Substanz abräumen

Geschrieben von Uwe Jochum am 26.4.2024

Ein Überblick über die Themen, die in den letzten Tagen in den Medien zu finden waren, könnte ungefähr so aussehen:

  • Im Deutschunterricht sollen die Orthographiefehler nicht mehr notenrelevant sein;
  • das Gasnetz soll sukkzessive zurückgebaut werden;
  • die Frage, ob ein Mensch ein Mann oder eine Frau sei, soll jetzt keine Sache objektiver Biologie mehr sein;
  • namhafte Mitglieder der Regierung wissen zum Osterfest nichts, aber zum Ramadan Segenswünsche in schönstem Arabisch oder Türkisch zu sagen;
  • Fleisch soll man bald als Kunstfleisch herstellen können;
  • und nicht zu vergessen der Klassiker: Impfen sei immer noch besser als das Zulassen natürlicher Infektionsprozesse.

Und so weiter.

Sortiert man diese Meldungen ein wenig, sieht man recht schnell, daß es um eine Transformation unserer Kultur und unserer Natur geht, sei es die Natur außer uns, sei es die Natur in uns — eine Transformation jedenfalls, die uns von dem Schlechten, das in Natur und Kultur steckt, befreien will.

Der Geist, der hier am Werk ist, war mit der Aufklärung ans Licht gekommen. Er versprach uns, wir könnten das Schlechte in Natur und Kultur verhindern und zum Besseren wenden, wenn wir die Gesetze herausfänden, die die Entwicklung von Natur und Kultur steuern. Wir könnten uns dann von den Gängeleien der Natur und den Gängeleien der menschlichen Kultur befreien, wir würden endlich mündig werden und ohne Fremdbestimmung zu unserer Selbstbestimmung finden können.

Das war der Plan. Er ging gründlich daneben. Denn wir haben uns weder von unserer Natur noch von unserer Kultur mündig emanzipiert, sondern lediglich immer mehr Technik installiert. Damit können wir nun zwar immer mehr und immer schneller Natur und Kultur manipulieren, aber zugleich bemerken wir, daß uns dabei der Maßstab entglitten ist: Wir wissen immer weniger, in welche Richtung wir denn manipulieren sollen, damit es mit Natur und Kultur ein gutes Ende nimmt.

Da man sich aber darauf versteift hat, daß der Weg der technischen Manipulation alternativlos sei, versucht man, mit immer mehr technischer Manipulation die Probleme der technischen Manipulation aus dem Weg zu schaffen. Daher beglückt man uns in immer kürzeren Abständen mit immer komplexeren Transformationsplänen, die vom kleinsten Detail bis zum ganz Großen alles zu unserem Besten regeln wollen: Orthographiefehler und schädliche Viren sollen jetzt ebenso beseitigen werden wie die Differenz der Geschlechter und die Klimaapokalypse.

Das alles greift die Substanz an, von der wir leben. Diese Substanz wurde uns im Falle der Natur in den Schoß gelegt, und im Falle der Kultur haben unsere Vorväter durch Arbeit und Verzicht aufgebaut, wovon wir und worin wir leben: in einer Kulturlandschaft, in Städten, mit Kunstwerken. Und nun beobachten wir, daß diese Substanz beinahe über Nacht verschleudert wird. Wir sehen, daß die Landschaft zu einer mit Windrädern verstellten Industrielandschaft wird, wir sehen, wie die Städte vor unseren Augen zerfallen, wir sehen, daß Sprache, Literatur und Kunst nicht mehr gepflegt werden und die tonangebenden Politiker entweder in Babysprache mit uns reden oder einfach nur noch stottern.

Was Generationen aufgebaut haben, nun soll es endlich weg: Das Gasnetz, das man in Deutschland vor rund einhundert Jahren aufzubauen begann, soll nun, drei Generationen später, abgeräumt werden. Die Lese- und Schreibkompetenz, zu deren Aufbau es dreihundert Jahre gebraucht hat, soll nun, nach zehn Generationen, mit einem Federstrich beseitigt werden. Das alles, so sagt man uns, sei ein Fall von »schöpferischer Zerstörung«, nach der es nur noch allerbestens weitergehen könne: statt mit Gas dann eben mit Strom, statt mit Selberlesen und -schreiben eben mit einem Handy, das uns vorliest.

In Wahrheit aber führt uns diese Substanzvernichtung, die naturelle und die kulturelle, nicht in das Reich der Freiheit, sondern in das Reich der Angst. Denn wir sind mit den Substanzen, die nun abgeräumt werden, aufgewachsen; sie haben uns Wurzeln in Natur und Kultur fassen lassen und ebenjenes Weltvertrauen geschaffen, das für uns als Menschen so notwendig ist wie das Licht und die Luft, das Wasser und die Erde. Wer diese Substanzen vernichtet, nimmt uns das Weltvertrauen und stößt uns in jenen Zustand der Alarmierung und Panik und Angst, aus dem der Zyniker der Macht sein Kapital schlägt: Er verspricht uns Rettung und verspricht uns falsch, denn er beschleunigt den Substanzabbau, um uns mit noch größeren Rettungsversprechen noch fester in Angst an sich zu binden.

Das Kapital, das der Manipulator der Angst bildet, ist freilich ein äußerst flüchtiges Kapital. Es verfliegt über Nacht, wenn die Menschen die Angst verlieren und wieder zu lachen beginnen: Jemand will sie doppelt bewummsen — lachen Sie! Jemand erklärt Rußland und China den Krieg — lachen Sie! Ein Politiker wird bei einem Staatsbesuch gedemütigt — lachen Sie! Denn nichts ist für den Kapitalisten der Angst so fatal wie das lachende Aus-der-Hand-Schlagen seiner Schuldscheine und Angstmünzen.


Der vorstehende Text 23. April 2024 im Kontrafunk in der Sendung »Kontrafunk aktuell« als Tageskommentar gesendet. Die hier abgedruckte Version wurde stilistisch nocheinmal durchgesehen.