Aufheben XI

Die andere Sicht. Konservative Verlage I. Literatur

Geschrieben von Jürgen Schmid am 25.10.2024

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Hüter der Schuld


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Hüter der Schuld

»Kulturelles Gedächtnis, Saatgutregale, Gen-Bank. Wir müssen’s aufbewahren. Alles.« (Götz Kubitschek1)


In Zeiten, wo die Schaffung von Diskontinuitäten offenbar Staatsräson geworden ist, so daß ein »Diskontinuitätsprinzip« verfassungsrichterlichen Segen erhalten kann, wo alle Brücken zu Traditionen abgebrochen werden sollen und Bestände bestenfalls noch dazu dienen, daß »linksliberale« Denunzierwillige ihr Mütchen daran kühlen, indem sie alles verächtlich machen, was Wert und Substanz hat — in solchen Zeiten ist Kontinuitätswahrung ein besonders hohes, weil akut bedrohtes Gut. Man könnte es auch so formulieren: Das Sichtbarhalten dessen, was wache »Sichtbar«-Macher von etwas, das es gar nicht gibt (wie eine Unzahl von Geschlechtern), unsichtbar machen wollen, hat die Räson derer zu sein, welche der Destruktivität des offiziellen Furors etwas Konstruktives und Bleibendes entgegenstellen wollen.

Kontinuität wahren, sichtbar halten, Bestände sichern und wertschätzen, getreu dem biblischen Motto »Prüfet alles, das Gute aber behaltet« — die Notwendigkeiten und Möglichkeiten solchen Aufhebens versucht diese Reihe an Fallbeispielen zu zeigen. Schlägt man im Grimm’schen Wörterbuch unter »aufheben« nach — und den Buchstaben A besorgte Jacob Grimm ja bekanntlich selbst — findet sich zuerst die Bedeutungsebene eines »in die höhe hebens« (1), in einem von mehreren biblischen Grimm’schen Beispielen: »denn du wirst dein andlitz zu gott aufheben. Hiob 22,26«; sodann der Vorgang, »einen liegenden, knienden aufheben« (2), also: zu sich auf Augenhöhe emporheben, wie es Joachim Fernau am Beispiel Ottos des Großen erläutert hat (was der erste Teil »Von Büchern auf der Straße« erzählt).

Der durchs Land rasende Bildersturm erinnert aber daran, welche Ambivalenzen und Spannungen in einem Wort wie »Aufheben« mitschwingen. Denn in der gegen­wärtigen Destruktionslust tobt sich eine unserer Intention geradezu gegenläufige Bedeutung aus — ein Wegnehmen, Tilgen, Abschaffen (9), von Jacob Grimm zuvorderst alttestamentarisch belegt: »ich werde ir gedechtnis aufheben unter den menschen. 5 Mos. 32,26«; in der Stuttgarter Erklärungsbibel wiedergegeben als:

»Es soll aus sein mit ihnen, ich will ihren Namen tilgen unter den Menschen«, eine damnatio memoriae also, ganz im Sinne unserer Bilderstürmer.

Was die Aufgabe aller Kontinuitätswahrer sein sollte, eine Intention »entgegengesetzt der neunten bedeutung, dem wegnehmen«, wie Grimm es formuliert: das Aufheben als Gegenteil von Wegwerfen und Destruieren, also Bewahren und Behalten (13), wie es — ebenfalls im ersten Teil gleich zu Beginn zitiert — von Ernst Wiechert als Notwendigkeit aufgerufen wird. Und schließlich, ganz alltagspraktisch gedacht: »als ein davon tragen« und im Besitz »behalten« (8) — »wie der vogel aufpickt, aufhascht, der hund auffängt, hebt der findende den apfel, das geld [oder ein weggeworfenes Buch] vom boden auf und trägt es mit sich«.

Solch ein Kontinuitätswahrer wird sich in seiner Vorstellung davon, was »unser Wesen geformt« hat, was er für »die Quellen unseres individuellen Lebens« hält, wesentlich von einem Zeitgenossen wie Klaus Mann unterscheiden. Dieser beginnt seinen »Lebensbericht« Der Wendepunkt (1942) mit einer Suche nach Kontinuitäten. Er glaubt, daß wir »tiefer verwurzelt« sind, »als unser Bewußtsein es wahrhaben will«; ist überzeugt, daß niemand »zusammenhanglos« lebt, sondern im Kontinuum eines »urväterlichen Ritus«, den er wiederholt und an die Nachkommen weitergibt. Doch was er im »Zwielicht der Höhle«, wie er die Vergangenheit nennt, findet, ist nichts als »die Schuld der Ahnen«, »die Last vergessenen Kummers und vergangener Qual«. Er hört lediglich »Schreie vom primitiven Altar«, sieht allein »die Flamme, die das Opfer verzehrt«. Kontinuität ist ihm nur Weitergabe von Unordnung und Leid: »Lebendig« bleiben »atavistische Tabus« und »inzestuöse Impulse« der Vorfahren, wenig mehr.2

Ein Kontinuitätswahrer, wie ihn Aufheben sucht, wird sich der dunklen Seite des Menschseins nicht verschließen. Jedoch wird er, anders als Klaus Mann, diese nicht fürs Ganze halten und ob ihrer Existenz nicht in Manns Fatalismus verfallen. Er wird eher mit Leopold Kretzenbacher in der »Begegnung mit dem Volk«, mit den Zeitgenos­sen wie mit den Ahnen, dessen »Art« zu ergründen suchen, »das Leben zu meistern, es zu erleiden und zu erdulden, auf jeden Fall zu bestehen«.3 Wer könnte diese Lebensfülle in all ihrer Ambivalenz besser beleuchten als ein Schriftsteller?

Wurden in der letzten Folge von Aufheben bereits einige Verlage — Antaios, Manu­scriptum, Frank & Timme — en passant gestreift, die Historikern, deren Geschichts­darstellungen aus der Öffentlichkeit weitgehend getilgt sind, eine Plattform bieten, so soll an dieser Stelle am Beispiel von Schriftstellerwerken ein Überblick gegeben werden über jene Aufheber (und die Schwierigkeiten ihrer Bemühungen), die als »umstritten«, »unzeitgemäß«, »antimodern«, »rechts« markierten und damit aus dem Mainstream verdrängten Geistesgrößen, die uns etwas zu sagen haben über die conditio humana, über anthropologische Grundkonstanten, über das, was immer gilt, einen Ort des Weiterlebens schaffen. Und es wird der Versuch angestellt, eine Art Typologie der Gründe zu erstellen, warum Autoren aus dem Korridor fallen, nebst der Mecha­nismen, wie Mißliebiges denunziert wird.

Peter Bamm und Werner Bergengruen — vergänglicher Ruhm

Wie vergänglich literarischer Ruhm und Gunst beim Publikum sind, belegt das für uns Heutige kaum glaubhafte Umfrageergebnis, das am 18. Juni 1967 in der Spiegel-Titelgeschichte »Was denken die Studenten?« präsentiert wurde: Am Vorabend der systemstürzenden Achtundsechziger-Bewegung zählten »etablierte Bürger-Literaten« wie Werner Bergengruen, Hermann Hesse und Peter Bamm in der Bundesrepublik zu den häufig gelesenen Autoren im studentischen Milieu. (In Berlin stand der Jung­akademiker »weiter links« — dort wurden Bertolt Brecht, Peter Weiss und Rolf Hoch­huth »höher als in Westdeutschland geschätzt«.) Studenten der Sechziger Jahre begeistern sich für den katholischen Essayisten Bamm, der Frühe Stätten der Christenheit (1955) aufsucht und in Welten des Glaubens (1959) einführt? Sie vertiefen sich in Bergengruens Lobgesang auf den letzten Rittmeister in der 1966er Ausgabe des Bertelsmann Leserings, halten einem Autor die Treue, dem ein Fischer-Klappentext im Jahr 1956 bescheinigt, er kreise um »die ewigen Ordnungen und die unauflösliche Verflechtung von Deutschtum und Christentum«4?

