicht mehr durch Statistiken und Graphiken überdeckt werden kann. Das aber wird erst der Fall sein, wenn die Not am größten und der Wirklichkeitseinbruch in die eingebildete und selbstgemalte Realität am destruktivsten sein wird. Also kurz vor dem Ende.

An diesem Ende werden zwei Dinge zugleich geschehen.

Zum einen wird die Wirklichkeit die ideologiebedingten Illusionen einfach wegspülen, und dieser Vorgang wird sich als Zerstörung Bahn brechen. Denn was bislang übertüncht werden konnte — all die zerfallenden Schulgebäude, die im öffentlichen Raum zunehmende Gewalt, die Dauermisere der Bahn, die rasant steigenden Preise und und und —, all das wird in seinem nackten Sosein ans Tageslicht treten. Und da nicht nur die politische Klasse, sondern auch das wählende Publikum in großen Teilen dieses nackte Sosein der Realität seit Jahren nicht sehen wollte, sondern sich die Realität seit Jahrzehnten durch Steuerumverteilungen schöngesoffen hat, wird man vollkommen hilflos reagieren. So hilflos, wie der Trinker reagiert, wenn man ihm keinen Alkohol mehr gibt. Und es wird dann kein Programm aus der Tasche gezaubert werden können, mit dem sich ein synthetischer Alkohol beschaffen ließe. Vielmehr wird die Bundesrepublik mit einem langen und schmerzhaften Kater aufwachen und desorientiert durch die Wirklichkeit stolpern.

Zum andern aber wird die politische Klasse, die für die Umverteilungsdrogen und folglich auch für den Kater die Verantwortung trägt, sich über Nacht als das erweisen, was sie ist: eine Klasse von Opportunisten, die von der Bundesrepublik lebt, aber nicht für die Bundesrepublik; die Profis sind im Füllen ihrer Mantel- und Jackentaschen, aber blutige Laien in Sachen Gemeinwohl; die wußten, wie man Phrasen drischt und ein »Image« erzeugt, aber keine Ahnung haben von der Wirklichkeit und dem, was sie mit ihrem gesetzgeberischen Tun anrichten.

Mit solchem Personal wird die Misere nicht zu beheben sein, und es wird so sein, wie es in solchen Fällen in der Geschichte immer war: Es werden über Nacht und fast aus dem Nichts Gestalten auftreten, die die bisherigen Politdarsteller von der Bühne stoßen und den Wählern eine Lösung anbieten, von der man nur hoffen kann, daß sie auch wirklich eine Lösung ist und nicht eine weitere und verschäfte Stufe der Illusionspolitik.

Man würde eine solche Verschärfung der Illusionspolitik daran erkennen können, daß diese Volkstribunen dazu übergehen, Sündenböcke zu benennen, nach deren Beseitigung alles wieder gut wäre und beim Alten bleiben könnte. Davon zu unterscheiden wären ebenjene Volkstribunen, die, wie es Churchill eins tat, dem Volk keine neuen Drogen verabreichen, sondern ihm die Wahrheit einschenken und öffentlich bekennen, daß der Weg, der vor uns liegt, ein Weg aus »Blut, Schweiß und Tränen« sein wird. Denn unser Staat braucht keine neuen Tapeten, er braucht eine Grundrenovierung.

Und Grundrenovierung bedeutet: Wir brauchen ein neues politisches Personal, das weiß, was Verwantwortung bedeutet; wir brauchen eine Überprüfung der politischen Strukturen, und das heißt beispielsweise: eine Begrenzung der Amtszeit von Bundeskanzlern; und wir brauchen eine neue staatsbürgerliche Kultur, die das Eigene wieder wertzuschätzen weiß, weil sie weiß, daß wir zu wesentlichen Teilen von der Leistung unserer Väter und Großväter zehren und uns anstrengen müssen, unseren Kindern soviel von unserem Eigenen weiterzugeben, daß die Kinder ihrerseits ein eigenverantwortliches Leben führen können, ohne das Ererbte zu verschleudern.


Die vorstehende Reflexion wurde am 25. Januar 2024 auf Kontrafunk in der Sendung »Kontrafunk aktuell« als Tageskommentar gesendet.