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Teil 7 — Wilhelm Heinrich Riehl und Jean-Henri Fabre — Über das Wahrnehmen des Lebendigen

Geschrieben von Jürgen Schmid am 21.5.2024

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Leib und Leben


σύνταξις | VII | syntaxis

Addendum zu Folge 3/4


»Die Menschheit hat den alten Halt an festen Ordnungen verloren. […] Die Welt ist kein Zuhause mehr für den Menschen, sondern nur noch Material für seine um­gestaltende Tätigkeit.«
Wolfhart Pannenberg1


Wilhelm Heinrich Riehl lehrte als Professor für Kulturgeschichte und Staatswissen­schaft in München, als es dort noch die Ludwig-Maximilians-Universität gab und nicht wie heute eine LMU, zu einer Zeit, als KI und DigiLLab, LGBTIQ und DEI schreib- und denkunmöglich waren und seine Studenten Schulen besucht hatten, an denen kein ESL amtierte, ja noch nicht einmal SuS und LuL zugegen waren, sondern lediglich Schüler und Lehrer, gefangen in einer finsteren Kreidezeit, gänzlich bar aller Segnun­gen von müLF oder DigiLAL, weshalb wenig SchiC und LUSD aufkommen konnte.2 Und doch brachten jene unabgekürzten Dunkeldeutschen, als sie die Schule verließen, um in die Riehl’schen Kollegs über die Volkskunde ihres Vaterlandes einzuziehen, erstaunliche Fähigkeiten mit: Sie konnten sprechen, lesen, schreiben. Und selbst ohne MINT ganz passabel rechnen.

Nun besaß auch Riehl Fähigkeiten, die ihm zwar bereits einige seiner Zeitgenossen übel nahmen, welche aber den angenehmen Effekt besitzen, daß seine Schriften — im Gegensatz zu manch zeitgenösslichem Elaborat von einst und jetzt — Lesegenuß bieten. So charakterisiert der »Culturhistoriker«, wie Riehl sich selbst nannte, den konservativen Zug eines »beharrenden« Standes: »Das Eigenste der Bauernsprache besteht darin, daß sie an markiger alter Weise festgehalten hat, die man in den Kreisen der Gebildeten abschliff. So bezeichnet der Bauer den Tag vielfach noch lieber altmodisch nach dem Kalenderheiligen als durch die todte Ziffer des Datums. In den Taufnamen, die er seinen Kindern gibt, hält er den alten Brauch der Gegend fest, während der Gebildete dabei gewöhnlich nach Grille und Laune verfährt. […] Das stete Fortvererben gewisser Lieblings-Vornamen in einer Familie, welches früher bei dem deutschen Adel so häufig vorkam, jetzt immer seltener geworden ist und nur noch bei Fürstenfamilien sich folgerecht erhalten hat, wird in manchen Gegenden bei den Bauern noch mit Strenge durchgeführt.«3

Gestützt auf festgegründete Ordnungen, die er beobachtete und beschrieb, trachtete Riehl zeitlebens danach, die Welt als ein lebenswertes Zuhause für die Menschen, denen er wandernd begegnete, zu erhalten. Das Menschenbild, welches diesen Überlegungen zugrunde lag, konnte der Culturhistoriker in verständlicher Sprache darlegen, weitab von der Distanz, mit welcher Akademiker heute sich den Menschen vom Leib halten wollen — »in den Modus der Repräsentation überführen« nennt der allerletzte Münchner Nachfolger Riehls in der Volkskunde das, was sprachüblich »Schreiben« heißt.

Wie viel weiter kann sich ein »Forscher« sprachlich von seinem »Forschungsgegen­stand« entfernen als der Marburger Volkskundler Manfred Seifert, der dem »Objekt« seiner wissenschaftlichen Beobachtung (dem »arbeitenden Menschen«) einen »Status als stabile substanzielle Entität« zuweist, deren »Arbeitsleistung« er »als Teil der an­thropologisch fundierten Aktivität bzw. als eine Form der Teilsublimierung« versteht? Wer einer Studie über »Arbeitskulturen« aus »anthropologischer Perspektive« derartige Verbalbarrieren voranstellt, beantwortet damit die Frage des Vorworts »Wem gehört die Welt?« sehr klar: Wer seiner Meinung nach keinen Anteil an der Welt akademi­scher Erkenntnisse (so es denn Erkenntnisse wären) haben soll sind all jene, die solchen Wissenschaftssprech nicht dechiffrieren können (oder wollen).4

Neben diesen Technokraten unter den Wissenschaftlern, tauchen immer wieder Gestalten aus dem dichter werdenden Nebel entmenschlichender Abstraktheit auf, die einen ganz anderen Zugang zur Welt suchen und die ihre Erkenntnisse mit Wärme in einer beseelten Sprache darlegen. Zu ihnen gehört neben Wilhelm Hein­rich Riehl im Bereich der Biologie Jean-Henri Fabre (1823-1915). Sein Werk fiel mir fast zufällig und wie scheinbar nebenbei in die Hände.

In Hanns Cibulkas Sanddornzeit, seinen 1971 veröffentlichten »Tagebuchblätter[n] von Hiddensee«, in der vom Flohmarkt aufgehobenen Erstausgabe, lese ich: »Der Doktor überbrühte in einer Kanne grünen chinesischen Tee, dann las er mir einige Seiten aus seinem jüngsten Manuskript vor. Es waren zwei Studien über die schönsten heimischen Pflanzen, die Kugelorchis und das Gefleckte Knabenkraut. Was mich an seinen Studien überraschte, war der einzigartige Brückenschlag zwischen naturwissenschaftlicher Erkenntnis und poetischer Einsicht. Es war eine Prosa, die nicht nur von der rein begrifflichen Mitteilung her die Dinge beim Namen nannte. Das Metaphorische brach in seinen Sätzen immer wieder durch. […] Wissenschaft und Dichtung begannen sich zu berühren.«5

Warum war dieser DDR-Biologe, den wir nicht einmal namentlich kennen,6 fähig, zu jenen Traditionen zurückzukehren, die in Deutschland in Alexander von Humboldts »Kosmos« kulminierten? »Sein großer Lehrmeister war«, so beantwortet Cibulka diese Frage, »der provenzalische Insektenforscher Jean-Henri Fabre. Immer wieder habe er [der uns unbekannte Doktor] seine gesammelten Aufsätze, die Souvenirs ento­mologiques, gelesen und studiert. Bei diesem Wissenschaftler hätte er die genaue und liebevolle Betrachtungsweise kennengelernt, die den naturwissenschaftlichen Studien unserer Tage [um 1970] allzu oft verloren geht.«7

Die LMU-Bibliothek hat ein Buch vorrätig, das in Fabres Welt und Sprache einführt, es enttäuscht nicht, nein, es elektrisiert vom ersten Satz an: Eine kommentierte Anthologie — betitelt Das offenbare Geheimnis. Aus dem Lebenswerk des Insekten­forschers. Ein Lesestück aus dem Kapitel »Der Exodus der Spinnen«:

»Die Ballone der Gebänderten Spinnen sind Bomben, die, um ihre Bewohner frei­zulassen, unter den Strahlen einer glühenden Sonne platzen. Damit das möglich wird, bedarf es der Gluthitze der Hundstage. […] Auf den Rosmarinsträuchern, der brennenden Sonne ausgesetzt, platzen die Ballone von selbst [wo dies nicht der Fall ist, müssen die ‚Eingeschlossenen, sich ablösend, mit geduldigen Zähnen den Stoff durchbeissen’] und schleudern rötliche Watte und Tierchen heraus. […] Ungeschützt, im Gestrüpp. wird die Tasche der gebänderten Spinne in der Julihitze vom Druck der eingeschlossenen Luft zerrissen. Die Befreiung ist nichts anderes als die Explosion der Wohnung. Ein kleiner Teil der Familie wird mit einem Bausch Flockseide ausge­stoßen; der größere Teil bleibt im Sack, der nun, obwohl aufgeschlitzt, immer noch mit Daunen gefüllt ist. Jetzt, da die Bresche geschlagen ist, geht jeder, wann er will, ohne sich zu beeilen. Übrigens muß vor der Emigration noch eine wichtige, erste Handlung vollzogen werden. Sie müssen sich in ein neues Kleid stecken, und die Häutung findet nicht für alle zur gleichen Zeit statt. Es dauert deshalb mehrere Tage, bis der Ort geräumt ist. Der Auszug erfolgt in kleinen Rotten, in dem Maße, wie die alte Haut abgeworfen wird. Die Reisefertigen erklettern die nächsten kleinen Zweige, und da, in der Sonne gebadet, beginnen sie ihre Verstreuung. […] Die Spinnwarzen lassen ein Seilchen in den Wind hinaus wehen, das dann reißt und den Seiler mit sich fortträgt.«8