Bergengruen und Bamm sind heute bestenfalls Fälle für Flohmarkt und Antiquariat (Bergengruen kommt dabei auf sagenhafte 2.600 Einträge bei ZVAB), ein ähnliches Schicksal wie es auch Ernst Wiechert ereilt hatte — seine Hirtennovelle etwa fand man bis vor kurzem im vornehmen Villenviertel Alt-Solln am Münchner Isar-Hochufer bei einer distinguierten älteren Dame. (Zu Wiecherts »Renaissance« gleich mehr.)

Über Bergengruens gegenwärtigen Stellenwert urteilt ein Antiquar lapidar: »Altpapier«. Auch wenn sich seit kurzem eine Bergengruen-Gesellschaft um das Ansehen des Dichters in unserer Zeit sorgt, im Buchhandel sucht man sein Werk größtenteils vergebens. Letzte Neuausgabe: Die kleine Novelle Der spanische Rosenstock, erstmals erschienen 1940, wiederaufgelegt 2021 im traditionellen Bergengruen-Verlag Die Arche in Zürich. Dort — wo Bergengruen inzwischen als »Urheber*in« seiner Texte geführt wird — ebenfalls lieferbar: Der Tod von Reval. Mehr ist nicht. Nicht einmal Der Großtyrann und das Gericht, jener schillernde Widerstandsroman aus dem Jahr 1935, obwohl noch 1984 von den Literaturscharfrichtern Marcel Reich-Ranicki und Walter Jens für Wert befunden, in ihre »Bibliothek des 20. Jahrhunderts« aufgenommen zu werden.5 In seiner Altersweisheit hat Literaturpapst MRR später ein völlig anderes, vernichtendes Urteil über Bergengruen gesprochen: »Warum sollte man ihn immer wieder drucken? Und wozu sollte man seine verstaubten Werke immer wieder kommentieren?«6

Und Peter Bamm? Machen Sie die Probe aufs Exempel: Fragen Sie einen Studen­ten, meinetwegen der Literaturwissenschaften, nach seinem Namen … Bamm liegt oft nur noch zum Mitnehmen auf der Straße. Dabei thronten seine Bücher dreimal auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste, zuletzt 1966 Alexander oder die Verwandlung der Welt. (Zur selben Zeit Kassenmagnet im Buchhandel: Carl Zuckmayers Auto­biographie Als wär’s ein Stück von mir, 37 [!] Wochen Nummer Eins. Inzwischen — auch nur noch Flohmarktware.)

Wir haben Bamms Kriegsbericht von der Ostfront, Die unsichtbare Flagge (1952),7 auf einem Flohmarkt im bestbürgerlichen Lehel aufgehoben, mit einer unerwarteten Zugabe — Widmungszeilen des Theologen Helmut Gollwitzer, Schüler und Nach­folger Karl Barths in Bonn: »… die Aufgaben angreifen, die Gott uns vor die Füße gelegt hat, und nicht von ihm weg sich auf Probleme stürzen, deren Lösung er sich offensichtlich selbst vorbehalten hat.«8 Bamm selbst beschreibt seine, eines Stabs­arztes, Seelenlage im Spätherbst 1942: »Wenn man Krieg führt, kann man schwer anders als in den Kategorien von Sieg und Niederlage denken. Auch das ließ sich nicht mehr auf einen Nenner bringen. Man konnte den Sieg nicht wirklich wünschen. Die Herrschaft des primitiven Mannes, der beschränkte Hochmut der Anderen [die »Anderen« sind bei Bamm die Nazis] nach einem Sieg — eine schreckliche Vorstel­lung! Noch viel schrecklicher aber war die Vorstellung einer Niederlage.«9

Was schließlich sollen einer Hysterie, die täglich anordnet, eine Entität, die sie »diewissenschaft« nennt, kritiklos zu verehren, was sollen einem solch bockelson’schen Furor, der besonders heftig unter Studenten wütet, Bamms altertümlichen und metaphorisch brillanten Reflexionen zur Aufgabe von Wissenschaft, zumal da sie auf einer religiös-christlichen Gründung allen Tuns beharren, was einer Todsünde in den Augen moderner Rationalitätsgläubiger gleichkommt?

»Der die Welt betrachtende und erforschende Geist hat Natur und Geschichte zum Gegenstand von Wissenschaften gemacht. Man sollte meinen, daß es die Aufgabe dieser Wissenschaften sei, danach zu forschen, welcher Sinn in Natur und Geschichte verborgen stecke. Kepler sagt im fünften Buch seiner ›Kosmischen Harmonie‹: ›Indem ich mich daran gemacht, dem menschlichen Verstande mit den Hilfsmitteln des geometrischen Kalküls in Gottes Schöpfungsweg Einblick zu verschaffen …‹. […] Die Naturforscher haben im Lauf der letzten hundert Jahre das Ziel, mit ihrer For­schung den Sinn im Geschehen der Natur zu entdecken, aus dem Auge verloren — Goldschmiede, die an einer Krone hämmern für einen König, den sie schon enthaup­tet haben. Warum eine Blume schön sei, ist keine wissenschaftliche Frage mehr. […] Die Schönheit ist aus dem Reich der Naturwissenschaft verbannt worden.«10

Fast hätten wir es vergessen: Peter Bamms Autobiographie Eines Menschen Zeit von 1972 kann beim Buchhändler Ihres Vertrauens — als einziges seiner Werke — noch beziehungsweise wieder geordert werden — herausgegeben von den Berliner Breitkopf Editionen 2015, in einem hippen Comic-Umfeld!

Woran scheitern Neuauflagen in Zeiten der Wachheit?

Ein grundsätzliches Problem jedes Versuchs, Lese-Kontinuitäten durch Neuausgaben vergriffener Werke zu wahren, zeigt sich an den Beispielen Peter Bamm (1897–1975) und Werner Bergengruen (1892–1964): Die Urheberrechte beider Gesamtwerke sind noch nicht frei — will heißen: unentgeltlich für jeden verfügbar, der etwas aus diesen Werken nachdrucken möchte —, sondern bis 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers in der Verfügungsmacht der Erben gebunden.

Die neueste, winzige Publikations-Hommage an Bergengruen in der Züricher Arche dürfte sich lediglich einem Restchen an Pietät gegenüber der Tradition des Hauses als Veröffentlichungsort von Bergengruen (und Benn!) verdanken. Einer Bergen­gruen-Renaissance, ausgelöst durch Verlage, die sein Werk wieder zu pflegen beginnen wollten, stehen zwei Schranken entgegen: Zum einen das erwähnte Urheberrecht. Und zum anderen die Denunziationserfolge des etablierten Literatur­betriebs gegen den Autor. »Linksliberale« (beziehungsweise schlicht opportunistische) Main­stream-Verlage haben somit keine Veranlassung, einen aus ihrer Sicht zu recht aussortierten »Angestaubten« (MRR) wiederzubeleben. Und Interessenten, die auf der rechten Seite des Spektrums siedeln, haben denkbar schlechte Karten, über­haupt in Verhandlungen über einen Rechteerwerb eintreten zu können, wenn die Erben und Rechteinhaber nicht gerade selbst diesem Milieu zuneigen.

Daß vom Sechziger-Jahre-Bestseller-Autor Bamm gar nichts mehr neu aufgelegt wird, dürfte einem anderen Phänomen geschuldet sein: Nicht eine negative Markie­rung verhindert dessen anhaltende Präsenz im Buchhandel, sondern der Umstand, daß er (wohl in jeder Hinsicht) als »überholt« gilt, und die demographische Wirk­lichkeit, in der ihm schlicht sein Publikum abhanden gekommen ist.

Ernst Wiechert — solitärer Fall und Exemplum

Wieder anders stellt sich die Sachlage bei einem Autor dar, dessen stark gesunkener Marktwert vorstehend ebenfalls kurz erwähnt wurde: Ernst Wiechert (1887–1950), bezüglich Stil und Weltanschauung — wie Bamm — ebenfalls nicht wirklich mit den herrschenden Geschmackstendenzen konvenierend. Im Falle des unbeugsamen Ostpreußen sind die Rechte seit vier Jahren frei, ein Umstand, den sich auf »solche« Gelegenheiten spezialisierte Verlage wie Anaconda (inzwischen im Rachen des Münchner Molochs Penguin Random House fast verschwunden) zu nutze machen, sofern sie eine auch noch so kleine Umsatzmöglichkeit wittern. Folgerichtig ist dort Wiecherts — zumindest dem Titel nach vermeintlich an zeitgeistige Sinnsucher an­schlussfähigstes Buch — Das einfache Leben, ein Aussteiger- und Widerstands­roman aus dem Jahr 1939, soeben wieder aufgelegt worden.

