Ein Rückblick auf Ostern

Geschrieben von Uwe Jochum am 12.4.2024

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Uwe Jochum

Wissenschaftlicher Bibliothekar

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Ostern ist gerade einmal zwei Wochen her. Die meisten Menschen werden sich noch im ausklingenden Ferienmodus befinden, völlig unabhängig davon, ob sie Christen sind oder nicht. Denn in Deutschland gewährt der Staat seit dem 19. Jahrhundert in der Osterzeit allen schulpflichtigen Kindern schulfrei, und da lassen sich viele Eltern nicht lumpen und hängen an die Schulferien der Kinder einige Tage des eigenen Jahresurlaubs an. In unserem immer säkulareren Säkulum sind dabei Anlaß und Ereignis längst entkoppelt: Immer weniger Menschen wissen anzugeben, warum und was an Ostern überhaupt gefeiert wird und wieso mit dieser Feier Schulferien verbunden sind; und weil das so ist, sind die Osterferien eben das, was sie sind: staatlich gewährte Freizeit.

Dieser grob skizzierte Säkularisierungprozeß hat freilich längst auf die Kirchen zurückgeschlagen, in denen die Restbestände eines christlichen Bewußtseins und damit die letzten Ahnungen vom Sinn des Osterfestes verwaltet werden. Man merkt diesen Rückschlag daran, daß die kirchlichen Amtsträger aller Hierarchiestufen nichts mehr dabei finden, den Sinn des Osterfestes möglichst theologie- und glaubensfrei auszulegen. Statt dessen üben sie seit Jahren den direkten Anschluß an den Zeitgeist, wohl in der Hoffnung, den längst verlorengegebenen christlichen Posten durch eine möglichst tragende Rolle in der laufenden Komödie der Eitelkeiten eintauschen zu können.

In dieser laufenden Komödie spielte die Kirche in der gerade vergangenen Osterzeit in drei kleinen Szenen mit, in denen sie sich nicht mit Ruhm bekleckert hat.

In der ersten Szene trat der katholische Essener Bischof Overbeck auf und hielt eine Karfreitagspredigt, in der er den Prozeß gegen Navalny mit dem Prozeß gegen Jesus verglich und Navalny, dessen Äußerungen über Homosexuelle und Migranten und dessen nationalistische Agenda der Kirche eigentlich Anathema sein müßte, auch gleich noch in die Rolle des leidenden Gerechten schubste. Overbeck weiß als Theologe natürlich, was er da sagt. Der »leidende Gerechte« ist eine Grundfigur der alttestamentlichen und auch der christlichen Theologie, die das Leiden Jesu verständlich machen will: Jesus hat nicht nur als ein Gerechter in einer ungerechten Welt gelebt, sondern um der Gerechtigkeit willen auch das Leiden bis zum Tod am Kreuz auf sich genommen; das ist eine menschlich gesehen sinnlose und brutale Sache, die aber in der Auferstehung die epochale Wendung erfahren hat, daß im Tod der Durchgang zum wahren Leben liegt. Wir können das hier nicht weiter bedenken, aber soviel wird man doch sagen müssen: Navalny war ein politischer Aktivist, dessen politische Rolle und Bedeutung himmelweit von der Weltenwende entfernt ist, für die Jesus als Christus steht. Wer Navalny daher, wie Overbeck, zu einem Christus redivivus macht, hat Absichten, die mit dem Christentum nichts zu tun haben.

Die zweite Szene spielte am Karsamstag, als der Berliner Erzbischof Koch dem offiziellen Internetportal der katholischen Kirche in Deutschland ein Interview gab, in dem es um Ostern als »Fest des Unerwarteten« gehen sollte, in Wahrheit aber um Politik ging: um die AfD, um die Rolle der Kirche in der Politik und in diesem Zusammenhang auch ein wenig um den »Lebensschutz«, also die Abtreibungsfrage. Nichts davon hat mit Ostern zu tun, das in diesem Interview vielmehr erst ganz am Ende zum Thema wurde, als Koch Ostern und Fußball zusammebrachte, nämlich so: Fußball und Ostern seien ein Fest für die Gemeinschaft; und Fußball und Ostern seien ein Fest des Unerwarteten. Das ist nicht einmal mehr die Schwundstufe von Christentum und christlicher Theologie, es ist ihre Elimination durch maximale Banalisierung.