Riehl und Fabre — Brüder im Geiste. Doyen der Insektenkunde der eine, Begründer der Volkskunde der andere. Was sie auf verblüffende Weise eint: Beide beobachten wandernd in der Natur. Beiden liegt am Herzen, was sie erforschen. Beide schreiben eine Sprache, die bei ihren Fachgenossen aneckt, weil sie so rund, schön, meta­phernreich und lebensplastisch ist, wie es ihre Kritiker nicht vermögen: Wer etwas zu sagen hat und das auch noch in wohlklingendem Stil tut, wird befehdet.9 Beide beziehen die Gegenstände ihres Interesses auf ein größeres Ganzes — Riehl auf die Idee der Volksgemeinschaft in der Nation, Fabre auf die Schöpfung der Natur. Beide sind sie somit Solitäre, die begeistern und polarisieren. Beide Jahrgang 1823.

Fachkollegen hätten ihm, so Fabre in gesetztem Alter nicht ohne Bissigkeit, »vorgeworfen, daß meine Sprache akademischer Feierlichkeit, ich würde sagen der Trockenheit, entbehre. Sie befürchten, eine Seite, die sich ohne Ermüdung lese, könne nicht die Wahrheit enthalten. Würde ich ihnen Glauben schenken, so wäre also nur das Dunkle und Unverständliche der Ausdruck wahrer Gedankentiefe. Ach, kommt her, all ihr Stachelträger, und ihr mit eueren gepanzerten Flügeldecken, verteidigt mich und zeugt für mich! Sagt ihnen, in welch inniger Vertrautheit ich mit euch lebe, mit welcher Geduld ich euch beobachte, mit welcher Gewissenhaftigkeit ich eine jede eurer Handlungen aufzeichne. Euer Zeugnis wird einhellig sein: Meine Seiten, ohne leere Formeln, keine gelahrte Nachtarbeit, sind genaue Erzählungen von Tatsachen^[^10^]^, die ich selbst beobachtet habe, nicht mehr nicht weniger. […]

Ihr weidet das Tier aus, und ich studiere es lebend; ihr macht aus ihm ein Ding des Schreckens und des Mitleids, ich mache, daß man es lieb gewinnt; ihr arbeitet in der Werkstatt der Folter und der Zerstückelung, ich arbeite unter dem blauen Himmel, beim Gesang der Zikaden; ihr unterwerft die Zelle und das Protoplasma den Rea­genzien, ich beobachte den Instinkt in seinem erhabensten Ausdruck; ihr erforscht den Tod, ich erforsche das Leben. Und warum soll ich nicht alles sagen: Die Wild­schweine haben das reine Wasser der Quellen getrübt. Die Naturgeschichte, dieses wunderbare Studienfach für junge Menschen, ist in Folge ihrer fortwährenden Vervoll­kommnung zu einer widerlichen, abstoßenden Sache geworden. [Besonders] schreibe ich für die jungen Menschen, die ich jene Naturgeschichte wieder lieben lehren möchte, die man ihnen verhasst gemacht hat. Und deshalb, wenn ich auch mit pein­licher Gewissenhaftigkeit bei der Wahrheit bleibe, verzichte ich auf die sogenannte wissenschaftliche Schreibweise, die leider allzuoft einem Kauderwelsch gleicht.«11

Fabre — wie Riehl — zeichnet eine »Haltung«12 aus, »in der das Lebendige in seiner Größe erscheint«, »im immerwährenden Geheimnis der Gestalten«.13 Kaum glaubhaft erscheint uns Heutigen, anno 2024, mit welchem Vortragstitel der Schweizer Zoologe und Anthropologe Adolf Portmann, von dem diese Einschätzung stammt, 1960 einge­laden wurde, vor dem Kulturkreis (!) des Bundesverbandes der Deutschen Industrie zu sprechen: »Die Gestalt, das Geheimnis des Lebendigen«. Seine Rede begann wie folgt:

»Vor vielen Jahren hat Jakob von Uexküll, der eigenwillige Anreger zu neuem Denken über das Lebendige, die wissenschaftliche Produktion unserer Zeit mit einem Schneefall verglichen, der unablässig seine Flocken auf die Dinge der Welt fallen läßt, langsam die Gestalt dieser Dinge durch die wachsende weiße Decke verformt und sie schließlich völlig aufhebt. Dieser Schnee fällt fortwährend und immer dichter. Die Naturwissenschaft arbeitet weit weg im Unsichtbaren; sie steht im Kampf um Einblick in elementare Prozesse, deren Kenntnis den Schlüssel zur Beherrschung zu liefern verspricht. Hatte der werdende Lebensforscher einst die Kenntnis der Tier- und Pflanzengestalten zu erwerben, so muß er heute die statistischen Methoden der Fehlerrechnung erlernen — er muß die Methoden der Biochemie14 anwenden, um jenseits des Sichtbaren nach dem Elementaren zu forschen. Die Gestalten sind immer mehr nur noch Anlaß; für weite Forschungsfelder sind sie gar nicht mehr eigentliches Objekt der biologischen Arbeit.«15

Die Laboratorien zerlegen alles Leben in kleinste Bestandteile: die Molekularbiologie feiert Triumphe, wo einmal Lebensbeobachtung war; die Suche nach dem kleinsten Teilchen erschuf eine Art Glaubenssystem in der Physik. Wir wissen alles, bis hinun­ter in die kleinsten Verästelungen von Lebendigem und Materie; alles Wissen haben wir stets präsent, bequem abrufbar per Mausklick — aber sehen wir irgendetwas, vom »Hindurchsehen« Jakob Böhmes gar nicht zu reden?

»Die Polarität von Zuwendung und Entfremdung äußert sich«, so fährt Portmann in seiner Rede vor den Industriellen fort, »drastisch in der eigenartigen Hochwertung von Tier- und Pflanzenbildern im Zeitalter der Photographie und in der gleichzeitigen Verödung der geistigen Beziehung zu all diesen Gestalten. Die Fluten der Illustrierten mit einer Unzahl von Tierbildern, die Kilometer von Filmen, die uns entlegenes Leben vor Augen bringen, Zeitlupen und Zeitraffer, die das Verborgene sichtbar machen und […] die stillen Blüten zu großen Gebärden bringen, die Zahl der Tierbücher, Blumenfotos aus aller Welt: Eine eigentliche Bilderschwemme ist ein Glied der ungeheuren optischen Überfütterung16 einer Zeitvertreib fordernden Menschenzahl von steigender Größe. Die optischen Fluten gehen an den Menschen vorbei, die Bilder werden flüchtig [eine erste Ahnung dessen, was in der Postmoderne als ‚liquid modernitiy’ sprichwörtlich werden sollte] einen Augenblick registriert — wer wagt das große Wort ‚wahrnehmen’ auszusprechen oder das Wort ›betrachten‹?«17


»Auch das elektronische Rechengehirn wird uns den Sinn, den wir dem Leben geben müssen, um zu bestehen, nicht errechnen. Die Technik ist unser Kleid, nicht unser Herzschlag. Wer nur die Räder sieht, die sich drehn, wird maßlos verarmen.«
Hanns Cibulka18


Drawing[Abb. 1: Orchis globosa. Quelle: Anton Hartinger, Public domain, via Wikimedia Commons.]