Zuvor schon hatte ein anderer, weniger bekannte Spezialist für die Wiederverwertung frei verfügbaren Textmaterials, eine ominöse »Henricus – Edition Deutsche Klassik GmbH« mit Sitz in Berlin in ihrer »Edition Hofenberg« in rascher Abfolge seit 2021 einige der bekanntesten Wiechert-Titel auf den Markt geworfen — den Erzählband Die Flöte des Pan (1930) und die Hirtennovelle (1935), dazu die Romane Die Magd des Jürgen Doskocil (1932), Die Majorin (1934) sowie Die Jeromin-Kinder (in zwei Bänden, 1945/1947). Beide Verlage sind nun nicht gerade das, was für einen Autor wie Ernst Wiechert als natürliches Habitat gelten könnte, sondern eher konturlose Gemischtwarenläden ohne erkennbaren literarischen Anspruch und vor allem: ohne Kontext- und Resonanzraum.

Nun gibt es bei Wiechert aber ein beinahe sagenumwobenes — im heutigen Jargon »umstrittenes« — Frühwerk, von dem sich der Autor nach der sogenannten »Macht­ergreifung« 1933, als ihm dieses Werk karrieristisch nützlich hätten sein können, selbst öffentlich distanziert hatte: Der Wald (1922) und Der Totenwolf (1924). Diese Romane sind von keinem der genannten Verlage ins Programm genommen worden, sondern 2021 vom rheinland-pfälzischen Lindenbaum-Verlag. Der wiederum wurde vom Gerichtshof Wikipedia der Kontaktschuld überführt — Urteilsbegründung: Bei Lindenbaum platziere man Hinweise auf »wichtige Bücher anderer Verlage«, zum Beispiel »auf Bücher vom Verlag Antaios, welcher dem Spektrum der Neuen Rechten zuzuordnen ist.« Und so wird dem potentiell Interessierten mit erhobenem Zeigefinger bedeutet, daß es sich nicht gehöre, sich mit den krass orchestrierten Heimkehrer­romanen eines Frontsoldaten des ersten Weltkrieges zu beschäftigen, die zugleich einen Einblick in eine verlorene deutsche Landschaft vermitteln — Ostpreußen.

Daß Wiechert von dem über jeden Zweifel erhabenen »katholischen Gewissen« Reinhold Schneider 1950 als jener Dichter gepriesen wird, welcher dem »Gefühl für die Schwingungen der Seele, die von jenseits der Weichsel komm[en, …] die Klang­gestalt seiner Dichtung gegeben« habe, »östliche Musik, durchzogen vom Refrain der Naturgewalt und von der Stille«, solches Urteil ficht die modernen Moralisten nicht an. Dabei müßte das »linksliberale« Milieu ja nicht jedes Mal aufheulen, wenn ein von ihnen mißtrauisch beäugter Autor mit seinem Werk einen Verlag findet, der diesen Wohlmeinenden nicht gefällt — wäre diese Blase nur liberal und interessiert genug, im von ihr dominierten hauptströmenden Literaturbetrieb Stimmen wie die von Ernst Wiechert in Eigenregie weiterhin verfügbar und damit hörbar zu halten.

Siegfried von Vegesack — von Kindlers Literaturlexikon ausgestoßen

Wie sehr die offizielle spätbundesrepublikanische Erinnerungspolitik das Eigene ver­drängen will, zeigt die Umbenennung des »Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa« durch die Grüne Claudia Roth. Daß ihre staats­ministeriell angeordnete Streichung des spezifisch deutschen Beitrags zu dieser Geschichte nicht den Beginn eines Eliminierungsprozesses darstellt, sondern eher einen traurigen Endpunkt, zeigt die schon längst erfolgte Tilgung des deutsch­baltischen Schriftstellers Siegfried von Vegesack aus dem literarischen Gedächtnis: Kindlers Literatur Lexikon führt sein opus magnum Die Baltische Tragödie 1965 als »Chronik ›ohne jede Ausschmückung‹« im Range eines Klassikers, in der Bearbeitung von 1992 »als subjektives Dokument einer vergangenen feudalen Lebensform«, und in der dritten Auflage 2009 gar nicht mehr — ein bemerkenswerter literaturpolitischer Dekanonisierungsprozess.11

Was der Germanist Günter Scholdt konstatiert — ein Erlöschen des »Interesse[s] an auslandsdeutschen Schicksalen in dem Maße, wie die Erlebnisgeneration als Käufer und Kritiker ihren Einfluss verliert«12 —, hatte Folge 9 von Aufheben am Beispiel der Sudetendeutschen versucht zu belegen. Auch Vegesack dreibändiges, stark auto­biographisch eingefärbtes Werk, erschienen als Gesamtausgabe erstmals 1936 — es umfaßt eine Zeitspanne zwischen 1888 (der Geburt des Autors wie seines Prota­gonisten Aurel) und dem Ende des Ersten Weltkrieges mit seinem apokalyptischen Folgen für die Baltendeutschen — geriet komplett aus dem Fokus einer breiten Leserschaft, obschon es zeitweise in beachtlich hohen Auflagezahlen kursierte.

Vegesack zeichnet aus eigenem Erleben ein Panorama von Normalität und Ende baltendeutschen Lebens, ein Endzeit-Epos, das Scholdt in die Nähe von Josef Roths Radetzkymarsch rückt. »Am Beginn«, so jener Verlag, welcher Die Baltische Tragödie des Aufhebens für wert befindet, »entfaltet sich in berührenden Bildern das Leben auf einem großen Gutshof, poetisch, unverkitscht und mit wachem Auge für die soziale Wirklichkeit geschildert.« In der Tat ist sich Vegesack der »gläsernen Wand« zwischen »Herrschaftskind«, das er selbst ist, und dem vielfach heißgeliebten Dienstpersonal schmerzlich bewußt.

Es gibt Die baltische Tragödie im Buchhandel, allerdings nicht in einem großen Literaturhaus, sondern beim Grazer Leopold Stocker Verlag. Von der Generalaus­richtung ein landwirtschaftlicher Fachverlag, erscheint in der Reihe »Die vergessene Bibliothek« auch Literatur, die von Wikipedia als »rechtskonservativ bis rechtsextre­mistisch« etikettiert wird. Damit ergibt sich der für Eingeweihte lachhaft anmutende Umstand, daß darunter nicht nur Vegesacks Baltische Tragödie subsumiert wird, sondern auch Horst Langes grandioser Schlesien-Roman Schwarze Weide,13 beides Bücher, die im »Dritten Reich« erschienen sind und doch nichts weniger tun, als nazistische Ideologie zu propagieren. Für viele potentielle Interessenten aber, die dieses Vorwissen nicht haben, dürfte die Wikipedia-Markierung eine fast unüberwind­liche psychologische Brandmauer vor die Kaufentscheidung hochziehen.

Was bleibt in der links gewendeten Germanistik14 unserer Tage von diesem Schrift­steller? Als aufschlußreiches Dokument des herrschenden Zeitgeists sei die Lehrer­handreichung »Eine transkulturelle Liebesgeschichte im postkolonialen Estland« des Kölner Germanisten Rolf Füllmann zu Vegesacks Erzählung Jaschka und Janne genannt. Wer progressiven Academia-Sprech mag, kommt in diesem Text auf seine Kosten. Es ist erstaunlich, welche Wortungetüme ein deutscher Literaturwissen­schaftler über einer Liebesgeschichte aufhäufen kann: Der Leser lernt ein »trans­nationales Paar« kennen, dessen literarische Existenz seiner »transkulturellen Polyperspektivität« wegen für heutige Schüler von Interesse sei. Man folgt dem Germanisten über den Embach/Emajõgi in Dorpat/Tartu »ans andere Ufer verbotener Transgressions-Erotik«, weil sich ein adeliger deutscher Student unstandesgemäß in eine estnische Näherin verliebt (»sie verführt Jaschka zur offenen Transgression über die Grenze der Ethnien und Geschlechter«) — eine »von der Erzählinstanz evozierte postkoloniale [an anderer Stelle »binationale«] Romeo-und-Julia-Konstellation«.

