σύνταξις | XII | syntaxis

Geschrieben von Uwe Jochum am 19.4.2024

»Wes Brot ich eß, des Lied ich sing.« Müßten wir dann nicht alles daran setzen, um einer Vermeidung von Herrschaft willen, das Brot zu vereinheitlichen? Denn nur wenn alle dasselbe Brot äßen, gäbe es keine Möglichkeit mehr, einen anderen Menschen durch besseres oder jedenfalls anderes Brot in ein Herrschaftsverhältnis zu locken. Niemand müßte mehr nach der Pfeife eines anderen tanzen, in der Erwartung, dafür mehr oder besseres oder jedenfalls anderes Brot als die vielen Anderen zu bekommen. Unmöglich? Lächerlich? Iwo. Eine Zeitlang gab es während der Französischen Revolution in Paris nur »Gleichheitsbrot«. Sagt Arnold Gehlen, der es gewußt haben wird.
(Arnold Gehlen: Moral und Hypermoral, S. 64.)

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»Die hohen moralischen Überzeugungen stehen in Abhängigkeit von einem Kriegszustand, an dem die Massen willig teilnehmen.«
(Georges Sorel: Über die Gewalt. Innsbruck: Wagner, 1928, S.256.)

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»Von Zeit zu Zeit muß man sich über den Abgrund beugen, um den Atem des Todes einzuatmen, dann kommt alles wieder ins Gleichgewicht.«
(Jean Martet: Clemenceau spricht. Berlin: Rowohlt, 1930, S.122.)

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Wenn man sich von Zeit zu Zeit über den Abgrund beugen muß, um alles wieder ins Lot zu bringen, dann fragt sich natürlich, wie groß die Abstände zwischen diesen Zeit sind. Gibt es so etwas wie historische Rhythmen, in denen sich der Abgrund öffnet und der Tod in die Geschichte hineingeatmet wird?

Machen wir ein kleines Denkspiel: 1789 läuft die Französische Revolution an, die ihren Schreckenshöhepunkt in den Jahren 1793 bis 1794 findet und 1799 mit der Machtübernahme Napoleons ausläuft. Es folgen die Napoleonischen Kriege, die 1815 mit der endgültigen Niederlage Napoleons und der Restaurationsepoche enden. Diese wird 1848 durch eine kurze Revolutionsphase unterbrochen, läuft dann aber weiter bis zum Deutsch-Französischen Krieg von 1870/1871, der die europäischen Verhältnisse fürs erste klärt, aber nicht verhindern kann, daß sich die Konfliktlage bis 1914 wieder verschärft und zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs führt. Die Niederlage Deutschlands und die von der Seite der Entente und ihren assoziierten Kriegsgewinnlern aufgezwungene Alleinschuldübernahme durch das Deutsche Reich hielt die Spannungen aufrecht, die sich ab 1939 erneut entluden und 1945 in der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands endeten. Seither ist Deutschland nach außen auf der Bühne der Weltpolitik eine vollständige Nullnummer, weil vollkommen abhängig von den USA als dem transatlantischen Hegemon, der die Melodie vorgibt, nach der Deutschland zu singen hat. Und nach innen hin ist Deutschland die erste Nullnation der Welt, die daran scheitern wird, daß ein Nationalstaat ohne Nation und also ohne tragendes Staatsvolk etwas ist, an dem die griechische Mythologie ihre Freude gehabt hätte — nämlich in der Ausmalung dessen, was geschieht, wenn sich ein ganzes Volk in das Prokrustesbett legt, das ihm von einem anderen Volk oder Völkerbund bereitet wird. Immerhin: Von 1945 an war Ruhe in der Mitte Europas, wenn auch eine erzwungene und lobotomisierte Ruhe, die sich seit, rundgerechnet, 2015 oder spätestens seit 2020 wieder in eine zunehmende Unruhe transformiert.

Die kleine Rekapitulation führt uns auf folgenden welthistorisch-europäischen Atemrhythmus (immer etwas gerundet): 1790 – 1815 – 1848 – 1870 – 1918 – 1945 – 2020. Das sind, grob gerechnet, Einschnitte im Abstand von 30 oder 60, im Maximum 70 Jahren, in denen die Weltgeschichte als Abgrundgeschichte atmet. Also in einem Rhythmus, der in etwa der Abfolge der Generationen entspricht und die Sache damit durchaus erklärbar macht: Die jeweils folgende Generation vergißt die Schmerz-Lektionen der vorhergehenden Generation und wiederholt daher, was zu wiederholen sich nicht vermeiden läßt: die emotionale Selbst- und Fremdaufputschung angesichts einer unübersichtlichen Lage, die dadurch übersichtlich werden soll, daß man sie radikal vereinfacht, und das radikalste Vereinfachungsmittel ist die Unterscheidung von »Wir« und »Die«, von Freund und Feind. Läuft dieser Mechanismus einmal an, läuft er in überraschender Weise immer schneller und immer lauter weiter, bis sich die Wir-Die-Unterscheidung endlich aggressiv entlädt und der Atem des Todes übers Land fährt.

