Aufheben VIII

»Ewiger Mythenstrom«. Von Büchern, die bewahren. Dem Böhmen Otfried Preußler (1923–2013) zum Hundertersten

Geschrieben von Jürgen Schmid am 30.9.2024

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Aufheben IX

Zweite Austreibung. Bücher von Heimatvertriebenen aus Böhmen


Aufheben VI

Göttinger Rekonstruktionen. Peuckerts Lehrerjahre

In der zweiten Folge zu Will-Erich Peuckert, dem aus seiner Heimat vertriebenen schlesischen Volkskundler, wurde ein Text zu den letzten Lebensjahren von Gerhart Hauptmann angekündigt — über »sein« Schlesien, dem er in vielen Dramen ein Denk­mal setzte und dessen »Untergang« (Peuckert) der Nobelpreisträger am Ende seines Lebens miterleiden mußte. Diese Bestandsaufnahme muß vorerst aufgeschoben werden, stattdessen folgt hier zunächst eine Würdigung des böhmischen Schrift­stellers Otfried Preußler, dessen Andenken von progressiven Bilderstürmern zuneh­mend beschädigt wird, weswegen es geboten erscheint, ein grandioses Gesamtwerk in seiner Fülle aufzuheben.

Der hier wiedergegebene Text wurde unter dem Titel »Cancel Culture: Ein leiden­schaftlicher Erzähler« zuerst veröffentlicht im gedruckten Heft von Tichys Einblick (Ausgabe 05/2024, S. 72–76) und ist hier auf 5artikel in der ursprünglich eingereichten, ungekürzten Version zu lesen — nebst einer kleinen Aktualisierung. Die Bebilderung stammt von Wanderungen im Isergebirge um Reichenberg, Preußlers Geburtsstadt, von der aus er mit seinem Vater die böhmische Heimat erkundet hat — jene mythische Landschaft und die aus ihr entsprungenen Sagengestalten.

Abbildung 1

»Mit dem ersten Sohn also, der vom Weibe
geboren war, fängt das große Werkzeug an,
wirksam zu werden — das Werkzeug, durch
welches das ganze Menschen­geschlecht
seine Bildung erhalten hat und fortfahren wird
zu erhalten — nämlich die Tradition oder
die Überlieferung der Begriffe.«
(Friedrich Schiller)1


Ein weltberühmter Schriftsteller darf nicht mehr Namensgeber eines Münchner Vorort-Gymnasiums sein. Zwei Jugendjahre und ein Buch werden ihm vorgehalten — unter Ausklammerung seines großen Gesamtwerkes. Ein Überblick über die vollen 90 Jahre des Lebens und Wirkens von Otfried Preußler scheint angesichts einer verrückt gewordenen damnatio memoriae angebracht.

88 weitere Jahre

1939: Mit 16 Jahren wird ein Bub im böhmischen Reichenberg Scharführer der örtlichen Hitler-Jugend, ein Jahr später deren Jungzugführer. Seine Erlebnisse bei der gemeinschaftlichen Mitarbeit auf dem Bauernhof schreibt der 17jährige auf, diese Erzählung erscheint 1944 unter dem Titel »Erntelager Geyer«, während sein Verfasser an der Front steht.

Eine selbst losgetretene »Kontroverse um Frühwerk« (Focus) hat nun das staatliche »Otfried-Preußler-Gymnasium Pullach« dazu bewogen, einen Antrag auf Loslösung von seinem Namen an den Gemeinderat zu stellen, der dem Ansinnen mehrheitlich stattgab (Josef Kraus berichtete auf Tichys Einblick). Begründung: Unverzeihlich wären jene zwei Jahre, die den nicht mehr erwünschten Namensgeber in die Hitler-Jugend und zu einem literarischen Werk über diese Zeit führten — es gehe um die »HJ-Karriere« (SZ), die Verfemung sei notwendig »wegen HJ-Roman« (Merkur). Dazu komme, daß sich der Verfasser nie von seinem »Frühwerk« in jener Form »distan­ziert« habe, wie es die Distanzierungsforderer für nötig erachten.

Nachdem dank der Aufklärungsarbeit des Pullacher Reinheitskomitees nun alles darüber bekannt gemacht wurde, was Otfried Preußler zwischen 1939 und 1941 getan hat, soll an dieser Stelle der Vollständigkeit halber darüber berichtet werden, wie die restlichen 88 Jahre seines Lebens verlaufen sind und was die Anbräuner wirklich an Preußler stört.

Wer war Otfried Preußler?

Am 20. Oktober 1923 wird dem Lehrerehepaar Ernestine Czervenka und Josef Syrowatka ein Sohn geboren, den man auf den Namen Otfried tauft — hinein in eine Welt, in der nach dem Versailler Vertrag sein böhmischer Geburtsort Reichenberg nicht mehr Teil der Habsburger Vielvölkermonarchie ist, sondern eingegliedert in die neu gegründete Tschechoslowakische Republik, eine deutsche Stadt zu Füßen des Isergebirges, die erst in Folge einsetzender Tschechisierungspolitik nennenswerte tschechische Bevölkerungsanteile aufzuweisen beginnt: Noch 1930 stehen 30.000 Deutschen nur etwas mehr als 6.000 Tschechen gegenüber.