Was interessiert einen deutschen Germanisten an einer Liebesgeschichte? »Gender-Transgression« (natürlich). »Gender-relevante Machtverhältnisse in dieser Paar­beziehung«. Und die »Frage, ob der Text im Kontext einer transkulturellen Literatur­wissenschaft und -didaktik unterrichtsrelevant ist«. (Ansonsten widmet jemand wie Füllmann seinem Lehrer eine Festschrift mit dem Titel Der Mensch als Konstrukt.) Wenn Vegesack berichtet, daß estnische Bauernsöhne in der Vorkriegszeit »immer zahlreicher die Hörsäle der Universität bevölkerten«, »bietet sich [für Füllmann] ein Transfer zu heutigen Migrationsgesellschaften an«. Die »män­nerbündischen Riten« der Dorpater Studenten seien »Anlass zu kritischen Diskussionen im Deutschunter­richt«. Historische Ereignisse und ihre literarische Darstellung sind in dieser Sicht nur noch ein Steinbruch, aus dem man sich heraus­brechen kann, was ins aktuelle Welt­bild paßt. Erlebten und erzählten Leben wird — über die Nutzbarkeit für links-popu­listische Tendenz-Erzählungen hinaus — keinerlei Eigenwert zugestanden. So kann man Literatur lesen. Ob das sinnvoll ist, steht auf einem anderen Blatt.

Gerd Gaiser — Bölls verdrängter Gegenspieler

Wer kennt noch Gerd Gaiser (1908–1976)? Die wenigsten selbst unter Lesenden auch nur dem Namen nach, fast niemand wird ein Buch von ihm jemals in der Hand gehabt haben. Neulich geriet mir seine Sterbende Jagd (1953) in die Hände, ein autobiographisch grundierter Jagdfliegerroman, ausgesondert und abgestellt in einem der sogenannten Bücher[weggabe]schränke, die momentan jedes Stadtviertel und immer mehr Dorfplätze bevölkern. Bei der Gelegenheit fiel mir die Erkenntnis wie Schuppen von den Augen, daß der ehemalige Erfolgsautor nie auf Flohmärkten feilgeboten wird. (Warum dies, trotz einst hoher Auflagezahlen, so ist, wäre eine Frage für sich.)

Wiederum ein Straßenfund, der Gaisers einstige Bedeutung illustriert: ein kleines Heftchen Erzählungen der Gegenwart (1969), das irgendwo im wohlstandsgrünen Haidhausen herumlag, darin Lesenswertes für Schüler »vom 15. Lebensjahre an«. Einträchtig nebeneinander: Werner Bergengruen, Bertolt Brecht, Stefan Andres, Siegfried Lenz, Karl Waggerl, Luise Rinser, Wolfgang Borchert — und Gerd Gaiser.15 Und in Haerkötters Deutscher[r] Literaturgeschichte »für den Schulgebrauch« werden zur »Dichtung unseres Jahrhunderts« (u.a.) vorgestellt: Gottfried Benn und »die Arbeiterdichter«, Brecht und Bergengruen, Wiechert und Zuckmayer, sodann Gaiser zwischen Böll und Borchert, Günter Eich und Horst Lange.16 Nicht lange danach beginnt das vollständige Verschwinden Gaisers aus dem Buchhandel, den Medien und damit der Öffentlichkeit — zuletzt erscheint 1998 eine Neuauflage des Schlußball (1958) bei Fischer.

Wie kam es, daß Gaiser, dieser Vielgelesene, heute komplett aus dem Gedächtnis gelöscht zu sein scheint? Die Antwort klingt fast zu banal: Er ist — seit seinem Roman­erfolg Eine Stimme hebt an (1950) — der bundesrepublikanische Nachkriegsroman­cier, aber leider nicht links,17 weshalb sein Platz leergeräumt werden muß für einen anderen: Heinrich Böll. Räumdienst: Marcel Reich-Ranicki.18

Wer Götz Kubitscheks »Autorenporträt Gerd Gaiser« liest und den Wikipedia-Eintrag zum Autor mit seinen Verweisen auf Reich-Ranicki, Jens und Hermann Bausinger, kann man nicht glauben, daß diese Texte denselben Menschen porträtieren. Ranicki etwa nimmt Gaiser jene Zivilisationskritik übel, die er Hamsun erlaubt. Jens setzt in der Bundesrepublik sein Engagement gegen »Entartete Literatur«, das er 1942 im NS-Studentenbund begann, konsequent fort. Hermann Bausinger (1926–2021), Germa­nist und Volkskundler in Tübingen, unkt über das Werk seines Landsmanns spürbar denunziatorisch: »Es ist eine Moral der engen Horizonte; es geht um die Bewährung im Kleinen.« (Bei Gaiser im Original: »Wir haben so viele Ordnung vergessen oder zu­schanden gemacht, daß wir uns jetzt an das wenige halten müssen, was noch gilt.«) Vier Einsprüche gegen Bausinger: Es ist das Urteil eines Mannes, der in 94 Lebens­jahren über die Enge Tübingens nie hinauskam, wovon ihn selbst wohlwollende Schüler nicht lossprechen können. Es ist die Verurteilung des eigenen Tuns, wo doch Volkskunde die »Wissenschaft vom ganz Kleinen« ist, »die so gern über das große Ganze reden würde«.19 Es stellt alle Werte auf den Kopf, weil »Bewährung im Kleinen« kaum negativ gesehen werden kann. Und es ist schiere Heuchelei, wenn »Volkskunde-Papst« Bausinger stolz ist, Vorreiter der Wende seines Faches hin zu eben jenem »Hochmoralischen« gewesen zu sein, das er Gaiser zum Vorwurf macht.

Bei Gaiser gelang die damnatio memoriae sehr gründlich. Zur Zeit ist sein Werk in toto nur antiquarisch erhältlich. Ausnahme mit Einschränkung: Das Schiff im Berg (1955) wurde 2022 in die Mäander-Reihe bei Antaios aufgenommen, erhältlich allerdings nur für Abonnenten. Der Antaios-Verleger Götz Kubitschek und Erik Lehnert bespielen dazu den Kanal Schnellroda mit Literaturgesprächen zu bedeu­tenden Schriftstellern, darunter Gerd Gaiser und Ernst Wiechert.

Während Gaiser, dessen Bücher durchgängig bei Hanser erschienen,20 in Antiquariaten überwintern muß, wird sein Antipode Böll — ungeachtet des Antiquarsurteils, seine Bücher seien unverkäufliches Altpapier — weiterhin in voller Breite von Kiepenheuer & Witsch gedruckt, womit massenhaft Böll in Buchhandlungen steht, aber kein Gaiser. (Von dem Böll, der als Namensgeber einer politischen Stiftung medial ohnehin omnipräsent ist, einmal abgesehen.) Zugleich mit Bölls Aufstieg zum Nobelpreis verschwindet Gaiser in der Versenkung, ein Lehrstück aggressiver Literaturpolitik. So entscheidet eine politisierte Kultur­bewirtschaftung, was in der Öffentlichkeit sichtbar ist — und was nicht.