Man wundert sich nicht, daß das Interview unter den Gläubigen auch nicht gezündet hat, aber von den Medien das von Koch gelegte Anti-AfD-Bömbchen bereitwilligst aufgegriffen wurde. Denn die von der Bischofskonferenz im Februar veröffentlichte Erklärung, die ganz offen gegen die AfD Position bezog und damit die von der Kirche in der Bundesrepublik bisher gepflegte offizielle politische Neutralität ganz offiziell aufgab, wurde von Koch in dem Interview bestätigt und noch einmal in das Prokrustesbett der Politik gelegt: »Die Kirche darf sich nicht raushalten, denn die christliche Botschaft umfasst immer auch das gesellschaftliche Leben. Wir sehen uns in der Mitverantwortung für die Demokratie.«

Was das realpolitisch heißt, muß man nicht umständlich analysieren. Es heißt, daß auch die Kirche im Kampf gegen die AfD auf der Seite der Oppositionsbekämpfer Stellung bezogen hat. Daß diese Stellung mit der gänzlichen Verflüchtigung von Christentum und christlicher Theologie verbunden ist, zeigt das Interview insgesamt bis hinunter zu diesem peinlichen Detail: Während der »Marsch für das Leben« von der AfD unterstützt wird — was dem Marsch zwangsläufig den Verdacht des rechten Aktivismus eingetragen hat —, phantasiert der Bischof im Hinblick auf die AfD von einer inakzeptablen »Begrenzung des Lebensschutzes aus völkisch-nationalistischen oder bevölkerungspolitischen Motiven«, um seine Nichtteilnahme an dem von ihm wortreich begrüßten Marsch mit Terminschwierigkeiten zu begründen.

Die dritte Szene schließlich spielte ebenfalls am Karsamstag in der medialen Randzone der Deutsche Welle, als die Pastoralreferentin des Bistums Münster mitteilte, daß die Auferstehung mit Aufstehen zu tun habe. Wie das gemeint war, dürfte nicht schwer zu raten sein: Da Jesus schon vor seiner von den Christen seit 2000 Jahren erinnerten Auferstehung immer wieder aufgestanden sei, um sich für eine gerechtere Welt stark zu machen, sollten auch wir aufstehen — »für Toleranz, Akzeptanz, Gerechtigkeit, Chancengleichheit, Nächstenliebe und viel mehr.« Konkret war das so zu verstehen: daß die »Demos gegen rechts« »auch ein gelebtes Stück Auf(er)stehen« sind. Was der Pastoralreferentin dabei besonders gut gefiel, war der Umstand, daß die Menschen auf diesen Demos ihrer Meinung nach nicht gegen etwas demonstrierten, sondern für etwas, nämlich »für ihre Werte«. Das sollte dann irgendetwas mit der Liebe Gottes zu tun haben, weshalb die Pastoralreferentin erwartungsgemäß für diese Liebe Gottes »immer wieder aufstehen« wollte, und wahrscheinlich immer noch will.

Damit sind wir theologisch ganz unten angekommen. Denn daß eine Demonstration für etwas immer zugleich eine Demonstration gegen etwas ist und daß das Ziel der »Demos gegen rechts« dieses »Gegen« ja nun auch schon im Titel klar markiert — blieb von der Pastoralreferentin ebenso unbemerkt wie ungedacht. Dasselbe gilt für den keineswegs nebensächlichen Umstand, daß Jesus, wie die Referentin bemerkt, »sich durch dieses Aufstehen mit den Mächtigen in Politik und Religion angelegt« hat. Daß die »Demos gegen rechts« ganz gewiß kein solches Sich-Anlegen mit den Mächtigen in Politik und Religion sind, sondern in der Welt und in den Begriffen Jesu zum weiten Feld der von ihm abgelehnten heuchlerischen Glaubensmanifestationen gehören — geschenkt, würde man zu sagen haben, wenn man dieser Art von Christentum etwas schenken wollte. Was ein Fehler wäre. Denn diese Art von Christentum ist ein bloß gespieltes Staatschristentum durch und durch, bei dem die christlichen Funktionäre als Zöllner agieren, die denen, die beim Glauben an Ostern noch ein wenig mitspielen wollen, den breiten und bequemen Weg anweisen.