»Von Beruf ist mein Vater Hilfsschullehrer gewesen. Gut die Hälfte
seines Lebens hat er im Dienst behinderter Kinder verbracht,
mit Tauben und Lahmen, mit Krüppeln und Schwachsinnigen.
Er war ein geduldiger Mensch, der geborene Pädagoge.«
(Selbstporträt, in: Süddeutsche Zeitung, 1985)

Der deutsch-nationale Vater und mit ihm der Sohn wechseln 1941 ihren Nachnamen, um sich nach einer Vorfahrin namens Praizler hinfort Preußler zu nennen. Überhaupt der Vater: Er geht mit dem Sohn auf Wanderschaft, wenn er seine volkskundlichen Forschungen in Bergbauden betreibt, wo er sich Sagenstoffe aus der böhmischen Heimat erzählen läßt. Erzählen ist auch die Welt von Otfrieds Großmutter — Ge­schichten aus einem umfangreichen Buch der Volksüberlieferung, das es nur in ihrem Kopf gibt. Preußlers Kleiner Wassermann (1956) huldigt einer jener Sagen­gestalten, die er aus dem Munde der Großmutter kennenlernt, sein Rübezahl-Buch (1993) beginnt mit einer Erinnerung, wie er als achtjähriger Knirps auf einer Wande­rung mit dem Vater ins Riesengebirge dem »Herrn der Berge«, der sich nicht gerne necken lässt, erstmals begegnet — in Gestalt einer riesenförmigen Gewitterwolke.

Abbildung 2

1942, wenige Tage nach dem Abitur wird Preußler als 19jähriger zur Wehrmacht eingezogen. Er sollte erst nach Jahren zermürbender sowjetischer Kriegsgefangen­schaft heimkehren, auf 40 Kilogramm abgemagert, wobei die Heimat zu diesem Zeitpunkt für alle Sudetendeutschen bereits verloren ist. Der verhinderte Heimkehrer strandet als Heimatvertriebener in Bayern.

Der Gießener Germanist Carsten Gansel fand jüngst in russischen Archiven Preuß­lers Kriegsgefangenenakte — mit bemerkenswertem Inhalt: Kleine selbstgebastelte Heftchen mit eigenen und Joseph von Eichendorffs Gedichten, eine Art Lebensver­sicherung in einem Russisch-Roulette, wo jeder Zweite starb, niedergekritzelt auf irgendwelche Papierfetzen: Kopistentätigkeit aus dem Gedächtnis, Lyrikbücher in kleinsten Auflagen, von denen man gerne wüsste, wie viele verzweifelte Kameraden sie seelisch über Wasser hielten: »Verlassen sein im fremden Land? Schau s’ist doch über mir. Der gleiche Himmel ausgespannt, grad wie daheim bei dir.«


»Kinder brauchen Geschichten, denn Geschichten sind
geistiges Brot für sie, Brot für die Seele. Sie gewinnen
daraus eine Anzahl von elementaren Stoffen, die sie
als Nahrung, als Aufbaunahrung für ihre Psyche
benötigen, die durch anderes nicht ersetzbar sind.«
(Der Schriftsteller und das Kind, 1988)

Nach dem Krieg muß sich der Flüchtling neu orientieren — er tut das im Schuldienst, als Volksschullehrer im Chiemgau. Hier beginnt das eigentliche Kapitel seines Lebens, das ihn unsterblich machen sollte: er reift zu einem unwahrscheinli­chen Weltbestsellerautor — ausgerechnet auf dem Gebiet des Kinderbuches. Nach Jahren als begnadeter Pädagoge sagt er 1970 dem Schuldienst schließlich ade, um sich ganz auf das zu konzentrieren, wofür ihn Leser in aller Welt lieben: zu beglücken mit vordergründig einfachen Geschichten über die ganz großen Dinge. Preußler stirbt 2013 hochbetagt und hochgeehrt in seiner bayerischen Wahlheimat.

Was hat Preußler geschrieben?


»Geschichten, wie sie der Vater an langen Abenden
in den Dörfern und und Baudenstuben der Iserleute
gesammelt und sich notiert hat. Geschichten,
mit denen ich aufgewachsen bin, die mich
noch heute beschäftigen …«
(Selbstporträt, 1985)

Bevor Otfried Preußler zu schreiben beginnt, brilliert er als Erzähler aus Leidenschaft. Wie seine Großmutter ihm, so hat er als junger Lehrer seinen Zuhörern — zunächst den Schülern seiner Klassen, bald den eigenen Kindern — Geschichten erzählt. So hat Preußler einen entscheidenden Schritt der Menschheitsgeschichte, den Über­gang vom gesprochenen Wort zum aufgeschriebenen, in seiner eigenen Person noch einmal nachvollzogen. Beinahe stolz sollte sich der vielfach preisgekrönte Autor später als einen »simplen Geschichtenerzähler ohne alle gesellschaftspolitischen Ambitionen« bezeichnen — unverzeihlich in progressiven Kreisen, denen alles, auch Kinderbücher, ein Poli­tikum, sprich: Ideologie ist. So kann es geschehen, daß Der kleine Wassermann von einem Verlag nicht einer Veröffentlichung würdig befunden wird — weil nicht »zeitgemäß«: »Märchen sind nicht gefragt. Schreiben Sie Umwelt­geschichten!« bekommt der Verfasser zu hören.2 Der Lektor scheint das Buch gar nicht gelesen zu haben, sonst wäre ihm nicht entgangen, das es genau das ist: eine Umweltgeschichte.