Wer aber wissen will, wie die Menschen wurden, was sie waren, der muß – so Verleger Kubitschek — Gaiser lesen. Schon deshalb, um ein Gegengewicht kennen­zulernen zu dem bisweilen allzu holzschnittartig zeichnenden Böll, Beispiel Billard um halbzehn (1959): Architekt Fähmel hält bei Kriegsbeginn 1914 den Kaiser für einen »Narren« und »wartete vergebens auf Gefühle, die ich mit denen da unten [den Kriegsbegeisterten] hätte teilen können«. Wer für das Gute steht, hat keine Makel. Unter dieser Prämisse werden in der SBZ/DDR auch Falladas Eheleute Quangel aus Jeder stirbt für sich allein (1947) zurechtgestutzt, weil sie als Widerstandskämpfer zuvor nicht Hitler-Anhänger gewesen sein dürfen — wie es der Autor geschrieben hat.21

Richard Hasemann — aus der Zeit gefallen

Ein Autor, der in den 1950er Jahre als Stimme seiner Generation bundesweit Beach­tung fand, ist heute so gründlich vergessen, als hätte es ihn und seine Romane — es sind nur drei, die es aber in sich haben — nie gegeben: Der bayerische Notar Richard Hasemann (1905–1986). Sein Name und Werk finden in keiner der einschlägigen regionalen Literaturgeschichten Erwähnung; nicht einmal das Generalthema, um das er kreist, der Erlebnishorizont der Kriegsheimkehrer, wird in diesen Kompendien für thematisierenswert erachtet.22

Hasemann ist einer der unwahrscheinlichsten Autoren, die sich denken lassen. Wie aus dem Nichts erscheinen 1952 und 1953 in atemloser Abfolge bei Günther Neske in Pfullingen Nasses Brot (1952), Südrand Armjansk (1952) und Gejagt (1953). Was unter überlebenden Frontkämpfern als gültige Schilderung von Kriegs- und Ge­fangenentraumata galt, vielbesprochen und gerühmt in allen Zeitungen des Landes, wirkt wie ein Irrläufer in der Biographie seines Verfassers — weder zuvor noch danach trat der Jurist als literarischer Autor in Erscheinung. Schreiben hieß für Hasemann offenkundig, den Gespenstern, die ihn jagten, wenigstens temporär zu entkommen. Als er gesagt hatte, was ihn umtrieb, verstummte er.23

Niemand anders als Ernst Jünger singt sein Lob: »Allnächtlich lese ich jetzt ›Nasses Brot‹. Das Buch macht einen außerordentlichen Eindruck auf mich. Noch an keinem Punkte der Weltliteratur [!] fand ich die Begegnung mit dem Elementarreich so überzeugend und schonungslos geschildert wie hier. Das Buch muß unter einem Albdruck geschrieben sein. […] Ich halte es für sehr wichtig, daß es nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Welt bekannt wird.«24 Der Germanist Norman Ächtler stimmt in diesen Hymnus ein, wenn er Nasses Brot zum »literarisch Hoch­wertigsten (und diskursiv Aufrichtigsten)« zählt, was zu Kriegsgefangenenschicksalen von deutschen Soldaten geschrieben wurde.

Diesen Autor, der sich aus freien Stücken aus der Literatur zurückzieht, hat niemand willentlich verdrängt, er ist einfach irgendwann aus der Zeit gefallen, sein Ton und seine Sicht der Dinge haben den dafür aufnahmefähigen Leser verloren. Wenn Kriegsheimkehrerliteratur einer Betrachtung unterzogen wird, dann durch eine Literaturwissenschaft, die jene Zeitzeugenberichte meint ins Zwielicht »Soldatischer Opfernarrative« setzen zu müssen,25 ohne den Zeitbildern und der Literatur ihren Eigenwert zu belassen — wie es neuerdings Antaios in Neueditionen von Südrand Armjansk und Nasses Brot wieder getan hat. Diese Wiederauflagen, wie auch jene Gaisers im selben Verlag, gehören im konservativen Verlagsspektrum zu den bemerkenswerten Ausnahmen, wo verfemte und/oder vergessene Schriftsteller nicht nur irgendwo auf den Markt gebracht werden, sondern in einem Biotop wiederangesiedelt, in dem ihr Werk zur Entfaltung kommen kann.

Südrand Armjansk heute zu lesen, würde allen gut zu Gesicht stehen, die im Ukraine-Krieg vom sicheren Berliner Schreibtisch aus »Waffen, Waffen, Waffen« fordern wie Ralph Fücks von der grünen Denkfabrik »Liberale Moderne«. Hasemann schildert, wie er (bzw. sein Alter Ego Seemann) an einer »Ablaufstelle« darauf wartet, abgerufen zu werden, in dem Wissen, daß seine Chance, das »Todesrennen« zum Ufer des Flusses zu überleben, den seine Einheit unter russischem Beschuß zu überqueren hat, nicht groß ist.

Günter Eich — die verdächtige Seite von Tages- und Jahreszeiten

Einer der Stars bundesrepublikanischer Nachkriegsliteratur ist der Lyriker Günter Eich (1907–1972),26 dessen Gedichtsammlung Abgelegene Gehöfte (1948) einen beinahe schwindelerregenden Dichtegrad an Qualität aufweist, dessen Werk — wie dasjenige Gaisers — lange zum Standard der Schullektüre gehört. Ihn konnte nicht einmal seine Mitglied- und Preisträgerschaft in der Gruppe 47 vor der Verfemung retten, er gilt inzwischen als »angebräunt«, unter anderem aufgrund der grenzdebilen Denunziation, er habe an die ewige Wiederkehr geglaubt, etwa von Tages- und Jahreszeiten, und dieser Wiederkehr in vielen Naturbildern in seiner Lyrik Raum gegeben, was quasi faschistoid wäre.

Wer am Abend aus dem Fenster schaut und dabei festzustellen glaubt, daß es dunkel wird, und wer davon ausgeht, daß es am nächsten Morgen wieder hell wird, der erweist sich damit als Rückwärtsgewandter, vulgo: »Ewiggestriger«. Wer dagegen den Untergang der Sonne und ihren morgendlichen Aufgang für eine »Vorstellung« hält, sprich eine Art Halluzination ideologisch Verblendeter, solch ein progressiver Rationalist gehört zu den Guten, den »Demokraten«. So läßt sich der zentrale Anklagepunkt des Germanisten Axel Vieregg (1938–2020) in seiner Invektive »Anti­modernismus und Idylle beim frühen Günter Eich« zusammenfassen. Dort steht zu lesen, daß Konservative »die Vorstellung einer zyklischen Wiederkehr, in Tages-, Jahres- und Lebenszeiten« hätten, was ihren nicht genug zu kritisierenden »Anti­modernismus« begründen würde.27

Vieregg ist es auch, der mit seiner Verdächtigung, der Dichter hätte »bewußt für den nationalsozialistischen Staat optiert«,28 1993 von Neuseeland aus (!) die sogenannte »Eich-Debatte« lostritt, deren Disputationen er wiederum drei Jahre später selbst do­kumentiert.29 Man hätte Eich eine englandfeinliche Hörfunkarbeit aus der Kriegszeit nachgewiesen, von der man bisher nichts wußte — was zum einen so klingt, als hätten Spürhunde verzweifelt gewühlt, um dem Ungeliebten endlich etwas anhängen zu können, und andererseits beinahe rührend lächerlich wirkt vor dem Hintergrund, daß die Inquisitoren suggerieren, Eich hätte etwas verheimlicht, was er veröffent­licht, also dem größtmöglichen Publikum ausgesetzt hat.

Zudem spielt der junge Eich als Brotarbeit — und eher unmotiviert30 — den »Königs­wusterhäuser Landboten«, in einer »Idyllenproduktion, die an Matthias Claudius’ ›Wandsbecker Bothen‹ anknüpfte«.31 Am 4. Oktober 1933, zu Erntedank,32 beginnt eine monatliche Radiosendefolge, die bis Mai 1940 insgesamt 90 Folgen ausstrahlt, über »Brauchtum, Bauernregeln, deutsche Märchen- und Sagenwelt, Schönheiten der deutschen Landschaft«33 — für nachgeborene Ankläger: unverzeihlich.

Die Debatte, so wurde später resümiert, sei deshalb so heftig ausgefallen, weil Eich eine »Stellung als literarisch und moralisch maßgebliche Instanz der deutschen Nach­kriegsliteratur« eingenommen habe. Was aber, wenn jemand seine hervorgehobene Stellung in der bundesdeutschen Nachkriegselite auf eine Selbstinszenierung als moralische Instanz gründet, um spät, sehr spät, bereits mit Nobelpreisehren aus­gezeichnet, beim Häuten der Zwiebel damit zu kokettieren, daß er selbst in jungen Jahren SS-Mann gewesen sei?

Günter Eich hat von allen Verfemten noch am ehesten seinen einstigen Status bei­behalten — sein Verlag Suhrkamp führt ihn nach wie vor als Autor (wenn auch mit lächerlichem Binnen-I). Und im Scharfrichterorgan Wikipedia wird »Die Debatte um Eichs Wirken im NS-Regime« zwar erwähnt, nimmt aber wenig Raum ein.

