Aufheben XII

Erweiterung des Expertenmarkts. Rechtsleseforschende

Geschrieben von Jürgen Schmid am 26.11.2024

Vom selben Autor:


Religio II

Das Volkstum. Viktor Ritter von Geramb
(1884–1958)


Jürgen Schmid

Historiker

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Für Geisteswissenschaftler produziert »unsere Demokratie« eine blühende Tätigkeits­landschaft — den Expertenmarkt. Benötigt werden Transformationsforschende und Nachhaltigkeitsexperten, zudem spezialisierte Verkehrssachverständige, insofern sie ihre Expertise maßgeschneidert haben auf das, was gewünscht ist: Mobilitätswende etwa oder »geschlechtergerechte Perspektiven in der Verkehrs- und Stadtplanung«. Auch die Grenzregimeforschende kann die Nachfrage bestens befriedigen, wenn sie der »No-Nation-No-Border«-Fraktion angehört. Eine »Expertin für Messerkriminalität« muß stets den Nachweis führen können, daß Messerkriminalität gar nicht zuge­nommen hat, die zugenommene Messerkriminalität aber keineswegs in bestimmten kulturellen Kreisen verortet werden kann. Schließlich das wichtigste Geschütz der Demokratieverteidiger — Rechtsextremismusexperten in Heeresstärke, ausgebildet vor allem an den ergrünten Instituten für Politikwissenschaft (Nr. 4 im Link).

Leider kann nicht jede akademische Disziplin den gleichen Anteil am boomenden Markt für sich beanspruchen — die Literaturwissenschaft saß lange am Katzentisch und ihre Vertreter zerkauten sich die Fingernägel über der Frage: »Wie komme ich ins Geschäft?« Manche versuchten es über die Schiene des Diskriminierungsdetektivs. Mit mäßigem Erfolg. Neidisch blickte man auf die Kollegen von Soziologie und Ethnologie, die alle an der reich gedeckten Tafel des Expertisenschmauses Platz nehmen können, weil sie als Gesellschaftswissenschaftlernde prädestiniert sind zu erklären, warum so viele Menschen falsch denken, reden, sitzen, essen, sich fortbewegen und (horribile dictu) falsch wählen; auch auf die Historiker, die stets vor »Weimarer Verhältnissen« warnen und AfD-Politiker wie Björn Höcke unverblümt mit Hitler und dessen Machtergreifungsstrategien vergleichen dürfen, ganz zu schweigen vom einträglichen Kolonialschuldgeschäft eines historischen Großaktionärs wie Jürgen Zimmerer; sogar eine Agrarsoziologin, die Bauern anläßlich ihrer Proteste als »rechts« einzuordnen fähig war, lief den Literaturwissenschaftlern den Rang ab.

Haltung zeigen gegen rechtspopulistische Vulgarität — ein neuer Markt für die Germanistik in der Wahrnehmungskrise

Als der Spiegel eine Krise der Germanistik diagnostizierte, mit Professoren, die im öffentlichen Diskurs nicht wahrgenommen werden, widersprach der Konstanzer Germanist Albrecht Koschorke diesem Befund: Viele Fachkollegen würden sich durchaus als »public intellectuals« zu Themen der Zeit äußern, er selbst »arbeite sehr stark über politische Narrative«, genauer gesagt »über den Populismus«; was er nicht sagte: über den Rechtspopulismus und seine Bekämpfung. Sowie darüber, »wie allzu feine liberale Sitten vulgäre Gegenkräfte erzeugen«, wobei die Gleichung mitzudenken ist: vulgär = rechts. Ein profitabler Ansatz war gefunden: die öffentliche Bedeutungs­losigkeit der Germanistik kann aufgehoben werden durch politische Äußerungen mit der richtigen Stoßrichtung zu den richtigen Themen — und schon ist man mit dem Projekt »Solidarität erzählen« beteiligt am »Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zu­sammenhalt«, das gefördert wird vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, womit nun auch ein Universitätsgermanist durch die bunte Welt der Medien, von ZEIT über Tagesspiegel bis NZZ, turnen kann.

Und weil das so wunderbar funktioniert mit Drittmittelgenerierung und medialer Aufmerksamkeit im Paket, baut man den einmal eingeschlagenen Expertisenpfad konsequent aus. Bleiben wir bei Koschorke und in Konstanz, wo die Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte herausgegeben wird. Brandneu in Open Access — die aktuelle Ausgabe, ein Themenheft über »Neu­rechte Literatur und Literaturpolitik«, darin allerhand Erklärungen, warum die Rechte liest und zum Lesen anregt, darunter eine Art Gegendarstellung2 zum Schnellrodaer Literaturgespräch über Gerd Gaiser, das Aufheben in der letzten Folge verlinkt hatte.

Die »Behauptung«, geäußert von Götz Kubitschek, Inhaber des Antaios-Verlags, in eben jenem Gespräch mit Erik Lehnert, es hätte eine bewußt gesteuerte Dekano­nisierung konservativer Autoren wie Gaiser zugunsten linksgefälliger Schriftsteller gegeben, wird ins Reich der Verschwörungsmythen einsortiert — und überhaupt erklärt, warum Leser wie Kubitschek und Lehnert so lesen wie sie lesen und wieso ein Verleger wie Kubitschek seinen Lesern und Zuhörern empfiehlt, was er empfiehlt. Wenn diese Erklärungen dem zuwiderlaufen, was und wie im Gespräch wirklich gesprochen wurde, darf der Fehler selbstredend nicht beim Erklärer gesucht werden.