Abbildung 3


»Im Böhmischen gibt es so viele Wassermänner,
wie es im Lande Teiche und Tümpel, Bäche und Flüsse gibt.
Ab und zu geht er [der Wassermann] auf ein Bier ins Wirtshaus
des nächsten Dorfes. Dann bildet sich unter seinem Sitz
eine Wasserlache, daran erkennt man ihn.«
(Vorarbeiten zum Sagenbuch, 1988)

1951 geht Preußler dazu über, seine Geschichten aufzuschreiben, anfangs als praktizierender Pädagoge stets in Form von »Kinder- und Jugendlaienspielen« für den praktischen Gebrauch im Schulunterricht. Es entstehen mit einfachen Mitteln von Schülern selbst aufzuführende Stücke, die Kinder auf augenzwinkernde Art in die Bräuche des Jahreslaufs einführen sollen: Das Spiel vom lieben langen Jahr, Die vier heiligen Dreikönige, Lustig ist die Fasenacht, Das kleine Spiel vom Wettermachen, Das erste Brot in diesem Jahr. Ein kleines Spiel zum Erntedank, Wir klopfen an. Vier kurze Stücke für die Adventsfeiern im kleinen Kreis.


»Jeder Lehrer sollte ein bißchen zaubern können.«
(Herr Klingsor konnte ein bißchen zaubern, 1987)

Als der Autor dieser Zeilen vor zwanzig Jahren, noch zu Preußlers Lebzeiten, den Archivbestand des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbandes (BLLV) für eine Übernahme durch das Bayerische Hauptstaatsarchiv zu verzeichnen hatte, kam das »Archiv Musisches Schaffen der Lehrer« zu Tage mit seiner Sammlung kompositori­scher und schriftstellerischer Werke, geschaffen von freistaatlichen Volksschullehrern — das gesamte 20. Jahrhundert abbildend. Unter den schreibenden Lehrern ragte der Weltbestsellerautor Preußler heraus, versammelt waren hier alle seine Stücke fürs Schülertheater, im Kontext einschlägiger Werke anderer Lehrer. Dazu eine einzig­artige Dokumentation: BLLV-Mitglieder hatten es sich seit den 1960er Jahren zur Aufgabe gemacht, den Kinder- und Jugendbuchmarkt zu sichten. Ergebnis: Eine umfangreiches Konvolut an Rezensionen, was Lehrer für pädagogisch wertvoll hielten — und warum. Ein zeitgeschichtlicher Einblick in bundesrepublikanische Mentalitäten und ein Schatzfund — dachte der begeisterte Finder. Das Bayerische Hauptstaatsarchiv sah das anders — und wollte nichts davon übernehmen. (Zur selben Zeit ließ man sich den »Nachlaß Landtagspräsident Böhm« aufnötigen, der aus nichts als zahllosen Aktenordnern mit Grußworten bestand, die Referenten zusammengepinselt hatten.) Der Versuch, die Kinderbuchautoren samt Rezensions-Konvolut an der Internationalen Kinder- und Jugendbibliothek in der Münchner Blutenburg unterzubringen, scheiterte — auch dort hatte man keinerlei Interesse. Schließlich übernahm das Hauptstaatsarchiv zähneknirschend das Archiv, allerdings ohne die Rezensionen — diese wurden »ausgesondert«, ein euphemistischer Archivarsterminus für Vernichtung.


»Ich bin als Geschichtenerzähler nicht an den Schreibtisch
gebunden. Das Wesentliche, der Prozeß des Erzählens,
des Hervorbringens einer Geschichte, vollzieht sich
auf den langen, einsamen Wegen rund um Haidholzen.«
(Selbstporträt, 1985)

Der nicht überall für archivwürdig angesehene Preußler geht indes unbeirrt seinen Weg als Autor. Seine Weltkarriere beginnt 1956 ganz bescheiden — mit dem bereits erwähnten Kleinen Wassermann. Nun geht es Schlag auf Schlag: Die kleine Hexe startet 1957 durch zum Publikumsmagneten und sogleich zum Deutschen Kinder­buchpreis. Es folgt Bei uns in Schilda (1958), eine zeitlose Satire auf den sprichwörtlichen Schildbürgerstreich, mit dem sich Naivlinge selbst ein Bein stellen. Dann Der Räuber Hotzenplotz (1962, mit etlichen Fortsetzungen), eine Kriminal­geschichte der anderen Art, welche dem böhmischen Dorf Hotzenplotz, tschechisch Osoblaha, ein Denkmal setzt. Es tritt ein Dackel auf, den Preußler in Krokodilsgestalt als Polizeihund einsetzt, in einer »Fantasiewelt, die zum kollektiven Gedächtnis unserer Kindheit gehört«, wie selbst der ansonsten sittenstrenge und humorlose Norddeutsche Rundfunk unlängst eingeräumt hat. Man kann nur hoffen, daß keinem Sittenwächter die Idee kommt, im tollpatschigen Ordnungshüter »Alois Dimpfelmoser« eine Verhöhnung staatlicher Autoritäten zu wittern, die verfassungsschutzrelevant wäre, wie so vieles in letzter Zeit.