Adolf Portmann (1897–1982), wie Riehl ein »Rheinbub«, steht als Erdenker des letzten der großen Entwürfe zu einer »Philosophischen Anthropologie« (Zoologie und das neue Bild des Menschen. Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen, 1956/1969)19 — obschon von dem Theologen Wolfhart Pannenberg20 und dem Soziologen Joachim Fischer21 in eine Reihe mit Max Scheler (Die Stellung des Menschen im Kosmos, 1928), Helmuth Plessner (Die Stufen des Organischen und der Mensch, 1928) und Arnold Gehlen (Der Mensch, 1940) gestellt — kaum mehr im Fokus; dabei ist seine Erkenntnis eines »extra-uterinen Frühjahrs« des Menschen »in die Lehrbücher« eingegangen. Portmann hatte mitunter einen schweren Stand in der eigenen Zunft — war er doch ein irritierender Grenzgänger: »Immer mehr beeindruckt mich«, so gibt eine ehemalige Studentin aus der Rückschau zu Protokoll, »Portmanns behutsames Abtasten der Grenze: Bis wohin sind wissenschaftliche Erkenntnisse möglich, wo beginnt das Unbegreifliche, das wissenschaftlich (noch) nicht Fassbare?«22

In einer Betrachtung über »Goethes Morphologie« erweist sich Portmann, auch bekannt und — fast möchte man mit Thomas Bernhard sagen: naturgemäß — »umstritten« für seine Formulierung von der »Innerlichkeit« einer Gestalt, als genuiner Nachfolger Fabres, wenn er einer Hummel zusieht, die eine blaue Blume bestäubt: »Ich nehme an der Aufführung eines Lebensspiels als Beobachter teil — ein erlebendes Subjekt tritt in Beziehung zu einem anderen Lebewesen«.23


»Was uns heute in den modernen Naturwissenschaften begegnet, sind Kernreaktoren, Explosionszentren, Armaturenbretter. Sie alle ersetzen den Wahrnehmungsbereich. Die Hegemonie des Unsichtbaren hat begonnen.«
Hanns Cibulka24


Wieder auf Hiddensee sehen wir, wie sich Hanns Cibulka (1920–2004), Bibliothekar an der Stadtbücherei Gotha, im Angesicht überwältigender Naturerlebnisse in einen faszinierenden Text vertieft: »Lesestunde am offenen Fenster. […] Goethes natur­wissenschaftliche Schriften gehören zu den kostbarsten Prosastücken deutscher Literatur. […] In diesen Schriften ist das menschliche Denken nicht nur reflektieren­der Spiegel, es verlässt die Fläche, tritt aus ihr heraus, beginnt mit einem eigenen Licht zu leuchten.« 25

Wer Cibulkas Gänge über die Insel Hiddensee lesend miterlebt, seine Schilderungen von Pflanzenwelt und Vogelflug, Lichtstimmung und Gewitteraufzug, wird der Tiefe innewerden, mit der hier ein Mensch in den Spuren eines Fühlens und Denkens wandelt, das er in der Seele ebenso verspürt wie er es intellektuell den Traditionen seiner Kultur abgelauscht hat.

»In Goethes Morphologischen Schriften fand ich die entscheidende Ergänzung zu dem naturwissenschaftlichen Denken unserer Zeit. Jeder Stein, jede Pflanze, jedes Tier wird bei ihm mit den Sinnen erfahren, mit dem Gefühl erlebt, mit den Augen des Geistes angeschaut. […] Jede Seite, jeder Satz ist ein lebendiges Zwiegespräch mit der Natur, alles ist anredbar. […] Alles, was uns auf dieser Welt umgibt, wird bei ihm unter dem Aspekt einer höheren Einheit gesehen und erlebt.«26

Ganz hinten hat die ehemalige Besitzerin und Leserin meines Exemplars von Cibulkas Sanddornzeit, im säkular-marxistischen Arbeiter- und Bauernparadies DDR, ein kleines Faltblatt eingelegt — mit dem »Apostolischen Glaubensbekenntnis«.


»Alles, was da ist, das ist ferne und ist sehr tief; wer will’s finden?«
Der Prediger Salomo27


Es gibt Bücher, die Epoche machen — man muß sie nur wahrnehmen

Zurück an Wilhelm Heinrich Riehls Alma Mater, die im Laufe der Zeit nicht nur einige Buchstaben ihres Namens verlor, sondern auch nahezu alles, was die Universitas ausmacht, wenn man damit nicht nur ein Gebäude meint, auf dem ein Namensetikett wie versehentlich haften geblieben ist. Im LMU-Magazin Einsichten (Nr. 2/2023), einem Selbstdarstellungswerbeblatt, herrscht Zukunftseuphorie im dünn-durchsichti­gen Kleidchen scham- und skrupelloser Technokratiegläubigkeit. Der Informatiker lotet begeistert und von Zweifeln unberührt aus, »wie digitale Techniken menschliche Fähigkeiten erweitern können«. Sein Forschungsziel: »Der erweiterte Mensch«. Von Riehls Einfühlung in den Menschen, wie er bereits existiert — keine Spur mehr. Auch Leopold Kretzenbachers Volkskunde, in Nachfolge Riehls, seine »Begegnungen mit dem Volk«, wie es ist und nicht, wie es werden soll — in staubigen Kellermagazinen der Fachbibliothek beerdigt und dem Vergessen anheim gegeben. Geographin und Biologe machen sich Gedanken darüber, »wie sich Kulturpflanzen an den Klima­wandel anpassen« — und sind sie nicht willig, so braucht es Gewalt — »oder künstlich anpassen lassen«, mit »nachhaltiger Gentechnik«. (Selbstredend eine contradictio in adiecto.) Von der Liebe zur Natur, vom Staunen über ihre Wunder, wie sie uns in der Schöpfung überliefert zur Betrachtung offen steht, wovon Fabre beseelte Kunde gab — kein Hauch übrig. »Entwickeln«, »optimieren«, »Effizienz steigern«, von Pflanzen und von Menschen, ist das neoliberal-woke (eigentlich ebenfalls ein innerer Widerspruch) LMU-Gebot der Stunde.


»Die Welt ist zum Rechenexempel geworden, Elektronenschatten huschen durch unsere Hände. Die atomistische Betrachtungsweise lässt eine innere Leere im Menschen zurück.«
Hanns Cibulka28


Während der »Benutzer«, welcher lange Zeit ein »Leser« war, durch die Eingangshalle der LMU-Zentralbibliothek zur »Bücherausgabe« dieser Optimierungsanstalt schreitet, wo er zwischen Ausgaberegalen keine Menschenseele antrifft, sondern an »Digital-Desks« seiner Funktion als arbeitender Kunde, vulgo »Selbstabholer« nachgeht, liegt derweil in einer unbeachteten Ausstellungsvitrine der ehemalige LMU-Präsident Nikolaus Prinz von Lobkowicz (1931–2019) — korrekter: ein ungerahmtes Ölgemälde mit seinem Konterfei — und harrt der Dinge, die ihm da postum nocheinmal von »links­radikalen« (Lobkowicz) Asta-Vertretern auf hektographierten Pamphleten an den Kopf geworfen werden. Der Prinz, »kraft Herkunft« und »Gesinnung«, so sagt er selbst, »ein Konservativer«, »der Reformen nur schätzt, wenn sie das Gute im Hergebrachten tiefer verankern und sinnvoller zum Leuchten bringen«.29 Die »Herkunft« (Botho Strauß) aus altem böhmischen Adel läßt ihn zu jenen »Mächten« gehören, welche Wilhelm Heinrich Riehl zu denen der »Beharrung« zählte. Aber wie dieser große Vor­gänger an der Münchner Alma Mater sang auch Lobkowicz, Philosoph und Katholik, das Lob des Beharrens nicht um dessen Selbst willen, sondern mit der biblischen Grundierung des »Prüfet alles, das Gute aber behaltet«. »Hochschulreformen«, wie sie Lobkowicz in seiner Amtszeit als letzter rector magnificus (welcher Wohlklang!) und nachreformerisch erster der höchst profanen »Präsidenten der LMU« in den 1970er Jahren des bildungspolitischen Bildersturms fast traumatisch durchlitt, seien — so der letzte Thomianer —, »stets der Gefahr ausgesetzt, mehr Bewährtes zu zerstören als gutes Neues aufzubauen«.