Versuch einer Typologie von Kontinuitätsunterbrüchen

Was haben die hier Vorgestellten Schriftsteller gemeinsam — und wo verlaufen die Unterschiede in deren Gerade-noch-Duldung oder eben Nicht-mehr-Akzeptanz im »besten Deutschland, das wir jemals hatten«?

Aus der Zeit gefallen (»verstaubt« in progressiven Wertekategorien) sind sie — nach den Maßstäben der Erwachten jedenfalls — allesamt. Für einige wenige wie Peter Bamm und Richard Hasemann, darunter gar Verfolgte des Nazi-Regimes wie Ernst Wiechert, aber auch für eine Mystikerin des 20. Jahrhunderts wie Gertud von le Fort34 gilt: sie sind »nur« aus der Zeit, aber (noch?) nicht in Ungnade gefallen.

Im Lande geblieben sind sie ebenfalls alle während der zwölf Jahre, zu der manche Antideutschen die deutsche Geschichte gerne zusammenschrumpfen würden — und stehen — wenn sie nicht überzeugte Parteigänger waren — somit unter dem in wohl­meinenden Kreisen zum Stigma erklärten Stempel »Innere Emigration«. Warum er geblieben ist im Reich des Bösen, das mußte sich sogar ein Liebling der Links­liberalen wie Erich Kästner zu Lebzeiten (und postum noch aggressiver) fragen lassen, ein von den Nationalsozialisten verbrannter Dichter.

Viele damals Lebende wurden ex post moralisch gewogen und zu leicht befunden von den Nachgeborenen, weil sie nicht offenen Widerstand geleistet haben — und mit dieser Unterlassung schon fast der Kooperation überführt wären. Einigen wurden Überzeugungshorizonte als Verfehlungen angedichtet, die unter allen Umständen denkbar sein müssen: Zivilisationskritik, Großstadtskepsis, Antimodernismus, gene­rell: Rückwärtsgewandtheit. Dieses Verdikt traf im Besonderen Günter Eich, aber auch Gerd Gaiser. Letzterer stand zudem in der Nachkriegszeit als konservativer Bestsellerautor einem linken Nobelpreiskandidaten im Weg, aus dem er mittels Intrigen um jeden Preis geräumt werden mußte.

Mancher wurde — wie der Deutschbalte Siegfried von Vegesack — als angeblicher Revisionist regelrecht dekanonisiert, ein bemerkenswerter literaturpolitischer Vor­gang und/oder — ebenfalls Vegesack — von einer linksdrehenden Literaturwissen­schaft für deren Ideologiespielchen mißbraucht, in dem ihrem Werk ahistorisch postmoderne Interpretationsfesseln angelegt werden.

Das letzte: Edwin Erich Dwinger — vom Enkel denunziert

Kaum zu unterbietender moralischer Offenbarungseid: Der Enkel wird zum stolzen »Nestbeschmutzer« — und baut seine Schauspielerkarriere auf dem Grab eines Fami­lienangehörigen. Raphael Dwinger stellt ein »Dokumentartheaterprojekt« zusammen, das seinen Großvater Edwin Erich Dwinger, Autor des erschütternden autobiographi­schen Romans Zwischen Weiß und Rot. Die russische Tragödie 1919–1920,35 zum Ausbund des zu Verteufelnden stilisiert, unterstützt und finanziell gefördert von der Armada der üblichen Verdächtigen wie den gleichgeschalteten Kulturinstitutionen inklusive des Kulturreferats der Stadt München. »Nestbeschmutzung«, so der Titel, ist Raphael Dwingers erste Duftmarke in der Öffentlichkeit als junger Schauspielstudent, der damit eingestiegen ist ins Aufmerksamkeitserringungsspiel seiner Branche, wie seine Vita relativ freimütig zu Protokoll gibt. Die gratismutige Rechnung ging erwart­bar auf: Das Pamphlet auf der Bühne wurde bei seiner Uraufführung 2011 im »Süd­deutschen Beobachter« (Michael Klonovsky) gefeiert als »starker Abend« — »ein Muss.«

Denunziation als Muß — das scheint die Devise von »Linksliberalen« in diesen Zeiten. Wer Wertschätzung von Überliefernswertem für ein Muß hält, wird das andere Ufer wählen.

Epilog zur Buchmesse

Die Sonderbeilagen der Zeitungen zur Frankfurter Buchmesse sind da — ich hatte das Vergnügen, jene der Augsburger Allgemeinen in die Hände zu bekommen. Die angepriesenen Romane: zeitgeistige Befindlichkeitsnabelschauen über Dortmund-Nazis, Frau, die mit Afrikanern chattet, »Familie, Erinnerung, Horror­filme«, Frau, die mit Mutterrolle kämpft, erneut Nazi-Furcht, wo keine Nazis sind (usw.). Es scheint sich wenig zum Besseren gewendet zu haben in deutschen Romanlanden: Vor Jahren rühmte ein ZEIT-Nerd unter der sympathisch-unironischen Titelzeile »Ich will Ich« als »fesselndste Texte« (Freud?) einen »queerfeministischen Ansatz« zur Ent­larvung von Sexismus, die In-vitro-Fertilisation einer Lesbierin und Klagen über White Supremacy.36 (Die unappetitlichen Details seien den Lesern dieses Blogs erspart.)

Im Vergleich mit (west)deutscher Nachkriegsliteratur in toto (also von — nota bene! — links wie Grass und Böll bis rechts): Was ein Unterschied. Am Werk jener Schrift­steller, die von konservativen Verlagen des Aufhebens für Wert befunden werden, läßt sich leicht erkennen, was heute in der Literatur (und nicht nur da) fehlt: Ernst­haftigkeit, Gültigkeit, Zeitlosigkeit, Substanz, Themen, die existentiell sind und die Versuche breiter Massen des Volkes, das Leben zu bestehen, repräsentativ abbil­den. Hasemann hat Gültiges gesagt für die Generation der Frontsoldaten; Gaiser und Wiechert die Schicksale von Kriegsheimkehrern in einer Zeit der Mangelwirt­schaft in unvergessliche Bilder gegossen; und Vegesack — ähnlich wie Josef Roth für die Habsburgermonarchie — das Untergangsbuch baltendeutschen Lebens hinter­lassen. Nicht zuletzt: Alle diese heute vergessenen Schriftsteller waren Virtuosen unserer Muttersprache. Was ist gegen diese große Literatur mit Sitz im Leben des Volkes das stammelnde Ego-Kleinklein wohlstandsverwahrloster Minderheiten?

Was eine US-amerikanische Dissidentin namens »Lily« auf ihrem Substack-Blog schreibt (und Oliver Driesen auf seinem Blog TWASBO seinen deutschen Lesern in Übersetzung zur Lektüre nahelegt), könnte die Kurzformel für meine Motivation sein, die Aufheben-Serie auf 5artikel zu betreiben: Eine »Rückbesinnung auf grundlegende moralische und spirituelle Werte«, die »mit der universellen menschlichen Erfahrung harmonieren«, wäre »kein Rückschritt, sondern eine notwendige Neukalibrierung, um die Komplexität der modernen Existenz mit Weisheit aus der Quelle von Tradition und Ethik zu meistern.« Alle in dieser Folge vorgestellten Schriftsteller haben ihr Werk einem solchen Vorhaben gewidmet, wenn sie »universeller menschlicher Erfahrung« in ihrer und ihrer Leser Lebenswelt eine Sprache verschaffen.

Anmerkungen

  1. https://sezession.de/68309/hinter-den-linien-tagebuch, Eintrag vom 2. Januar 2024. 

  2. Klaus Mann: Der Wendepunkt. Ein Lebensbericht. Berlin und Weimar: Aufbau, ²1979, S. 9. 

  3. Leopold Kretzenbacher: Ethnologia Europaea. Studienwanderungen und Erlebnisse auf volkskund­licher Feldforschung im Alleingang. München: Trofenik, 1986, S. 1. 

  4. Klappentext des Verlags auf der Ausgabe Werner Bergengruen: Der Tod von Reval. Kuriose Geschichten aus einer alten Stadt. Frankfurt am Main, Hamburg: Fischer Bücherei, 1956. 