Des Erzählens ist kein Ende: 1966 erblickt Das kleine Gespenst das Licht einer Welt, die schon lange nicht mehr an Dinge glaubt, die man nicht sehen kann. 1968 erscheinen Die Abenteuer des starken Wanja als Adaption eines russischen Sagen­stoffes, wo jene Baba Jaga in ihrer Hütte auf den Hühnerfüßen auftritt, der Modest Mussorgski in seinen Bildern einer Ausstellung musikalisch gehuldigt hat. 1981 zaubert Preußler schließlich Hörbe mit dem großen Hut hervor, einen Hutzelmann, der ebenso wie der nun menschenfreundlich gewendete Waldriese Plampatsch noch aus seiner böhmischen Heimat stammt, erstmals illustriert vom Autor selbst.

Abbildung 4


»Der Weg von Bethlehem nach Ägypten muß damals,
in jenen heiligen Zeiten, durchs Königreich Böhmen geführt haben…«
(Die Flucht nach Ägypten. Königlich böhmischer Teil, 1978)

Selten verirrt sich Otfried Preußler auf das Terrain für erwachsene Leser: Die Flucht nach Ägypten. Königlich böhmischer Teil (1978) gehört zum berührendsten, was aus Preußlers Feder vorliegt, worin im schönsten böhmischen Sprachgewand der Heilige Josef sich selbst in der Stubenkrippe eines Gastwirts betrachten kann und die Heilige Familie, verfolgt von einer wildgewordenen, aber reichlich unbeholfenen Obrigkeit, mit Hilfe des Erzengels Gabriel in Eselsgesalt den kürzesten Weg vom Heiligen Land nach Ägypten nimmt, der unzweifelhaft durch Böhmen zu führen hat, woselbst alle böhmischen Heiligen, angeführt vom Ritter Wenzel, dem Erlöser huldigen.3


»Es ist Winter der Abend bricht herein, ganz fein
hat es angefangen zu schneien. Hoch auf meines Vaters Schultern
sitzend reite ich in den Abend hinein. Der Vater hält mich
an den Füßen fest, während ich mit beiden Händen nach
seinen Ohren gefaßt habe, um ihn zu lenken.«
(Erinnerungen an meinen Vater Josef Preußler, 1988)

In Preußlers Werk, so ist zu bilanzieren, spiegelt sich der Verlust der Mythe, welcher einen Verlust an Staunen, Demut, Ehrfurcht, heiligem Schauder nach sich zog. Religio, verstanden als Rückverbundenheit, wie sie der schreibende Lehrer als Kind im heimischen Iser- und Riesengebirge noch authentisch erlebt hat, in den Erzählun­gen der Großmutter und im Sagen erwandernden Vater, bleibt in seinen Büchern der Welt überliefert — buchstäblich. Es ist Preußlers Verdienst, wenn zumindest einige Flußarme des »ewigen Mythenstroms« (Leo Frobenius), der als mündlich überlieferte Traditionsweitergabe in Stifters Granit so lebendig vor Augen steht, auf uns Heutige gekommen sind. Böhmische Sagengestalten wie Wassermann oder Waldmensch Hörbe fielen den Plünderungen 1945 zum Opfer, als die Sagenkartei von Preußlers Vater von marodierenden Tschechen auf die Straße geworfen wurde — der Sohn läßt Überlieferung und Vaterandenken weiterleben, in vielen seiner Kinderbücher und konzentriert in seinem Sagenbuch Zwölfe hat’s geschlagen (1988).


»Vom Wassermann in der Iser erzählte sie [Preußlers Großmutter],
von schlauen Schneidern und dummen Teufeln, von Hexen
und Hutzelweibern, vom Riesen Plampatsch, von echten
und falschen Wahrsagern, von verwunschenen Schätzen
im Wald – und immer wieder von unserem
Lieblingshelden, dem kleinen Däumerling …«
(Viele Bücher – und eins, das es nicht gegeben hat, 1988)

Vater Preußler berichtet: »Ich habe über 25 Jahre Heimat- und Volkskundeforschung im Jeschken-Isergebirge betrieben und ein reiches Material zusammengetragen, das alle Gebiete des Lebens erfaßte. Von der Landschaft kommend, wollte ich dann das menschliche Werk in den Mittelpunkt stellen […] es sollte eine Monographie dieser Landschaft werden.« Eine volkskundliche Monographie der Landschaft, wie sie Will-Erich Peuckert für seine Heimat, das benachbarte Schlesien, vorgelegt hat, konnte Otfried Preußler stellvertretend für seinen Vater nicht nachholen. Aber die Sagen­gestalten dieser Landschaft hat er unsterblich gemacht. Überdies war Preußler, der Sohn, ein gekonnter Kulturvermittler — seine Übersetzungen des berühmten Kater Mikesch aus dem Tschechischen legen davon Zeugnis ab.

Weshalb gilt Preußler bei Linken grundsätzlich als verdächtig?