Auf dem Nachhauseweg — man kann kaum an einen Zufall glauben — findet sich im Bücherschrank des progressivsten Münchner Stadtviertels Haidhausen, wo zuletzt 44 Prozent aller Wähler grün votierten, Lobkowicz Schrift Was brachte uns das Konzil? aus dem Jahre 1986, jenem Jahr, als der Verfasser bereits als Präsident der Katholischen Universität Eichstätt amtierte und Kardinal Joseph Ratzinger, in Lobkowicz Münchner Amtszeit Erzbischof von München und Freising,30 als Präfekt der römischen Glaubenskongregation ein aufsehenerregendes Interview Zur Lage des Glaubens gab. Dessen Quintessenz resümiert Lobkowicz, der in Gesprächs­kontakt mit dem Kardinal stand, so: »daß der Zeitgeist gar kein Maßstab sei, nach welchem die Kirche sich orientieren darf.« Daß es »um mehr und Grundsätzlicheres geht, als daß die Kirche heute und morgen ›zu marginaler Bedeutung‹ absinken könnte«. Ihre entscheidende Aufgabe sei es nicht, »daß sie in und vor der Welt an­erkannt wird und Erfolg hat«, sondern daß sie »auf dem Weg zum Herrn« ist, »bis er wiederkehrt«.31 Christen und die sie repräsentierenden Kleriker gehör(t)en zu den Mächten der Beharrung, welche Wilhelm Heinrich Riehl beschrieb und beschwor.

Lobkowicz — darin artverwandt mit Riehl und Fabre — erweist sich als präziser Wahr­nehmer des Lebendigen, wenn er die Lebenswirklichkeit der Kirche skizziert, »wie sie vor dem Konzil aussah«: »Es war eine zutiefst fromme Kirche. Natürlich gab es schon damals bloß nominelle Katholiken. Doch erfüllten auch diese im großen ganzen ihre Osterpflicht, schämten sich, wenn sie am Sonntag nicht zur Messe gingen, beichteten zumindest vor ihrer Verehelichung und tauften bald ihre Kinder. Die praktizierenden Katholiken waren eine personal betende Gemeinde. Zwar gewiß nicht ständig, aber doch immer wieder bekehrten sie sich. Es war ihnen selbstverständlich, daß zu ihrem Christsein ein persönlicher Bezug und ein persönliches Gespräch mit dem Herrn gehörte. Man betete häufig und gern um den Schutz der Muttergottes, man verehrte die Heiligen. Selbst Akademiker, ja Intellektuelle schämten sich nicht, mit einem Rosenkranz in der Tasche erwischt zu werden. In den Großstädten war der Zerfall schon zu erkennen.32 Doch auf dem Lande war das religiöse Leben fast unberührt geblieben. Die ›Herrgottsecke‹ war auf vielen Bauernhöfen noch eine Selbstverständ­lichkeit. Die Bäuerin und ihre Kinder schlüpften, wann immer sie Sorgen hatten, in die Kirche, um mit dem verborgenen Herrn im Tabernakel zu sprechen.«33 Es war eine Zeit, in der nicht nur »die Dinge noch heilig waren«.34

Im Gefolge seiner Trauer darüber, wie sehr diese zutiefst religiös geprägte Welt immer mehr aus den Fugen geriet, zitiert Lobkowicz einen Eintrag aus dem Tagebuch des charismatischen katholischen Priester Romano Guardini (1885–1968), der nach dem Krieg bis kurz vor seinem Tod als Religionsphilosoph an der Ludwig-Maximilians-Universität lehrte und an der Universitätskirche St. Ludwig als Universi­tätsprediger wirkte: »Heute [am 25. September 1954, an dem mein (J. S.) Vater seinen 14. Geburtstag feierte] wurde mir ganz deutlich, daß ich in der Gestalt der jetzt werdenden Welt nicht leben kann. Ich verstehe sie theoretisch […], aber ich selbst gehöre nicht hinein. […] Es ist ein ständiger Schmerz — die Worte sind nicht über­trieben —, zu sehen, wie ein ungeheurer Apparat alles das zerstört, was ich liebe, von außen und von innen her, in den Dingen und im Fühlen der Menschen. Und diese wissen gar nicht, was sie zerstören. Sie finden sich und ihre Art selbstverständlich — ihre Massenhaftigkeit, ihren Lärm, die schreckliche Auskältung ihres Gefühls, die mörderische Veröffentlichung der Seele.«35

Die Skepsis gegen eine »umgestaltende Tätigkeit«, gegen einen alleszermalmenden »Apparat«, der kein Fundament mehr gelten lassen will (und schon gar kein religiö­ses), teilte Lobkowicz nicht nur mit Romano Guardini, sondern auch mit einem »Nerd« (so bewundernd sein Schüler Philip Clayton) der evangelischen Theologen-Zunft, der gleichzeitig mit ihm dem Lehrkollegium der Münchner Universität angehörte — dem eingangs zitierten Wolfhart Pannenberg (1928–2014).

Beide wurden im selben Jahr, 1967, dem letzten vor Beginn des langen Marsches durch die Institutionen, der uns dahin brachte, wo wir heute stehen, an die Münchner Universität berufen — Pannenberg aus Mainz, wo er nach Wuppertaler Anfängen lehrte; Lobkowicz von seiner Philosophie-Professur an der University of Notre Dame, Indiana, USA. Pannenberg schuf als Gründungsmitglied der Evangelisch-Theologi­schen Fakultät das Institut für Fundamentaltheologie und Ökumene; Lobkowicz bezog die Lehrkanzel für politische Theorie und Philosophie am Geschwister-Scholl-Institut.

Zwei konservative Denker, gläubige Christen (gerade bei einem protestantischen Theologen der Moderne wahrlich keine Selbstverständlichkeit), Heimatvertriebene alle beide — Lobkowicz aus seiner Geburtsstadt Prag, Pannenberg aus dem westpommerschen Stettin. Zwei tiefgründig in den philosophischen Traditionen des Abendlandes verwurzelte Akademiker, beide gleichermaßen modernistischem Zeitgeist abhold. Beide lebten ihr Leben bezogen auf die eine Ordnung. Bei Pannenberg klingt das so: »In der eigentümlichen Weltoffenheit, die den Menschen vom Tier unterscheidet, brennt die Frage nach Gott. […] Die Weltoffenheit des Menschen setzt eine Gottbezogenheit voraus. […] Der Umweltgebundenheit der Tiere entspricht beim Menschen weder sein Verhältnis zur Naturwelt, noch die Vertrautheit mit seiner Kulturwelt, sondern seine unendliche Angewiesenheit auf Gott. Was für ein Tier die Umwelt, das ist für den Menschen Gott: das Ziel, an dem allein sein Streben Ruhe finden kann und wo seine Bestimmung erfüllt wäre.«36

Drawing[Abb. 2: Geflecktes Knabenkraut. Quelle: Kränzlin, Friedrich; Müller, Walter, Public domain, via Wikimedia Commons.]

In seinem Nachruf stellt der Münchner Theologe Friedrich Wilhelm Graf die Revolte Pannenbergs gegen eine gottlose Moderne heraus: »In seiner 1983 veröffentlichten Anthropologie in theologischer Perspektive wollte Pannenberg […] zeigen, daß der Mensch als endliches Vernunftwesen konstitutiv religiös sei. Moderne Religionslosig­keit oder Glaubensverlust galten ihm als Verfehlung wahren Menschseins, und so begründete er seine bisweilen irritierend autoritär vorgetragene Modernitätskritik auch mit anthropologischen Argumenten: Die durch Säkularisierung bedingte ›Sinn­leere‹ der modernen Gesellschaft und ihrer fragilen Institutionen [insbesondere der Staat] könne allein durch eine entschlossene ›Reaktivierung‹ der christlichen Grundlagen des Gemeinwesens bzw. die ›Erneuerung einer theonomen Kultur‹ überwunden werden.«37

Eine »theonome Kultur« ist für Pannenberg »Ausdruck eines christlichen Verständnisses der politischen Ordnung als einer vorläufigen Ordnung dieser Welt«38 — eine staats- und gesellschaftspolitische Vorstellung, wie sie weiter von spätbundesrepublikanischen Realitäten nicht entfernt sein könnte. Mit spürbarem Unwohlsein ordnet der katholische Bochumer Dogmatiker Georg Essen Pannenbergs Staatsverständnis ein als: »Carl Schmitt auf protestantisch«.39