Wie man das stoppt? Offenbar gar nicht. Offenbar muß der Atemrhythmus vollständig bleiben, muß auf das Aus- das Einatmen folgen und auf die lebensvolle Prosperitätsphase die lebenabschnürende Katastrophe, in der sich die überschüssigen Emotionen der Jetztlebenden entladen. Erst danach herrscht für einige zerknirschte Jahre wieder etwas Ruhe.

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Wer glaubt, daß sich dieser Atemrhythmus politisch leicht ausmünzen und also jemandem in die Schuhe schieben läßt, dürfte Recht haben. Nur in anderer Weise, als es sich der linke, grüne und woke Zeitgeist ausmalt, der dabei an braune Schuhe denkt, in die sich die stinkende faschistische Socke schieben läßt. Umgekehrt wird der wahre Schuh daraus: Seit der Französischen Revolution und verstärkt durch die Russische Revolution agitieren linke Ressentimentspezialisten die Massen und haben sie immer wieder erfolgreich in Rache- und Gefolgschaftsmeuten umgebaut, die den Dissidenten im Inneren ganz ebenso unerträglich finden wie den Feind im Äußeren.

Peter Sloterdijk hat katalogisiert, wie die Massenmobilisierung abläuft und welche Komponenten sie integriert: »die latent oder manifest monologische Konzeption der Beziehung zwischen dem Führer und den Geführten; die mobilisatorische Daueragitation der ›Gesellschaft‹; die Übertragung des militärischen Habitus auf die ökonomische Produktion; der rigorose Zentralismus der Führungsstäbe; der Kult der Militanz als Lebensform; der asketische Kollektivismus; der Haß gegen die liberalen Verkehrsformen; der Zwangsenthusiasmus zugunsten der revolutionären Sache; die Monopolisierung des öffentlichen Raums durch Parteipropaganda; die umfassende Ablehnung bürgerlicher Kultur und Zivilität; die Unterwerfung der Wissenschaften unter das Gesetz der Parteilichkeit; die Verächtlichmachung pazifistischer Ideale; das Mißtrauen gegen Individualismus, Kosmopolitismus und Pluralismus; die ständige Ausspitzelung der eigenen Gefolgschaft; der exterministische Modus des Umgangs mit dem politischen Gegner und schließlich die von der jakobinischen terreur abgelesene Neigung zum kurzen Prozeß, bei dem die Anklage den Schuldspruch einschließt.«
(Peter Sloterdijk: Zorn und Zeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006, S.231f.)

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Fehlt nicht etwas in dieser Liste? Ja, es fehlt die Aufhebung des Tötungsverbots, auf die Sloterdijk ebenda hinweist. Diese Aufhebung markiert den revolutionären Höhepunkt, die Schaumkrone der aufgeschäumten Emotionen.

Die hatten wir jüngst in versteckter Form. Indem der »Krieg gegen das Virus« sich vorgenommen hatte, das Virus »auszurotten« mit Stumpf und Stil, leitete er das massenmobilisatorische Emotionsmaximum scheinbar auf das Virus als den zugleich inneren und äußeren Feind um. In Wahrheit aber ging diese Umleitung stracks auf diejenigen Menschen los, die als Virusträger und Übertragungsagenten als die eigentlichen Feinde der folgsamen Gesellschaft ausgemacht wurden. Als Virusträger waren sie die inneren Feinde, die von den Freunden nicht zu unterscheiden waren, weshalb man versuchte, diese Unterscheidung durch ein »Zertifikat« öffentlich ausweisbar zu machen. Und als Übertragungsagenten waren sie die äußeren Feinde, die sich an ihrer Maskenlosigkeit und ihren montäglichen Umzügen zu erkennen gaben und ganz folgerichtig von den schnell verfügbaren und aggressiv vorgehenden Polizeikräften aus dem öffentlichen Raum geprügelt wurden. Physisch ausgerottet waren sie so zwar nicht, aber die medienmassierte Masse der staatlichen Gefolgsleute mußte die anderen, die anderes als die Staatsmedien und als der Medienstaat meinten, wenigstens nicht mehr sehen und hören. Und die besonders emotionsfreudigen Exponenten des politischen Establishments durften immerhin davon träumen, daß man die widersetzlichen menschlichen Exemplare operativ als gesellschaftlichen Blinddarm entfernen oder durch Verweigerung gesundheitlicher Fürsorge zu Tode bringen und damit loswerden könnte.