Wohin dieser Weg führt? Er führt schnurstracks zu Robert Habeck, der an Karfreitag in pastoral-schwarzem Anzug und mit dunkelroter Krawatte per Twitter/X vor seine Gemeinde trat, um zu verkünden: »Wir feiern Ostern. Hoffentlich für viele von euch ein paar Tage der Ruhe, zum Durchschnaufen und die Dinge sortieren zu können.« Diese Eröffnung war sowenig christlich wie das, was danach kam: Nach einem anlaßgemäß vorgebrachten Sätzchen, daß Ostern das Fest der Auferstehung und der Hoffnung auf Frieden in einer erlösten Welt sei, ging es in Habecks Osterpredigt ganz ohne das christliche Beiwerk weiter. Wir seien vom Frieden weit entfernt, sagte Habeck, Putin habe den Krieg zu verwantworten, wolle und brauche ihn, um seinen wahnhaften Neo-Imperialismus umsetzen zu können, der die Einigung und Einheit Europas zerstören wolle; und weiter sagte Habeck, daß Putin, wenn er in der Ukraine gewonnen habe, fortfahren werde, weshalb wir uns vor ihm schützen müßten, indem wir die Ukraine unterstützten, und zwar mit mehr und, wie der Minister hinzufügte, auch »weiteren Waffen«; was, wie uns der Minister sagte, sich mit seinem Amtseid decke, nämlich Schaden vom deutschen Volk zu wenden. Habecks rhetorische Machwerk endet mit dem kumpelhaften Satz: »Ihnen und euch gute Ostertage!«

Und ein Machwerk ist es. Denn Ostern ist kein Fest des Durchschnaufens und auch kein Fest der gesteigerten Kriegsvorbereitung zwecks Kriegsvermeidung. Jesus sagt nicht, »Meine Taurus bringe ich euch«, er sagt: »Meinen Frieden gebe ich euch; nicht wie die Welt gibt, gebe ich euch.« (Johannes, 14,27) Das Minimum für diesen von Jesus gemeinten Frieden liegt darin, daß wir die Wahrheit tun, wie es im Johannesevangelium (3,21) heißt. Dieses Grunderfordernis erfüllt Habeck nicht, wenn er davon spricht, daß das Minsker Abkommen von 2014 Putin nicht daran gehindert habe, die Ukraine zu überfallen. Jeder, der sich auch nur oberflächlich mit der Lage in der Ukraine befaßt hat, weiß, daß diese Aussage nicht einmal als Halbwahrheit durchgehen kann. Denn seitdem die Altbundeskanzlerin öffentlich zugegeben hat, daß das Minsker Abkommen nicht in der ehrlichen Absicht geschlossen wurde, die ukrainischen Probleme zu löse, sondern nur, um der Ukraine Zeit zur Kriegsvorbereitung zu verschaffen, seitdem kann man einen Satz wie den Habecks nicht mehr sagen. Jedenfalls nicht, wenn man der Wahrheit verpflichtet ist und dank der vollen Wahrheit und mit der unverfälschten Wahrheit einen echten Frieden erreichen will.

Und daher ist das, was Habeck an Karfreitag gesagt hat, nicht nur ein Schlag gegen die Wahrheit, sondern ein Schlag gegen das Christentum. Es ist eine oberflächliche und wahrheitswidrige Rhetorik, die Ängste nicht nur bedient, sondern anstachelt und aus der militärisch katastrophalen Lage, für die Habeck mitverantwortlich ist, zynisch noch ein wenig politisches Kapital für sich selber herauspressen will.

Da muß man dem Kanzler fast schon dankbar dafür sein, daß er mit erheblich weniger Rhetorik in seiner ge-ixten Osterbotschaft mitteilte, daß »die Christen« an Ostern für eine friedlichere Welt beten, und daß daher »wir« die Ukraine im Kampf für einen gerechten Frieden so lange wie nötig unterstützen würden.

Wer dieses »Wir« sein soll, weiß ich nicht. Und es ist eigentlich auch egal, es zu wissen. Denn nicht Scholz betet an Ostern für Frieden, sondern — man muß ihm ja nur genau zuhören — »die Christen«. In dieser rhetorischen Distanzgeste liegt alles, was Ostern dieses Jahr ausgezeichnet hat: Es ist ein Fest für die anderen, die gläubigen Christen eben, zu denen man selbst als Funktionär in Kirche und Staat nicht mehr gehört, und deren Friedensgebete und Friedenshoffnungen man mißbraucht für ein »Frieden schaffen mit immer mehr und besseren Waffen«. Bis zum letzten ukrainischen Christen. Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik hatten wir soviel woken und grünroten Zynismus, der Christentum bloß noch spielt.


Der vorstehende Beitrag wurde am 5.April 2024 auf »Sezession« erstveröffentlicht. Ich drucke ihn mit einer kleinen Korrektur bezüglich des seit Ostern verflossenen Zeitraums erneut ab. Die Absatzumbrüche der Erstpublikation wurden hier in den Zustand des Typoskripts zurückversetzt.