Verlust der Mitte

Man kann das alles auch anders sehen. Theresa Brückner, Pfarrerin »für den digita­len Raum« in Berlin, glaubt: »Jesus hätte heute einen Instagram-Account«, wo er »in seinen Storys alles schnell auf den Punkt« bringen würde. Aber weil Jesus einst­weilen im Gefängnis sitzt, muß die »Sinnfluencerin Gottes« (SWR) an seiner statt den Tempel säubern, um Platz zu schaffen für »digitale Abendmahlsfeiern, Fetisch-Konzerte in Kirchen, Frauenquoten für die Kirchenleitung, Probemitgliedschaften«. »Ideen«, die laut Herder Verlag (!), Publikmacher dieser Anschläge, »inspirieren und ermutigen«. Was Wolfhart Pannenberg zu einem solchen Buch gesagt hätte, »das Lust macht, beim Wandel der Kirche selbst mitanzupacken« (wieder Herder)? Wer in Friedrich Wilhelm Grafs Nachruf erfährt, daß der Theologe bereits seinerzeit der evangelischen Kirche »in oft scharfem Ton Gedankenlosigkeit, allzu große Zeitgeist­nähe und Mangel an theologischer Denkkraft vorwarf«, wer ebenda liest, daß er, »als 16 von 24 protestantischen Landeskirchen in der Bundesrepublik 1994 die kirchliche Segnung gleichgeschlechtlicher Partner empfahlen, ›auf den Boden der Schrift‹ re­kurrierte: ›was Gott nicht billigt, darf die Kirche nicht segnen‹; wer dann noch erfährt, daß er sein Bundesverdienstkreuz »unter Protest ins Bundespräsidialamt zurück­schickte, nachdem Bundespräsident Roman Herzog einer in der EKD engagierten lesbischen Feministin den Orden verliehen hatte«, der kann sich denken, wie scharf Pannenberg seine Missbilligung ausgesprochen hätte gegen den Zeitgeist-Terror, der in der evangelischen Kirche seines Heimatlandes inzwischen hemmungslos tobt — inklusive konkreter Selbstabschaffungsphantasmagorien. (Wer den Weg ins Nirwana nachvollziehen will, lese hier und hier und hier und hier und hier.)


»Der postpragmatische Typus nimmt das Leben als Substanz, die es ständig zu analysieren, anzupassen und zu verbessern gilt.«
Götz Kubitschek40


Man kann sich nicht nur von Gott lösen, sondern — diskursiv zumindest — auch von der Schwerkraft. Ein Revolutionsarchitekt wie El Lissitzky hat das als erster radikal gedacht: »Die Überwindung des Fundaments, der Erdgebundenheit, geht noch weiter und verlangt die Überwindung der Schwerkraft an sich, verlangt die schwebenden Körper, die physisch dynamische Architektur.«41 Man kann sich auch in einen virtuellen Cyberspace imaginieren, wo die Digitalität sogenannter »Neuer Medien« nicht nur Bauwerke in die Lüfte erhebt, sondern sogar dem Menschen selbst die Erlösung von seiner Leiblichkeit, aufgelöst in den algorithmischen Schwebstoffen der »Cloud«, anzupreisen geneigt ist – naturgemäß gegen jede Evidenz.42

Man kann — wie die modernen Biologie-Sezierer es tun — »die Rolle der Hormone bei der Kastendifferenzierung und bei der Balz«43 »mit feinsten Mikroelektroden« aus »Platindrähten oder Glaskapillaren, die mit einer leitenden Salzlösung gefüllt sind« untersuchen, um in »Laboratorien von Elektrophysiologen« computergestützt »bestä­tigt« zu sehen,44 was ein Lebenswahrnehmer wie Jean Henri Fabre ein Jahrhundert zuvor mit seinen Augen geduldig schauend schon längst herausgefunden hat.

Man kann Bücher nüchtern mit den Augen des Betriebswirtschaftlers betrachten: »1 Meter Bergengruen: Altpapier. 1 Meter Böll: Altpapier.« Man kann aber auch Heinrich Bölls Erzählung Doktor Murkes gesammeltes Schweigen lesen, worin ein skrupu­löser Rundfunkredner 27mal das Wort »Gott« vor Ausstrahlung seines Vortrags durch die Wendung »jenes höhere Wesen, das wir verehren« ersetzen läßt, wodurch der herausschneidende Redakteur 27 Schnipsel Tonspur mit »Gott« produziert. Oder man kann — in diesem Fall tut dies ein und derselbe Frankfurter Antiquar, welcher Bergen­gruen und Böll ökonomischen Wert abspricht — Ehrfurcht empfinden vor der buch­gefügten Ordnung der Welt: »Das Buch ist die größte Errungenschaft des Menschen. Wir Antiquare sind die Letzten, die aufheben. Wir halten das gesamte Wissen der Menschheit vorrätig.«

Kein Wort spricht Adolf Portmann in seinem Nachwort zu Fabres Anthologie so häufig aus wie dieses: Ordnung. »Für Fabre waren alle die erstaunlichen Äußerungen des Insektenlebens das sichtbare, das offenbare Werk einer Schöpfermacht, deren Wirken unsere Vorstellung nicht zu fassen vermag. Vor ihm war eine Ordnung von solcher Größe, daß er einem Fragenden wohl antworten durfte, er glaube nicht an Gott, er sehe ihn!«45 Mein verehrter Lehrer, der Benediktiner Pater Otmar (1937–2024),46 hat als letzte Notiz vor seinem Tod zum sonntäglichen Evangelium fest­gehalten: »Faszination ist alles.« Er las im Buch der Bücher, von dem er sagte: »Ich weiß nicht, ob Sie mir das glauben wollen: Mit 12, 13 Jahren habe ich zum ersten Mal das Neue Testament gelesen, in der Bergpredigt — die Menschlichkeit hat mich derart fasziniert. Deswegen habe ich Theologie studiert, deswegen bin ich ins Kloster gegangen.«47

»Für jeden denkenden Menschen gibt es Bücher, die Epoche machen«, schrieb Jean-Henri Fabre, »weil sie ihm ungeahnte Horizonte eröffnen. Weit öffnen sie die Türen zu einer neuen Welt, an der sich künftig sein Denken erproben wird. Sie sind der zündende Funke, der einen Brandherd entfacht, und ohne ihn hätte der Stoff ewig nutzlos dagelegen. Und diese Bücher, diese Lektüre, die den Ausgangspunkt einer neuen Entwicklung unserer Vorstellungen und Gedanken bilden, werden uns oft durch einen reinen Zufall in die Hände gespielt. Ein paar Linien Text, die uns irgendwie unter die Augen kommen, entscheiden über unsere Zukunft, und wir geraten in die Furche unserer Bestimmung.«48


»Wie weit entfernt
ist vom Getue des Erdenlebens
der Baum der Wildkirsche?«
Furumaru alias Yamamoto Tsunetomo49


»Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde«50

Adolf Portmann wurde 1968 emeritiert (mein Geburtsjahr). Mit ihm trennte sich ein »metaphysischer«,51 ja ein »mystischer«52 Strang von der Wissenschaft, die heute als »diewissenschaft« firmiert. Es war das Jahr, in dem Romano Guardini starb. (100 Jahre nach dem Geburtsjahr Gustav Meyrinks, Autor des »Golem«.) Neues begann sich zu entfalten, ein »Apparat«: Die Postmoderne in ihrer Pracht und Blüte.

Zu dieser Zeit wurden drei Aufhalter nach München berufen: 1966 der Volkskundler Leopold Kretzenbacher (1912–2007), 1967 Lobkowicz und Pannenberg — die letzten beiden haben wir kennengelernt, Lobkowicz konnte die Hochschulreform nicht verhindern, Pannenberg etablierte die Theologie als »Wissenschaft von Gott« und betonte die »Vernunft des Glaubens«, sein katholisches Pendant am Ökumeneinstitut, Heinrich Fries, diskutierte 1968 die Frage »Abschied von Gott?«53 1969 wurde der Kunsthisto­riker Hans Sedlmayr (Verlust der Mitte), der zuvor in München gelehrt hatte, in Salzburg emeritiert.