Otfried Preußler sieht sich zeitlebens ideologischen Anfeindungen aus einem be­stimmten Milieu ausgesetzt. »Er gaukle den Kindern eine heile Welt vor, verballhorne Märchen- und Sagenmotive, konstruiere sinnleere Gruselgeschichten, vermeide so­zialkritische Erziehung«, so fasst Kurt Franz die Serie der Anwürfe zusammen — eine Rufmordkampagne, die der Sprach- und Literaturwissenschaftler zu Recht kritisiert.4

Abbildung 5

Der Autor selbst reagierte auf die Verleumdungen selten, wenn aber, dann eindeutig. Er halte es für »unverantwortlich«, so sagt er einmal, »Kinder in den für sie bestimmten Geschichten mit Problemen zu konfrontieren, um deren Lösung gefälligst wir, die Erwachsenen, uns zu bemühen haben. Schon gar nicht bin ich dazu bereit, Kinder mit solchen Problemen zu ängstigen, zu verschrecken.« Seine Devise, das gibt Erfolgsautor Preußler zu Protokoll, habe »absolut nichts mit ›Heiler Welt‹ zu tun: Kinder haben ein Recht darauf, Kinder zu sein […] Menschenkinder in der Startphase ihres Lebens, ausgestattet mit einem natürlichen Optimismus ohnegleichen«. Es sei aber leider Mode geworden, so Preußler im Jahr 1988, »unseren Kindern möglichst frühzeitig mit allen denkbaren Schrecknissen einer möglicherweise apokalyptischen Zukunft bekanntzumachen«.5 So eine Einstellung kommt nicht gut an in einer Haltungsrepublik, wo inzwischen selbst in Kinderbüchern Angst vor dem Verbrennen in der Klimahölle erzeugt wird, auf Demonstrationen »gegen rechts« Kinderchöre »Ganz Hamburg haßt die AfD« skandieren und Grundschüler davon sprechen, »wir« würden der Ukraine »zu wenig Waffen liefern«.


»Was ich mit ›Krabat‹ darzustellen versucht habe,
ist die Geschichte eines jungen Menschen, der sich
– zunächst aus Neugier, und später in der Hoffnung, sich auf
diese Weise ein leichtes und schönes Leben sichern zu können –
mit bösen Gewalten einläßt und sich darin verstrickt; und wie es
ihm schließlich kraft seines Willens, mit dem Beistand eines treuen Freundes
und durch die zum letzten Opfer bereite Liebe eines Mädchensgelingt,
sich aus dieser Verstrickung wieder zu lösen.«

Komplett bierernst trat 1972 das Satiremagazin Pardon als »Gerichtshof der Moral« (Herrmann Lübbe) auf. Anklagepunkt: »Wie man Kinder vermurkst«. Täter: Otfried Preußler. »Wenn Sie Ihren Kindern so richtig schön was Schlechtes tun wollen, dann kaufen Sie ihnen zu Weihnachten einen der Bestseller von Preußler. Lassen Sie Ihre Kinder beim Zauberer Krabat in die Lehre gehen. Sie geben ihnen damit eine gute Chance, ein verkorkstes Bewußtsein zu entwickeln.« Ein größerer Unsinn kann gar nicht geschrieben werden — wer bei Preußler in die Lehre geht, erlebt in seinem Krabat (1971) die Entzauberung bösartiger Verführer und schwarzer Hexer durch etwas, was größer ist als alle Bösartigkeit, er erlebt, wie Liebe das Böse in die Schranken weist. Und zugleich liest der Krabat-Leser darüber, wie sein Verfasser in dem Sagenstoff aus der Lausitz seine traumatischen Erfahrungen mit diktatorischer Willkürherrschaft und Entrechtung in Kriegsgefangenschaft verarbeitet hat, in einem Text von unvergleichlicher literarischer und menschlicher Tiefe.

Solcherart angezählt vom linken Zeitgeist der Gutmenschen, entbrennt ausgerechnet in Preußlers letztem Lebensjahr, 2013, ein beinahe gespenstisch anmutender Exor­zismus um ein winziges Detail in seinem umfangreichen Werk. ZEIT-Feuilletonist Ulrich Greiner nennt die Angriffe auf Preußlers Integrität treffend »Die kleine Hexen­jagd« und konstatiert zur (dann vollzogenen) Absicht des Thienemann Verlages, »veraltete und politisch nicht mehr korrekte Begrifflichkeiten« aus dem Werk seines Bestseller-Autors »zu entfernen«, um die Texte »dem politischen Wandel anzupassen«: »Wie anders als Zensur oder Fälschung soll man das nennen?«


»Und wäre der Polizei auch geholfen,
wenn jemand – ihn fangen würde?«
(Der Räuber Hotzenplotz, 1962)

Nur im hysterisch aufgeheizten Klima eines Hygienewahns, der sich an »Negerlein, Türken und Indianer«, »Eskimofrauen«, »kleine Chinesinnen und Wüstenscheichs« stört, wenn sie ein Autor im Jahr 1957 (!) als kindliche Faschingsnarren auftreten läßt wie Otfried Preußler in seiner Kleinen Hexe, kann ein sogenanntes Blackfacing-Vergehen in frühester Karnevals-Jugend einem kanadischen Minister­präsidenten fast das Amt kosten. Auch der Fasching, das Fest der Verkehrten Welt, hat seinen Sinn verloren, wenn man regierungsamtlich geförderte »Narren gegen Rechts« (tz vom 13.02.2024) lustiger, ja gar subversiver findet als regierungskritische Indianer, die einen personifizierten Regenbogenkult an den Marterpfahl binden.