  5. Ein paar Stunden nach Abfassung dieser Zeilen fand sich vor einem Haus in Haidhausen in einer Verschenkkiste dies: Werner Bergengruen: Der Großtyrann und das Gericht. Roman. München: Nymphenburger Verlagshandlung, 1957 (Die Bücher der Neunzehn; 36) [Erstausgabe 1935], Exemplar einer Schullektüre um 1960, innenliegend handschriftliche Charakterisierung der Figur des Tyrannen. — Werner Bergengruen: Der Tod von Reval. Kuriose Geschichten aus einer alten Stadt. Berlin und Darmstadt: Deutsche Buch-Gemeinschaft, 1954 [Erstausgabe 1939]. — Werner Bergengruen: Pela­geja. Ein Roman. Berlin und Darmstadt: Deutsche Buch-Gemeinschaft, 1957 [Erstausgabe 1947]. — Ernst Wiechert: Hirtennovelle. München: Albert Langen / Georg Müller, ohne Jahr [Erstausgabe 1935]. — Ernst Wiechert: Die Jeromin-Kinder. Roman. München: Zinnen-Verlag Kurt Desch, 1945 (11.-20. Tausend). 

  6. Zitiert aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung nach Günter Scholdt: Bergengruen heute. In: Bergengrueniana I. Im Auftrag der Werner Bergengruen-Gesellschaft herausgegeben von Eckhard Lange, Berlin 2012, S. 71-97, hier S. 72 mit Anm. 3. 

  7. Peter Bamm: Die unsichtbare Flagge. Ein Bericht. München: Kösel, ³1952. 

  8. Gollwitzer hatte ein Jahr zuvor seinen eigenen Weg in sowjetischer Kriegsgefangenschaft geschil­dert, ein Buch, das zum Bestseller wurde: Helmut Gollwitzer: … und führen, wohin du nicht willst. Bericht einer Gefangenschaft. München: Kaiser, 1951. 

  9. Bamm: Flagge (1952), wie Anm. 7, S. 174. 

  10. Peter Bamm: An den Küsten des Lichts. Variationen über das Thema Aegaeis. München: Kösel, 1961, S. 5 (in einer späteren, ohne Jahr erschienen Knaur-Lizenzausgabe). 

  11. Günter Scholdt: Innere Emigration und literarische Wertung. In: Kanon, Wertung und Vermittlung. Literatur in der Wissensgesellschaft. Hrsg. von Matthias Beilein, Claudia Stockinger und Simone Winko. Berlin, Boston: de Gruyter, 2012 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur; 129), S. 123-143, hier S. 140f. 

  12. Ebd., S. 141. 

  13. Niedergeschrieben am 6. Oktober 2024, dem 120. Geburtstag von Horst Lange. 

  14. Wer der Linkswendung in ihrer ganzen Pracht und Blüte teilhaben mag, vertiefe sich in Jost Hermand: Geschichte der Germanistik. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1994 (Rowohlts Enzyklopädie; 534). — Nicht grundlos feiert das Neue Deutschland Hermand als »sozialistischen Germanisten«: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1157526.jost-hermand-geschichtsbewusster-grenzgaenger.html

  15. Erzählungen der Gegenwart III. Hirschgraben-Lesereihe. Ganzschriften für die Schule. Reihe I: Deutsch. 14. Auflage. Frankfurt am Main: Hirschgraben, 1969. 

  16. Heinrich Haerkötter: Deutsche Literaturgeschichte. 29. Auflage. Darmstadt : Winklers Verlag, 1961, 1966, S. 100–135, S. 128f. (Gaiser) — Der Autor ist Diplom-Handelslehrer an der Höheren Handelsschule Opladen. 

  17. Frei nach Ephraim Kishon, welcher in seiner unnachahmlichen Art zu Protokoll gab, er sei »leider kein linksgerichteter Autor« (Henning Klüver: Warten auf Nobel, ZEITmagazin vom 31. August 1984, S. 14–16), was ihm keine Vorteile bringe, denn das »literarische Establishment« wäre »in der ganzen Welt links«. 

  18. Günter Scholdt: Nachkriegsliteratur 3 — Säuberungen des Kanons. Sezession 109, August 2022, S. 58–62, hier S. 60f. 

  19. Richard Kämmerlings: Plapperkrähen kriegen kein Telegramm. Wer braucht die bunten Vögel? Die Deutsche Gesellschaft für Volkskunde tagt in Halle. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. Oktober 1999, Nr. 238, S. 54. 

  20. Eine zugegeben ziemlich sinnlose Suche nach Gaiser unter den »Autor:innen« des heutigen Hanser Verlags auf dessen Homepage brachte naturgemäß (Thomas Bernhard) ein negatives Ergebnis. 

  21. Es gibt im linken Milieu auch Ausnahmen von dieser Regel: Alfred Andersch etwa läßt in Sansibar oder der letzte Grund (1957) auch Kommunisten ein paar Ecken und Kanten, manchen ihre Zweifel, ja sogar die ein oder andere Fehlbarkeit. — Ganz kraß gegenteilig, relotiesk eindimensional dagegen: Klaus Manns Porträt des »Persers« Hans. P., eines Freundes aus Jugendtagen, der plötzlich in SA-Uniform vor dem Dichtersohn steht, das so konstruiert klingt und so bösartig daherkommt, als hätte es eine Spiegel-Redaktion samt mitgeliefertem Wunschkatalog der Charaktereigenschaften (»faul«, »gefräßig«, »himmelschreind ungebildet«, »kleinbürgerlich«, »ambitionslos«, »überzeugungslos«, mit Minderwertigkeitskomplexen beladen und sich zum »Herren« aufschwingen wollend) bei einem Lohnschreiber mit dem »Karnevalsnamen« (Michael Klonovsky) Claas Relotius bestellt: Mann: Wendepunkt (1942/1979), wie Anm. 2, S. 328–330. 

  22. Vgl. hierzu u.a.: Karl Pörnbacher (Hrsg.): Die Literatur im 20. Jahrhundert. München 1981 (Bayerische Bibliothek; 5): Die Anthologie enthält zwar ein umfangreiches Kapitel »Aus dem ersten Weltkrieg«, S. 520–558, allerdings sucht man vergeblich nach entsprechendem über den Zweiten Weltkrieg im Kapitel »Kontinuität und Neubeginn«, S. 891–1041. — Wolfgang Frühwald: Literatur von der Zeit der ersten bis in die Zeit der zweiten Republik (1920–1956). In: Albrecht Weber (Hrsg.): Handbuch der Literatur in Bayern. Vom Frühmittelalter bis zur Gegenwart. Geschichte und Interpretationen, Regensburg 1987, S. 460–464: Das einschlägige Kapitel »Literatur in Bayern im ersten Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg [1945–1956]« klammert die »Kriegserinnerungen« der Frontsoldaten aus. — Gleiches gilt für: Hans Pörnbacher: Schwäbische Literaturgeschichte. Tausend Jahre Literatur aus Bayerisch Schwaben. Weißenhorn 2002 und Alfons Schweiggert / Hannes Macher (Hrsg.): Autoren und Autorinnen in Bayern. 20. Jahrhundert. Dachau 2004. — Schließlich verzichtet in neuster Zeit auch das online redigierte Literaturportal Bayern auf jegliche Erwähnung Hasemanns: https://www.literaturportal-bayern.de/autorinnen-autoren

  23. Jürgen Schmid: Die Wiederentdeckung eines schwäbischen Autors, der nach drei Bestsellern verstummte. edition:schwaben 2/2009, S. 86–94. 

  24. Ernst Jünger an seinen Verleger Günther Neske, 7. Juni 1952. Abgedruckt im Klappentext der Erst­ausgabe von »Südrand Armjansk«. 

  25. Norman Ächtler: Generation in Kesseln. Das Soldatische Opfernarrativ im westdeutschen Kriegs­roman 1945-1960. Göttingen: Wallstein, 2013. — In schwer verdaulichem universitärem Jargon wird die These des Untertitels aufgefaltet: »Die westdeutschen Kriegsromane gießen das Soldatische Opfer­narrativ in ein literarisches Konfigurationsmodell, das als entscheidende ›systemprägende Dominante‹ des Genres angesehen werden kann: die Figur der Einkesselung. […] Die Autoren, die diese Figur in ihren Texten immer wieder umsetzten, versuchten damit ein und dieselbe Grundaussage zum Aus­druck zu bringen: Der deutsche Soldat des Zweiten Weltkriegs mag auch Täter gewesen sein, vor allem aber war er eines seiner Opfer.« (ebd., S. 22). Den Autor dieser Zeilen beschleicht offenkundig ein mulmiges Gefühl bei der Vorstellung, daß Deutsche in der Zeit zwischen 1933 und 1945 tatsäch­lich Opfer gewesen sein könnten, weswegen er die üblichen Diffamierungsmechanismen gegen die Autoren aus der Frontkämpfergeneration in Gang setzt, wie es Aufheben für den Fall der Heimat­vertriebenen nachgezeichnet hat, die ebenfalls nicht Opfer sein dürfen, sondern Täter zu sein haben. 