»Bekennen kann ich nicht etwas, was ich zwar mit allen wissenschaftlichen Mitteln feststellen, erkennen und zur Kenntnis nehmen kann, was aber so geartet ist, daß es mich nichts angeht, daß ich davon nicht betroffen, bewegt, engagiert und zur Entscheidung herausgefordert bin.«
Heinrich Fries54


Zu dieser Zeit, 1970, hielt Michel Foucault, der Säulenheilige linksintellektueller Systemstürzer, seine Antrittsvorlesung am neugeschaffenen Lehrstuhl »für die Geschichte der Denksysteme« am Collège de France in Paris — Titel: Die Ordnung des Diskurses.55 Was viele für eine Analyse von Vorgefundenem hielten (und halten), erscheint eher wie die Blaupause für Anzustrebendes: »Und die Institution antwortet: ›Wir alle sind da, um dir zu zeigen, daß de[m] Diskurs ein Platz bereitet ist, der ihn ehrt, aber entwaffnet; und daß seine Macht, falls er welche hat, von uns und nur von uns stammt.‹ […] Es gibt Prozeduren, welche die Kontrolle der Diskurse ermöglichen. […] Es geht darum, die Bedingungen ihres Einsatzes zu bestimmen, den sprechenden Individuen gewisse Regeln aufzuerlegen und so zu verhindern, daß jedermann Zugang zu den Diskursen hat: Verknappung der sprechenden Subjekte.«

Zum selben Zeitpunkt, 1970, als bundesrepublikanische Volkskundler die marxistisch grundierte sogenannte »Falkensteiner Formel« verabschiedeten56 — Volkskunde, so dekretierte sie ebenso apodiktisch wie unverdaulich, »analysiert die Vermittlung (die sie bedingenden Ursachen und die sie begleitenden Prozesse) von kulturalen Werten in Objektivationen (Güter und Normen) und Subjektivationen (Attitüden und Meinungen). Ziel ist es, an der Lösung soziokultureller Probleme mitzuwirken.« — hat Leopold Kretzenbacher als neuer Münchner Volkskunde-Ordinarius Zelte angeschafft, um mit seinen Studenten »Bräuche zu erwandern«, gemäß seiner Vorstellung, Volkskunde sei »Begegnung mit dem Volk«, »mit seinem Denken und Fühlen, mit seinem Werken und Wirken«, »mit seiner Art, das Leben zu meistern, es zu erleiden und zu erdulden, auf jeden Fall zu bestehen … und durch das Mittel von Ritus und Brauch zu ›bewältigen‹.«57 Für Leopold Schmidt, enger Weggefährte (auch im Wortsinne, denn Kretzenbacher war ein großer Wanderer!), ist Volkskunde gar »die Wissenschaft vom Leben in überlieferten Ordnungen«.58

Drawing[Abb. 3: Rosa bracteata. Quelle: John Sims (1749–1831), Public domain, via Wikimedia Commons.]

In dieser Zeit starb, 1969, Will-Erich Peuckert, Erforscher, nein: Sänger von magia naturalis und Tiefe des Volksglaubens, der Lust zu Gott und des Hindurchsehens; fünf Jahre zuvor Werner Bergengruen, dessen Werk, bevor es zu Altpapier erklärt wurde, »die ewigen Ordnungen und die unauflösliche Verflechtung von Deutschtum und Christentum« sichtbar machte, so seinerzeit tatsächlich der Verlag S. Fischer.59

Was vereint alle in »Aufheben« vorgestellten Denker? Was bindet die hier Präsentierten Jahrhunderte überspannend zusammen — die Volkskundler Wilhelm Heinrich Riehl und Will-Erich Peuckert, die Biologen Jean-Henri Fabre und Adolf Portmann, die Schriftsteller Werner Bergengruen und Hanns Cibulka, den Philosophen Nikolaus Lobkowicz und den Theologen Wolfhart Pannenberg? Es ist ihre »Hochwertung« (Portmann60) der Schöpfungsordnung61, die sie als etwas Lebendiges sahen und wahr nahmen. Sie alle lebten damit in der religio, sie waren rückverbunden. Ist es die Kirche von heute noch? (Nach »der Gesellschaft« möchte man gar nicht fragen.)


»Meine ganze Arbeit als Informatiker besteht darin, die Grundlagen, Vergleichsmög­lichkeiten und Kriterien rationaler Entscheidung zu vervielfachen. Das hat überhaupt keinen Sinn. […] Dieser Welt mangelt es an allem, außer an zusätzlicher Information.«
Michel Houellebecq62


Anmerkungen

  1. Wolfhart Pannenberg: Was ist der Mensch? Die Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie. 7. Aufl. Göttingen: Vandenhoek & Rupprecht, 1985, S. 6. 

  2. Nach Nils Björn Schulz: Kritik und Verantwortung. Irrwege der Digitalisierung und Perspektiven einer lebendigen Pädagogik. München: Claudius, 2023, S. 69 f. mit Anm. 58: »Die Schulverwaltungen gene­rieren ständig Akronyme, deren Lautung […] ein Wort erzeugt, das sich wie in der Werbung raffiniert und lustig anhören soll. Ein schönes Beispiel ist die Abkürzung für ›Erweiterte Schulleitung‹: ESL [Er­weiterte Schulleitung]. Gesprochen: ›Gehst Du heute zur Esel?‹ […] SuS [Schülerinnen und Schüler], LuL [Lehrerinnen und Lehrer] und LAL [Lernausgangslage] und DigiLAL [Digitale Lernausgangslage], LUSD [Lehrer- und Schüler-Datenbank] und SchiC [Schulinternes Curriculum] und müLF [mündliche Leistungsfeststellung] sind feste Bestandteile des schulischen Phrasenalltags. Über diesen infantilen Zug der Schulverwaltung ließen sich Satiren schreiben. Wie können Lehrkräfte, die solche Akronyme in ihren aktiven Wortschatz übernehmen, das Sprachbewußtsein von Kindern und Jugendlichen fördern?« — Viele dieser Abkürzungen entfalten ihre Grandezza erst durch lautes Aussprechen. 

  3. Wilhelm Heinrich Riehl: Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Sozialpolitik. Zweiter Band: Die bürgerliche Gesellschaft. 2., neu überarb. Aufl. Stuttgart / Tübingen: Cotta, 1854, S. 46. — Aus dem letzten verbliebenen Augsburger Antiquariat erworben, Dezember 2023. 

  4. Manfred Seifert: Arbeitskulturen — Mentalitäten – Industriekultur. Forschungskonzepte mit anthro­pologischer Perspektive. In: Wolfgang Hesse / Holger Starke (Hrsg.): Arbeiter | Kultur | Geschichte. Arbeiterfotografie im Museum. Leipzig: Leipziger Universitätsverlag, 2017 (Bausteine aus dem Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde; 37), S. 481–494, Zitat S. 481. — Eine Rezension mit der im Text zusammengefaßten Erkenntnis durfte, obwohl von der Redaktion angefordert, im Bayerischen Jahrbuch für Volkskunde nicht erscheinen. 

  5. Hanns Cibulka: Sanddornzeit. Tagebuchblätter von Hiddensee. Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag, 1971 [unter demselben Titel zum 100. Geburtstag (2020) des Autors wiederveröffentlicht bei Matthes & Seitz, Berlin 2019, herausgegeben und mit einem Nachwort von Sebastian Kleinschmidt, in der Reihe Naturkunden Nr. 64, herausgegeben von Judith Schalansky], S. 74 f. [S. 43 f.]. — Vom Flohmarkt in München-Sendling, Mai 2023. 

  6. Cibulka nennt seinen Gesprächspartner stets nur: »der Doktor«. Nur einmal, als er seine Hiddensee-Bekanntschaft für den Leser einführt, bezeichnet er ihn als »Doktor H.« und verrät, daß er gebürtiger Oberschlesier ist: Ebd., S. 10 [S. 8]. 