Abbildung 6

Es gehe darum, so Mekonnen Mesghena, stolzer Preußler-»Entlarver« und Leiter des Referats »Migration und Diversity« bei der Heinrich-Böll-Stiftung, »dass Sprache, je nachdem, ob sie inkludierend oder ausgrenzend sei, sich ›identitätsstiftend‹ oder ›spaltend‹ auf die Entstehung einer demokratischen Gemeinschaft auswirke.« Merk­würdig nur, wie diejenigen, die mit ihren völlig überzogenen Rassismusvorwürfen gegen literarische Figuren, die sich im Fasching verkleiden, selbst ausgrenzen und spalten, diese Mahnung den Kritikern der Rassismuskritik ins Stammbuch schreiben zu müssen glauben. Vollständig absurd wird es, wenn einer der identitätsstiftendsten Autoren der Zeitgeschichte, der die ganze Welt »inkludiert«, sprich: zusammenbringt in vereinter Begeisterung für die Figuren seines Werkes, der Ausgrenzung und Spaltung bezichtigt wird.

Vielleicht paßt es links-grünen systemgewordenen Systemkritikern von einst auch einfach nicht mehr in ihr momentan systemstützendes und durchweg autoritäres Politikkonzept, welch »systemkritische und anti­autoritäre Fragen« Preußlers Kleine Hexe aufwirft?


»Dieser dritte Spruch war der beste.
Sie hexte damit den großen Hexen das Hexen ab.«
(Die kleine Hexe, 1957)

Jüngst wird nun auch Michael Endes Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer beim gleichen Verlag zeitgeistig bearbeitet — einem Verlag, der jahrzehntelang Geld drucken konnte mit seinen Weltbestseller-Autoren Preußler und Ende und der nun deren Werk posthum für opportunistische Moralaposteleien verfälscht, unbehindert, ja gar mit Zustimmung der Erben dieser zensierten Schriftsteller. Susanne Preußler-Bitsch etwa, Tochter und Rechte-Inhaberin am Werk des Vaters, gibt vor zu wissen, daß »Kinder nicht be­lehrt werden wollen, sondern Geschichten hören, die der Fantasie Nahrung geben.« Warum die studierte Kulturwissenschaftlerin dann zugestimmt hat, das Werk ihres Vaters dahingehend zu »säubern«, daß Kinder eben doch belehrt werden, etwa darüber, daß sie in ihrer Faschings-Fantasie nichts über Kinder hören dürfen, die sich zwar fantasiegerecht, aber angeblich nicht mehr zeitgemäß verkleiden — ihr Geheimnis.

Abbildung 7

Welche Geister werden hier gerufen? Sogar der wohlmeinende Journalist Deniz Yücel, beileibe kein Waisenknabe beim Auskeilen gegen andere, wird als Moderator einer Podiumsdiskussion »Diskriminierung und Sprache« Opfer eines Shitstorms: »Gut zwanzig Leute versuchen zu verhindern, daß der Moderator (ich) eine Passage aus einem historischen Dokument vorträgt. Die Gruppe beginnt einen Tumult, brüllt […]. Bei dem Text, mit dem der Moderator (wieder ich) den Ärger der studentischen Aktivisten auf sich zieht, handelt es sich um die berühmte Rede von Martin Luther King aus dem Jahr 1963: ›But one hundred years later the Negro still is not free.‹ In der Übersetzung der amerikanischen Botschaft: ›Aber einhundert Jahre später ist der Neger immer noch nicht frei.‹ Antirassistische Aktivisten wollen verhindern, daß aus der Rede von Martin Luther King zitiert wird. Sie kreischen den Moderator (immer mich) an: ›Sag das Wort nicht! Sag das Wort nicht!‹«

Was passiert, wenn eine rabiate Tugendinquisition den öffentlichen Raum infiltriert? Bei Hofflohmärkten in Germering, im Landkreis Fürstenfeldbruck westlich München, betrachtet der Berichterstatter Kinderbücher in einer Garage. Der Mann, der sie verkauft, erklärt ungefragt, er hätte sie nicht durchgesehen darauf, ob sie »noch den Anforderungen unserer Zeit entsprechen« würden. Welche Anforderungen das seien, begehrt man zu wissen. Gender etwa, sagt der Mann. Und weil er nicht wolle, daß seine Kinder Neger sagen, dürfe so was nicht in den Büchern stehen. Deswegen werde vieles bei Neuausgaben jetzt umgeschrieben — Gottseidank. Es ist unwirklich: Eine Moralwächtergilde bildet sich heraus, die sich anmaßt, allgemeinverbindlich festlegen zu können, was »zeitgemäß« sei — und was jeweils einer »neuen Zeit« »angepaßt«, vulgo: umgeschrieben werden müsse. Dem zeitgeistigen Vater konnte nicht klargemacht werden, daß sein Begehren eine Reise ins Nirwana bedeutet, weil — wenn »Anpassungen« einmal begonnen werden — weiteren Anpassungswünschen kein Halten mehr gesetzt werden kann.

