Leib und Leben

Geschrieben von Uwe Jochum am 26.11.2023

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σύνταξις | VII | syntaxis

Am Montag, den 13. November 2023 starb in Großbritannien Indi Gregory, ein acht Monate altes Mädchen, das an einer unheilbaren Krankheit litt. Es starb, nachdem die Ärzte eine Weiterbehandlung abgelehnt und eine Klage der Eltern auf künstliche Beatmung und Ernährung vom zuständigen Gericht abgelehnt worden war. Abgelehnt hatte das Gericht auch die Verlegung des Kindes nach Italien, wo eine Klinik zur Weiterbehandlung bereitgewesen wäre. Und abgelehnt hatte das Gericht die Verlegung des Kindes nach Hause, damit es dort im Kreise seiner Familie sterben könne. Beide Verlegungen, so entnehmen wir den Pressemeldungen, galten als »zu gefährlich«. Nicht gefährlich scheint hingegen in den Augen des Gerichts die Verlegung des Babys in ein Hospiz gewesen zu sein, wo Indi Gregory starb.

Am Freitag derselben Woche, am 17. November, diskutierte der deutsche Bundestag in erster Lesung das sogenannte »Selbstbestimmungsgesetz«, das es jedermann und jederfrau künftig gestatten soll, selbst darüber zu bestimmen, ob er oder sie sich für einen Mann oder eine Frau hält. Dieses Selbstfürwahrhalten soll die betreffende Person sowohl in ihrem sozialen Umfeld als auch gegenüber Ämtern und sonstigen staatlichen Einrichtungen juristisch durchsetzen können.

Nun werden Sie sich natürlich fragen, was diese beiden Ereignisse miteinander gemein haben, außer daß sie in dieselbe Kalenderwoche fallen. Die Antwort auf Ihre Frage lautet: Beide Ereignisse sind der jüngste Ausdruck einer Selbstermächtigung des Menschen, der sich mit seinem Eigenurteil zum Herrn der Schöpfung macht; und im Extremfall heißt das, daß er sich zum Herrn über Leben und Tod aufwirft.

Dabei getraut er sich ohne alle Ironie, aber mit aller menschengemachten Selbstüberschätzung, die Rolle des Schöpfers zu übernehmen und also durch Sprachhandeln zu sagen, wer oder was ein Mensch ist: ob er ein Mann oder eine Frau ist, ob sein Leben lebenswert oder lebensunwert ist. Es genügt also, daß eine Person namens Ganserer öffentlich sagt, sie sei eine Frau, und dann sollen wir denken, sie sei es auch wirklich; es genügt aber ebenso, daß ein britisches Gericht sagt, daß ein Baby kein lebenswertes Leben führen kann, und schon werden wir und die Eltern gezwungen, dem Gerichtsurteil zu folgen und ohnmächtig mitanzusehen, wie das Baby stirbt.

Um zu erkennen, daß beides falsch ist, das britische Gerichtsurteil und das deutsche Selbstbestimmungsgesetz, und daß beides aus demselben Grund falsch ist, das zu erkennen braucht es keinen Philosophen. Es genügt, daß wir uns bewußt werden, daß das, was wir als Menschen sind, sich in unserem Leib manifestiert. Mit unserem Leib kommen wir auf die Welt, und wenn der Leib eines Tages verbraucht sein wird, werden wir die Welt wieder verlassen. Dazwischen liegt unser Leben, in dem wir, wenn es gut geht, die Keime ausbilden, die in uns angelegt sind, unsere Emotionen und Willenskräfte und zuletzt unseren Geist, mit dessen Hilfe wir Aufschluß über uns und unsere Welt erlangen. Aber was auch immer wir denken, was auch immer wir wollen und fühlen, wir denken, wollen und fühlen es als leibgebundene Lebewesen, die in ihrem und mit ihrem Leib unsere Welt gestalten.

Was geschieht, wenn wir die Dimension des Leibes negieren, wissen wir seit der vergangenen Woche. Dann geben wir das Lebensrecht der Menschen auf, das in ihrem Leib gründet und einer Entwicklungsrichtung folgt, die sich niemand von uns ausgesucht hat, der aber jeder von uns verpflichtet ist, wenn sein Leben denn ein gelingendes Leben sein soll. Seit der vergangenen Woche wissen wir, daß es falsch ist, wenn andere Menschen sagen und bestimmen wollen, wer wir in unserem Leib sind oder zu sein haben; aber seit der vergangenen Woche wissen wir ebenso, daß es falsch ist, wenn wir alleine auf der Basis eines Selbstgefühls oder einer Selbstwahrnehmung sagen und bestimmen wollen, was es mit uns und unserem Leib auf sich hat. Richtig ist vielmehr, daß es unser Leib ist, der uns und den anderen sagt, wer wir sind. Und zu diesem Sagen, wer wir sind, gehört auch die Fähigkeit einer realistischen und nicht-illusionären Selbsteinschätzung, die sich aus der Auseinandersetzung mit den Fremdeinschätzungen ergibt. Das nennt man Erwachsen- und Mündigwerden. Seit der vergangengen Woche wissen wir, daß das Unmündigbleiben in Deutschland Gesetz werden soll; und seit der vergangenen Woche wissen wir, daß das Nichtmenschwerdendürfen in Großbritannien bereits Gesetz ist.

Wer sagt den Selbstbestimmern und Fremdbestimmern dieser Welt, daß sie auf einem gefährlichen Grad gehen? Dem Grad, auf dem die absolute Selbstbestimmung jederzeit in eine absolute Fremdbestimmung umschlagen kann. Sie schlägt um, sobald man sich anschickt, den Leib als unmittelbaren Ausdruck der Person zu mißachten.


Der vorstehende Text wurde am 21. November 2023 in der Sendung »Kontrafunk aktuell« als Kommentar gesendet (ab Minute 46:00).