  7. Ebd., S. 75 f. [S. 44]. 

  8. Jean-Henri Fabre: Das offenbare Geheimnis. Aus dem Lebenswerk des Insektenforschers. Hrsg. von Kurt Guggenheim und Adolf Portmann. Mit einem Essay von Martin Lindauer. 2. Aufl. Zürich / München: Artemis, 1987, S. 44 f. 

  9. Und vice versa: Wer sich der gängigen kalten, andere ausschließenden »Wissenschaftssprache« befleißigt, kommt voran im System und darf auf Karriere hoffen. Siehe dazu: Jürgen Schmid, Rezension von: Valentin Groebner: Wissenschaftssprache. Eine Gebrauchs­anweisung. Konstanz: Konstanz University Press, 2012. In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 2013, S. 201–205; in Teilen von der Redakteurin Gabriele Wolf »bereinigt« — ad usum academiae sozusagen. 

  10. Der Ethnologe Wolfgang Haberland (1922–2015) berichtet aus seinem Studium in der Nachkriegs-zeit, daß von seinem Hamburger Lehrer Franz Termer »nicht die gängigen Thesen gelehrt« wurden, »sondern ausschließlich Tatsachen«. Denn: »Theorie ohne alles andere ist Unsinn.« URL: http://www.germananthropology.com/cms/media/uploads/4e53c2353ac1d/interview_4e9322aa1755b.pdf. 

  11. Fabre: Geheimnis (1961/1987), wie Anm. 8, S. 11 f. (Der Harmas). 

  12. Es wäre an der Zeit, den Wesenskern diese mißbrauchten Wortes — ganz im Sinne Portmanns — wieder freizulegen und in Gebrauch zu nehmen, nachdem es ins Reagenzglas narrativschaffender Moralinsäure von »ewigmorgigen« (Armin Mohler) politmedialen Erziehungsdiktatoren geraten ist. 

  13. Adolf Portmann: Die Gestalt, das Geheimnis des Lebendigen. In: ders.: Vom Lebendigen. Versuche zu einer Wissenschaft vom Menschen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1973, S. 49–74, hier S. 74. 

  14. Wie es der geschätzte Kommentator »Gracchus« auf einer rechtsintellektuellen Homepage so ein­gänglich formulierte: »Von Mutter Gaia ist keine Rede mehr; kein lebendiger Organismus, sondern Biomechanik.« 

  15. Portmann: Gestalt (1973), wie Anm. 13, S. 49. 

  16. »Eine gigantische Vernichtung von Erinnerung« nannte ein deutscher Urlauber auf den äolischen Inseln die anschwellende Sturzflut digitaler Bilder von allem Möglichen und Unmöglichem, als er — Ostern 2017 an der Hafenmole von Panarea stehend — mit seiner Glasplattenkamera versuchte, den Stromboli mit einer kleinen Wolke neben seinem Gipfel so ins Bild zu setzen, daß diese eine Aufnah­me (mehr machte er nicht an einem Tag) seine Gestimmtheit in diesem Augenblick abbilden konnte. 

  17. Portmann: Gestalt (1973), wie Anm. 13, S. 65. 

  18. Cibulka: Sanddornzeit (1971), wie Anm. 5, S. 102 [S. 57]. 

  19. Adolf Portmann: Zoologie und das neue Bild des Menschen. Biologische Fragmente zu einer Lehre vom Menschen. 3. Aufl. Hamburg: Rowohlt, 1969 (Rowohlts deutsche Enzyklopädie; 20). 

  20. Wolfhart Pannenberg: Anthropologie in theologischer Perspektive. Göttingen: Vandenhoek & Rupprecht, 1983, S. 32. — Pannenberg hat (u.a.) bei Karl Barth in Basel studiert, wo die Theologen sich am sogenannten Rheinsprung ein Institutsgebäude mit der Zoologie teilten, so daß er dort Portmann persönlich begegnet sein wird: »Portmann kam öfters zusammen mit dem Theologen Karl Barth den Rheinsprung herauf, da Theologie und Zoologie im gleichen Gebäude gelehrt wurden. Sie sahen aus wie Sancho Pansa und Don Quijote. Barth war klein, ein gemütlicher Pfeifenraucher, sehr diesseitig und interessiert an seiner Umgebung. Portmann hingegen, eine hoch gewachsene Gestalt, machte einen asketischen und oft geistesabwesenden Eindruck. Er selber beschrieb sich einmal als ›Don Quijote in der technischen Welt der Laboratorien‹.« Siehe https://www.blauen-institut.ch/s2_blue/tx_blu/tp/tpf/f_portmann.pdf

  21. Zu Portmanns Anthropologie siehe: Joachim Fischer: Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung des 20. Jahr­hunderts. Freiburg / München: Alber, 2008, S. 197–205, S. 571–573. 

  22. Florianne Koechlin: Don Quijote der Laboratorien. In: Die Wochenzeitung Nr. 24 vom 10. Juni 2004, https://www.blauen-institut.ch/s2_blue/tx_blu/tp/tpf/f_portmann.pdf. — Vgl. Hans Peter Duerr (Hrsg.): Der Wissenschaftler und das Irrationale. Band 1. Beiträge aus Ethnologie und Anthropologie. Band 2. Beiträge aus Philosophie und Psychologie. Frankfurt am Main: Syndikat, 1981. 

  23. Adolf Portmann, Goethes Morphologie in unserer Zeit. In: ders.: Vom Lebendigen (1973), wie Anm. 13, S. 221–265, hier S. 256. 

  24. Cibulka: Sanddornzeit (1971), wie Anm. 5, S. 118 f. [S. 67]. 

  25. Ebd., S. 118 [S. 67]. 

  26. Ebd., S. 120f. [S. 68f.]. 

  27. Der Prediger Salomo (Kohelet) 7, 24. — Zitiert in: Botho Strauß,: Lichter des Toren. Der Idiot und seine Zeit. München: Diederichs, 2013, S. 51. 

  28. Cibulka: Sanddornzeit (1971), wie Anm. 5, S. 119 [S. 68]. 

  29. Nikolaus Lobkowicz: Was brachte uns das Konzil? Würzburg: Neumann, 1986, S. 22. — Aus einem öffentlichen Bücherschrank in München-Haidhausen, April 2024. 

  30. Das Kapitel über Ratzingers Zeit als Erzbischof von München und Freising im Wikipedia-Eintrag »Benedikt XVI.« gliedert sich in einen zwölfzeiligen »Überblick« über die gesamte Amtszeit und einen dreieinhalbseitigen Detailbericht »Umgang mit Fällen sexuellen Missbrauchs«. 

  31. Lobkowicz: Konzil (1986), wie Anm. 29, S. 78. 

  32. Lobkowicz hätte schreiben müssen: in den Großstädten Westeuropas. Denn in den Metropolen der osteuropäischen Orthodoxie kann von einem derartigen »Zerfall« auch heute noch keine Rede sein. Was Götz Kubitschek für Belgrad berichtet — »Männer und Frauen betreten auf dem Weg zur Arbeit kurz die Kirche, schlagen das Kreuzzeichen, küssen und berühren die Ikonen und stecken eine Kerze auf« (https://sezession.de/65885/in-serbien-1) —, habe ich in Bukarest in gleicher Weise erleben dür­fen: lebendige Volksreligiosität, im Alltag öffentlich zelebriert von Jung und Alt, sozialschichtenüber­greifend, wo Männer, wenn sie an einer Kirche vorübergehen, den Hut abnehmen und sich junge Frauen im Business-Kostüm auf dem Weg ins Büro vom Popen segnen lassen. 

  33. Lobkowicz: Konzil (1986), wie Anm. 29, S. 17 f. 

  34. Christoph Kürzeder: Als die Dinge heilig waren. Gelebte Frömmigkeit im Zeitalter des Barock. Regensburg: Schnell + Steiner, 2005. — Kürzeder verantwortete als Leiter des Diözesanmuseums Freising die Ausstellungen »Klausur. Vom Leben im Kloster« über das Salesianerinnenkloster Beuerberg (2016) und »Verdammte Lust! Kirche. Körper. Kunst«, die zeigen wollte, »wie sehr männliche Perspektiven in der Theologie und in der Kunst dominieren« (angeregt von Kardinal Reinhard Marx, Autor des Buches Das Kapital); im Begleitprogramm: »Wundersame Transition. Geschlechtswandel in der christlichen Kunst« (2023) — von der Wahrnehmung gelebter Frömmigkeit zur Propagierung von Zeitgeistideologie Marke »Synodaler Weg« im Schnelldurchlauf. 