Was nun, Otfried-Preußler-Gymnasium Pullach?

Inzwischen hat nun der Schulzweckverband einstimmig beschlossen, daß das Preußler-unwillige Gymnasium künftig nicht mehr nach dem Erfolgsautor benannt sein soll. Es sei — so ließ Gemeinderätin Christine Eisenmann (CSU), die auch als Verbandsrätin fungiert, nach der Beschlußfassung verlauten — ein »Abschied in Würde«. Diese gewagte Auffassung vom Pullacher Umgang mit Preußler hatte sogar die durchaus progressive Wochenzeitung Die ZEIT angezweifelt. Außerdem ist der Abschied immer noch nicht endgültig, denn jetzt steht das Bayerische Kultus­ministerium vor der Aufgabe, eine sozusagen letztinstanzliche Entscheidung zu treffen. Die verantwortliche Ministerin Anna Stolz (Freie Wähler) hatte vorsorglich durchblicken lassen, den zu erwartenden Umbenennungsantrag »mit der nötigen Sensibilität« zu prüfen.


»Zugleich mit seinen fünf Sinnen, zugleich
mit Verstand und Urteilsvermögen hat Gott dem Menschen,
als einzigem Lebewesen auf Erden, die Gabe
der Phantasie verliehen — und damit ein wenig
von seiner eigenen Schöpferkraft.«
(Phantasie und Wirklichkeit – Vortrag in Tokio 1985)

Vielleicht wirft sie und ihre Beamten ja auch noch einmal einen Blick auf Preußlers vollständige Biographie und in sein Gesamtwerk, bevor der geplante Schritt vollzo­gen wird zurück zu jenem Zustand von vor zehn Jahren, als die Bildungseinrichtung noch »Staatliches Gymnasium Pullach« hieß, bevor die Schulleitung den neuen Namen »durchdrückte«, den sie jetzt genauso Hals über Kopf wieder abstreifen will.

Vielleicht führt sich die Ministerialbürokratie auch Carsten Gansels neue Biographie über Kindheit und Jugend des zu Cancelnden vor Augen, der — für Nachgeborene wo­möglich aufschlußreich — zu entnehmen wäre, was es heißt, »Kind einer schwie­rigen Zeit« (so ihr Titel) zu sein. Auch wenn der Münchner Merkur meint, dieses Buch eines renommierten Germanistik-Professors mit der unbegründeten Phrase, es gelte »in der Forschung als überholt«, vom Tisch wischen zu müssen, nachdem die Lokal­journalistin zuvor an den literarischen Preußler-»Forschungen« eines Pullacher Mathematik-Lehrers, welche dem Umbenennungs-Wunsch zu Grunde liegen, keinen Anstoß genommen hatte.

Was nun? — muß sich jetzt das Kultusministerium fragen. »Schule soll keinen Namen mehr haben«, so faßt der Merkur die Pullacher Stimmung zusammen. In den Worten von Gemeinderat Reinhard Vennekold (WiP): »Eine Schule ohne Namen ist ganz gut.« Vielleicht wäre das in einem Zeitgeist, der dem absoluten Reinheitsgebot huldigt, tat­sächlich die konsequente Lösung: Schulen heißen in Zukunft »Gymnasium München 1«, »Gymnasium München 2«, und so weiter. Und wer die Sprache wirklich von jeder Unsensibilität reinigen will, sollte dies auf allen Gebieten wirklich radikal tun.

Abbildung 8

Der Pullacher Gemeinderat Holger Ptacek (SPD), so ist der notorisch Verfehlungen anderer anklagenden Süddeutschen Zeitung zu entnehmen, befürwortete ebenfalls die Umbenennung, unter anderem deshalb, weil »der Name [Preußler] nicht zu einem Gymnasium passt und nichts mit Pullach zu tun hat.« Der Preußler-Biograph Tilman Spreckelsen schrieb in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, es sei keine Frage, wer bei einer Umbenennung mehr zu verlieren habe — »die Schule oder der bisherige Patron«. Ein Weltautor wie Otfried Preußler ist immer in der Welt zu Hause und Millionen Leser in dieser Welt haben in Übersetzungen in 55 (!) Sprachen mit ihm und seinem Werk zu tun — unbeschadet davon, ob sich eine Schule in einem Münchner Vorort dafür entscheidet, sich selbst aus dieser Welt zu verabschieden.

Neues von einer Hängepartie

Ein halbes Jahr war Ruhe um Pullach und seine Preußler-Verbannungsabsicht. Pünktlich zu Beginn des neuen Schuljahrs rauscht es nun wieder im Blätterwald: »Umbenennung stockt« (Donaukurier), »Entscheidung steht noch aus (tz München). Obwohl die Münchner Abendzeitung insinuiert, die Debatte ginge weiter, scheint den meisten Redaktionen die Lust daran vergangen. ZEITonline übernahm wie praktisch alle überregionalen Medien schlicht und uninspiriert die dpa-Meldung »Preußler-Gymnasium: Neues Schuljahr mit ungeliebtem Namen«. Darin heißt es: »Eine Sprecherin des Kultusministeriums sagte auf Anfrage, die Prüfung der von der Schule gewünschten Umbenennung laufe, werde aber nicht mehr in den Ferien abgeschlossen. Einen Zeitpunkt zum Abschluss des Verfahrens nannte die Sprecherin nicht.« Eine Hängepartie also. Die kultusministeriellen Mühlen zu München werden doch nicht etwa eine wirkliche »Prüfung« des Gesamtwerkes von Otfried Preußler in Hinblick auf seine Eignung als Namensgeber einer bayerischen Schule im Jahr 2024 vornehmen?