  26. »›Alles, was geschieht, geht dich an.‹ Der Dichter Günter Eich.« Bayerischer Rundfunk 1982. — Großartig altmodisches Filmportät von Jürgen Moeller, das mit einem mehr als zweiminütigen Blick auf die Oder (ohne Schnitt!) beginnt, während ein Gedicht Eichs zu seiner Heimat zitiert wird. 

  27. Axel Vieregg: »Mein Raum und meine Zeit«. Antimodernismus und Idylle beim frühen Günter Eich. In: Martin Raschke (1905–1943). Leben und Werk. Herausgegeben von Wilhelm Haefs und Walter Schmitz. Dresden: Universitätsverlag, 2002, S. 121–144. 

  28. Axel Vieregg: Der eigenen Fehlbarkeit begegnet. Günter Eichs Realitäten 1933-1945. Eggingen: Edition Isele, 1993. 

  29. »Unsere Sünden sind Maulwürfe«. Die Günter Eich-Debatte. German Monitor 36. Herausgegeben von Axel Vieregg. Amsterdam: Rodopi, 1996. 

  30. Günter Eich brieflich an seinen Freund und Kollegen Martin Raschke, Mitarbeiter beim Königs­wusterhäuser Landboten, am 11. September 1933, in Vorbereitung der ersten Sendung: Er habe etwas vom Grünen Heinrich, von Stifter aus dem Hochwald, dazu Bauernregeln. »Ganz das Richtige ist das alles nicht. […] Vielleicht findest Du noch etwas über Kirmes, Weinernte und Fruchtzeiten, die in den Oktober fallen« — also ganz nach dem Motto: Schmier’ halt irgendwas zusammen, wir brauchen das Geld. Begeisterung, gar bewußtes Optieren für ein System, klingt sicher anders. — Das Zitat aus dem Eich-Brief nach: Hans-Ulrich Wagner: Günter Eich und der Rundfunk. Essay und Dokumentation. Veröffentlichungen des Deutschen Rundfunkarchivs 27. Potsdam: Verlag für Berlin-Brandenburg, 1999, S. 122. 

  31. Wilhelm Haefs: »Raschke, Martin«. In: Neue Deutsche Biographie 21, 2003, S. 160–161. 

  32. Deutscher Kalender: Oktober. Ein Monatsbild vom Königswusterhäuser Landboten. DS 21.00-22.00: Wagner: Eich und der Rundfunk (1999), wie Anm. 30, S. 121–123. 

  33. Ebd., S. 49. 

  34. Vor hundert Jahren erschienen Gertrud von le Forts Hymnen an die Kirche (1924): »Herr, es liegt ein Traum von dir in meiner Seele, aber ich kann nicht zu dir kommen, denn alle meine Tore sind verriegelt! / Ich bin belagert wie von Heerscharen, ich bin eingeschlossen in mein ewiges Allein! / Immer, immer bin ich nur in mir!« Es sind Lieder des Tastens und des Lobpreises, eine mystische Dichtung, wie sie im Hier und Jetzt fremder nicht sein könnte — und zugleich hochgradig inspirierend für den, der bereit ist, sich vom Wellenschlag dieser Verse tragen zu lassen: »Deine Gebete sind wie tausendjährige Eichen und deine Psalmen haben den Atem der Meere. Deine Lehre ist wie ein Feste auf uneinnehmbaren Bergen. Deine Weihen sind wie große Zeichen von Feuer auf den Stirnen, niemand kann sie auslöschen. Du bist wie eine beständige Flamme über wirbelnder Asche! Du bist wie ein Turm inmitten reißender Wasser!« Dieser Text ist im Buchhandel lieferbar: Gertrud von le Fort: Hymnen an die Kirche. Würzburg: Echter, 2014, https://www.echter.de/hymnen-an-die-kirche/

  35. Von mir — wohl kaum überraschend für die Leser von Aufheben — in München aufgelesen, in einer bestens erhaltenen Ausgabe aus dem Erscheinungsjahr 1930 (Eugen Diederichs, Jena, 61. bis 70. Tausend!) mit Stempel »Wittelsbacher-Gymnasium München / Gymnasialbibliothek«, wo es irgend­wann einmal ausgesondert wurde. — Zum hundertsten Geburtstag des Autors befand 1998 die Frankfurter Allgemeinen Zeitung in Bezug auf Zwischen Weiß und Rot: »Für Dwingers Publikum standen nicht die ›Stahlgewitter‹ und das Heldentum des Krieges, sondern die Zerstörung der Menschen durch den Krieg und in der Gefangenschaft im Zentrum.« Zitiert nach: https://www.ares-verlag.com/product/zwischen-weis-und-rot/. — Das Buch weist eine interessante Verlagsgeschichte auf: Von der Erstausgabe 1930 bis zur letzten Kriegsauflage 1943 erscheint es bei Eugen Diederichs in Jena; 1950 beim — mir völlig unbekannten — Otto-Dikreiter-Verlag in Frankfurt am Main; 1976 (und ff.) als Taschenbuch bei Bastei-Lübbe in Bergisch Gladbach; seit 2001 bei Leopold Stocker in Graz — und neuerdings bei der Stocker-Tochter Ares (Homepage siehe oben), wo auch Gerd-Klaus Kaltenbrunners Porträtbände Vom Geist Europas in Ehren gehalten werden: https://www.ares-verlag.com/product/vom-geist-europas-2/. Der DDR-Kulturgrande Johannes R. Becher hielt »Zwischen Weiß und Rot« für ein bedeutendes Buch, das die Zeit überdauern werde. Umgekehrt enthält das »Bayerische Lesebuch für das siebte und achte Schuljahr«, erschienen 1949 unter der Ägide des erzkatholischen Kultusministers Alois Hundhammer, ein Gedicht Bechers. Es gab durchaus Zeiten, in denen lagerüber­greifend Qualität anerkannt wurde. 

  36. Die Konzentration auf diese Themen scheint inzwischen Verlage in Schieflagen zu manövrieren, ohne daß die Schiefliegenden mitsamt ihrer medialen Entourage die Kausalität dahinter erkennen können (wollen?). Die Frankfurter Rundschau liefert zur Suhrkamp-Krise ein Meisterstück an Realitäts­verlust: »Es macht den Verlag [Suhrkamp] gerade so attraktiv, Bücher zur Demokratietheorie, zur Queer-Bewegung, zum Umweltschutz [muß heißen: Klimarettung, den darauf beschränkt sich der gegenwartsgrüne Umweltschutzgedanke], zum wiederkehrenden Faschismus zu verlegen.« Und sofort anschließend heißt es als Grund für die Krise: »Die Einnahmen seien rückläufig gewesen, da es an stark verkauften Titeln gemangelt habe. Das Programm soll nicht so gezogen haben.« Anscheinend führt »Attraktivität« bei bestimmten Kreisen, zum Beispiel Mainstream-Feuilletonisten, auf dem Markt direkt in die ökonomische Malaise. Wer es als Analyst dieser Krise mit dem Merksatz »Go woke, get broke« versuchen würde, könnte die beiden Feststellungen in einen Kausalzusammenhang setzen. Es ist aber schon bezeichnend, daß bei den Themen, für die in allen Leitmedien unablässig getrommelt wird, offensichtlich nicht mal mehr dem Inner Circle der Erwachten, wozu die Suhrkamp-Leser zu zäh­len sind, weiterhin genug Geld aus der Tasche zu locken ist für die achtundvierzigste Wiederholung des Immerselben. — Siehe: https://www.fr.de/kultur/literatur/der-suhrkamp-verlag-in-der-krise-geld-oder-liebe-93340056.html