  35. Romano Guardini: Wahrheit des Denkens und Wahrheit des Tuns. Hrsg. von Felix Messerschmid. Paderborn 1980, S. 93. — Zitiert nach: Lobkowicz: Konzil (1986) wie Anm. 29, S. 22 f. Anm. 8. 

  36. Pannenberg: Mensch (1962/1985), wie Anm. 1, S. 12 f. 

  37. Grafs Nachruf bezieht sich hier auf: Pannenberg: Anthropologie (1983), wie Anm. 20, S. 459, S. 460–471 (Die Religion im System der Kultur). Besonders deutlich wird Pannenbergs »irritierende Modernitätskritik« (Graf) in diesen Passagen: »Demjenigen Staate, der nur noch das Volk, bzw. die Gesellschaft und ihre Antagonismen repräsentiert, aber nicht mehr die in der Ordnung des Kosmos oder der Geschichte offenbare göttliche Wahrheit, bleibt die Möglichkeit einer nicht [Hervorhebung J. S.] auf ihn selber begründeten Legitimation seiner politischen Ordnung verschlossen. Auch der Ausweg des Wohlfahrtsstaates bietet hierfür keinen dauerhaften Ersatz, weil kein Staat auf die Dauer alle Bedürfnisse der Bürger befriedigen und ihre Glückseligkeit verbürgen kann. Als Wohlfahrtsstaat setzt sich die politische Ordnung noch einmal selber an die Stelle der Religion, statt die ihr auf dem Boden eines religiös begründeten Sinnbewußtseins […] zufallende, beschränkte Funktion auszufüllen.« (S. 459) Pannenbergs Kritik ist fundamental: »Die Maßlosigkeit politischer Heilsbotschaften ist ihrem Wesen nach verlogen, weil sie sich mit der gesellschaftlichen Realität divergierender Interessen gar nicht decken kann und ihr bloßer Schein nur durch Unterdrückung aufrechtzuerhalten ist.« (S. 462 f.) Ein Dilemma, das aus eigener Kraft nicht überwunden werden könne, denn: »Die Legitimitätskrise des säkularen Staates […] entzündet sich immer aufs neue an der Entdeckung der Selbstrechtfertigung staatlicher Herrschaft durch Manipulation des öffentlichen Bewußtseins.« (S. 459). 

  38. Pannenberg: Anthropologie (1983), wie Anm. 20, S. 470 f. 

  39. Verweis auf Schmitts Verfassungslehre (1928) ebd. S. 457 f. mit Anm. 213. Nach Carl Schmitt, so Pannenberg, bedeutete »die Privatisierung der Religion nach den Religionskriegen des 16. und 17. Jahrhunderts […] ›eine Relativierung und sogar Entwertung des Staates und des öffentlichen Lebens überhaupt‹ [Zitat Schmitt] und konstituierte die individuellen Freiheit als höchsten Wert«. 

  40. Götz Kubitschek, Postpragmatismus oder: Im »Jungen Salon«. In: Sezession 66, Juni 2015, S. 24–27, hier S. 27. 

  41. Zitiert nach: Hans Sedlmayr: Die Revolution der modernen Kunst. Hamburg: Rowohlt, 1955 (Rohwolts Deutsche Enzyklopädie; 1), S. 66 mit Anm. 1. — Aus einem öffentlichen Bücherschrank in München-Haidhausen, Mai 2024. 

  42. Uwe Jochum: Kritik der Neuen Medien. Ein eschatologischer Essay. München: Fink, 2003. 

  43. Martin Lindauer: Fabre und die Insektenforschung unserer Zeit. In: Fabre: Geheimnis (1961/1987), wie Anm. 8, S. 321–339, hier S. 321. 

  44. Ebd., S. 332. 

  45. Adolf Portmann: Nachwort. In: Fabre: Geheimnis (1961/1987), wie Anm. 8, S. 307–319, hier S. 309. 

  46. Auch wenn es seinem ehemaligen Schüler schwerfällt, es zu glauben: Es gibt so gut wie keine pub­lizierte Hinterlassenschaft von Pater Otmar. Da ist seine Dissertation über eine kaum mehr bekannte mittelalterliche Mystikerin: Otmar Wieland OSB: Gertrud von Helfta. ein botte der götlichen miltekeit. Ottobeuren 1973. Und ich durfte ein Interview mit ihm führen: »Das Leben als Meditation leben«. [Gespräch mit Pater Dr. Otmar Wieland OSB über die Wertigkeit von Zeit]. edition:schwaben, 4/2009, S. 86–95. Das Übrige: Kontemplation, Studium, Gebet. 

  47. Aus einem unveröffentlichten Gespräch mit Pater Otmar, 2013. 

  48. Fabre: Geheimnis (1961/1987), wie Anm. 8, S. 103. 

  49. Tsunetomo Yamamoto: Hagakure. Der Weg des Samurei. München / Zürich: Piper, 2000, S. 6. — Straßenfund in München-Haidhausen, vor der Tür einer japanischen Bäckerei, Mai 2024. 

  50. Der Prediger Salomo (Kohelet) 3,1. 

  51. Zitiert nach: Markus Ritter: Die Biologie Adolf Portmanns in zeitgeschichtlichem Kontext. In: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 100 (2000), S. 207–254, hier S. 207 mit Anm. 3. 

  52. Koechlin: Don Quijote (2004), wie Anm. 22. 

  53. Heinrich Fries: Abschied von Gott? Ein Theologe antwortet. Freiburg im Breisgau: Herder, 1968. 

  54. Heinrich Fries: Nachwort. In: Hans Schwarz: Verstehen wir das Glaubensbekenntnis noch? Der gemeinsame Glaube der Christen. Freiburg im Breisgau: Herder, 1986, S. 79–82, hier S. 79 (Seitenzählung nach Internet-Dokument, URL https://www.uni-regensburg.de/assets/philosophie-kunst-geschichte-gesellschaft/evangelische-theologie/pdfs/hs_glaubensbekenntnis.pdf). 

  55. Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am Collège de France — 2. Dezember 1970. Hrsg. von Wolf Lepenies u. Henning Ritter. Frankfurt am Main / Berlin / Wien: Ullstein, 1977. 

  56. Wolfgang Kaschuba: Einführung in die Europäische Ethnologie. 3. Aufl. München 2006. 

  57. Leopold Kretzenbacher: Ethnologia Europaea. Studienwanderungen und Erlebnisse auf volkskundlicher Feldforschung im Alleingang. München: Trofenik, 1986, S. 1. 

  58. Zitiert nach ebd., S. 115. 

  59. Klappentext zu: Werner Bergengruen: Der Tod von Reval. Kuriose Geschichten aus einer alten Stadt. Frankfurt am Main: Fischer, 1956. — Straßenfund in München-Laim, aus dem von den Erben entsorgten Bücherfundus eines Studienrats, Mai 2023. 

  60. Portmann: Nachwort, wie Anm. 45, S. 308. 

  61. Im letzten Jahr nahm ich an einer Fronleichnamsprozession in der Fränkischen Schweiz teil, die so dezidiert auf jede grün-woke Propaganda verzichtet hat — kein Klimagedöns, keine Genderei, kein Queer- und Trans-Geschwätz, kein »Kampf gegen rechts« –, daß es fast schon unwirklich war. Quintessenz der Fürbitten »für unsere Politiker«: Sie mögen sich bei ihren Entscheidungen an der »gottgegebenen Ordnung« orientieren. Ist es heute schon Bekenntnismut, wenn ein Pfarrer, wenn eine Kirchengemeinde durch das, was sie — zwei Stunden lang — laut und deutlich nicht sagen, ihren Widerstand bekunden? 

  62. Michel Houellebecq: Ausweitung der Kampfzone. 3. Aufl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 2000, S. 90. — Vom Flohmarkt in München-Sendling, Mai 2024.