Letzter Stand: »Das Kultusministerium hat das Gymnasium um weitere Angaben gebeten, ehe es über eine Rückbenennung der Schule entscheidet.«

Das Ende der Farce als Farce

Nachtrag vom 28. Oktober 2024

Nun also ist die Pullacher Schule den ungeliebten Namen los — aber auf anderem Wege als alle gedacht haben: Susanne Preußler-Bitsch, Tochter des Autors und Rechteinhaberin, zog die Notbremse in einer inzwischen obszönen Hängepartie, welche seit Monaten durch die unmerklich langsam mahlenden kultusministeriellen Entscheidungsmühlen verursacht wurde — sie zog die Namensrechte zurück. Aber eine Farce vom Ausmaß des Pullacher Vorortzwergenaufstands gegen einen Schriftsteller von Weltrang darf nicht zu Ende gehen ohne einen neuen Tiefpunkt. Den setzt der einst durchaus ehrbare Focus in seinem Bericht (jedenfalls dem, was man dort für einen »Bericht« hält) zum Skandal-Ende. Die dortigen Redakteure (oder Chat GPT?) sind offenkundig nicht in der Lage, die dpa-Meldung zu verstehen, die sie als Text ausgeben, wenn sie im redaktionseigenen Antexter dazu das Gegenteil der Meldung behaupten. Während die Kopierfunktion korrekt arbeitet, als man verlauten läßt, Preußlers Tochter habe sich entschieden, »die Namensrechte zurückzuziehen« (dpa, so bei Focus), ignoriert der/die/das Focus-Selbstschreiberling im hausgebastelten Intro den Sachverhalt souverän und stellt die Kausalität auf den Kopf: »Die Schule in Pullach verzichtet auf den Namen Otfried Preußler. Preußlers Tochter begrüßt die Entscheidung.« Die Schule »verzichtet« mitnichten großzügig auf etwas, sondern wollte ihren vor zehn Jahren selbstgewählten Namensgeber schnöde vom Hof jagen. Und Preußlers Tochter begrüßt rein gar nichts am Gebaren der Pullacher Verantwortlichen, sondern spricht von einem »unwürdigen und rufschädigenden Umgang der Schule mit dem Erbe ihres Vaters«. Lesen scheint weder bei den Pullacher Preußler-Verächtern noch bei ehemals satisfaktionsfähigen Qualitätsmedien hoch im Kurs zu stehen. Die Sachbearbeiter samt Ministerin im bayerischen Kultusministerium haben sich durch ihre Hinhaltetaktik erfolgreich um die Nachprüfbarkeit ihrer Lesefähigkeit gedrückt.

»Wer Otfried Preußler wirklich gelesen hat, eignet sich nicht zum kalten Macht­menschen, Opportunisten und Denunzianten.« (Carsten Gansel)

Anmerkungen

  1. Friedrich Schiller, Etwas über die erste Menschengesellschaft nach dem Leitfaden der mosaischen Urkunde. In: Friedrich Schiller. Sämtliche Werke. Band IV: Historische Schriften. Herausgegeben von Peter-André Alt. Frankfurt am Main u.a.: Büchergilde Gutenberg, 2004, S. 767–783, hier S. 770 f. 

  2. Zitiert bei: Günter Lange: Otfried Preußlers Leben und Werk. In: Kurt Franz, Günter Lange (Hrsg.): Der Stoff, aus dem Geschichten sind. Intertextualität im Werk Otfried Preußlers (Schriftenreihe der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur; 44). Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 2015, S. 15–27. 

  3. Der Herausgeber von 5artikel, Uwe Jochum, schrieb mir zur Lektüre: »Ich habe Preußlers Flucht aus Ägypten mit großem Vergnügen und allerlei Erhellungseffekten gelesen. Die Erhellungseffekte lagen allesamt auf der Ebene der Geographie und der Kultur: nämlich dem erzählerischen Streifzug durch die deutsch-tschechische Mischkultur, die ja völlig ausgelöscht wurde, bis zu dem Grad, daß ich versuchte, die Reise der heiligen Familie auf Karten nachzuvollziehen und mein moderner Atlas sich dem Nachvollzug verweigerte, einfach deshalb, weil dort die alten deutschen Ortsnamen allesamt getilgt sind. Ich fand dann im Internet eine alte österreichische Karte, auf der man mit dem Finger so halbwegs mitreisen konnte.« 

  4. Kurt Franz (Hrsg.): Mit Geschichten verzaubern. Otfried Preußler zum 100. Geburtstag. München: Verlag Sankt Michaelsbund, 2023, S. 37. 

  5. Zitiert nach: ebd., S. 37 f.