Wenn die Vierteljahresschriftsautoren meinen, hier würde eine »geschichtsrevisioni­stische Form der Literaturgeschichtsschreibung« betrieben, dann dürften sie allerdings etwas sehr richtig verstanden haben: daß es an der Zeit ist, den etablierten Kanon auf den Prüfstand zu stellen, zu fragen, wie dieser entstanden ist, wer ihn entstehen hat lassen, was früher einmal auf dem Kanon stand, ob es dort zu Recht stand und wenn ja, warum es nun nicht mehr im Kanon enthalten sein darf. Eine derartige Revision des Kanons nehmen nun auch die Rechts- und Richtigleseforschenden vor, allerdings in einzig korrekter Art und Weise, indem sie sich »im Kontext intersektionaler Überlegungen« darum bemühen, »die aufgrund von Unterdrückungsmechanismen ›vergessenen, marginalisierten oder unbekannten Autor*innen‹ insgesamt ›sichtbar‹ zu machen«.

Ein progressiver Literaturkanon — das Spiegel-Projekt, das viel vergißt

Wenn nun dieses richtigkanonisierende »linksliberale« Milieu einen konkreten Kanon entwirft, kann sehr schnell überprüft werden, wie diese Kanonarbeit im Endergebnis aussieht. Zur diesjährigen Frankfurter Buchmesse hat sich ein Hamburger Nachrich­tenmagazin diesem Unterfangen gestellt — und einen »Spiegel-Kanon« vorgelegt: »Die 100 besten deutschsprachigen Romane der letzten 100 Jahre« (hinter der Bezahl­schranke versteckt).

Hat nun der neue Spiegel-Kanon die »vergessenen, marginalisierten oder unbekannten Autor*innen« insgesamt »sichtbar« gemacht? Denn darauf legt dieses Milieu ja großen Wert: auf die Abbildung der Wirklichkeit in ihrer ganzen Vielfalt, wie es das kleine Wörtchen »insgesamt« deutlich zu betonen weiß. Nun ja …

Konservative Autoren kommen in dieser Liste nicht vor, erst recht kein dezidiert rechter wie Ernst von Salomon, dessen Fragebogen, heute vergessen, der erste Bestseller der jungen Bundesrepublik war. Ausnähmchen: Hans Fallada, bezeich­nenderweise mit Jeder stirbt für sich allein, weil dieser Widerstandsroman im alt-neuen antifaschistischen Nachholungswiderstand instrumentalisierbar ist. Aus neuerer Zeit: Kein Uwe Tellkamp, dessen Turm das Monumentalepos der unter­gehenden DDR ist, keine Monika Maron — aus Gründen. Hier schon fast als Feigen­blättchen vor der unübersehbaren Flut linker Autoren auf der Liste: Botho Strauß mit seinem apolitischen Werk Paare, Passanten (1981); mutig wäre es gewesen, Strauß’ Essay »Anschwellender Bocksgesang« (1993) zu nominieren, seinerzeit gedruckt im Spiegel. Und von Martin Walser wurde nicht Der springende Brunnen (1998) ausgewählt, die großartige Autobiographie des späten Walser, der fair und nachvollziehbar erläutert, warum Menschen wie seine Mutter »in die Partei« eintraten — sondern das Frühwerk des Linksintellektuellen, Ehen in Philippsburg (1957).

Im Spiegel-Kanon klafft zwischen Ödön von Horvaths Jugend ohne Gott3 (1937) und Anna Seghers Transit (1944) eine gähnende Leere. Generell halten die Hamburger Kanonisten für die Zeit des Nationalsozialismus keinen deutschen Autor für nennenswert; man bietet hier nur vier Schriftsteller überhaupt auf, darunter einen Ungarn und zwei Schweizer. Wie aber will man die Zeit der 1920er und 1930er Jahre in der deutschen Geschichte halbwegs repräsentativ abbilden und wie will ein Leser sie verstehen mit dieser Monsterlücke, die konservative Autoren nicht kennt?

Die so genannte »Innere Emigration«, also alle Werke, die in den zwölf Jahren von im Lande verbliebenen Schriftstellern verfaßt und in den Druck gegeben wurden, existiert beim ehemaligen Arbeitgeber von Claas Relotius nicht, zum Beispiel Frank Thiess’ Reich der Dämonen (1941), dieses »Riesengemälde eines vergangenen Jahrtausends, das zu einem — vom Autor zunächst gar nicht beabsichtigten — Angriff gegen die Politik des Dritten Reiches und von den Machthabern alsbald verboten wurde«. Auch dies fehlt — mit Grund. Denn Thiess warf den Emigranten nach dem Krieg vor, »aus den Logen und Parterreplätzen des Auslands der deutschen Tragödie zu[ge]schaut« zu haben, womit er Thomas Mann zu der apodiktischen Aussage provozierte, alle Bücher, »die von 1933 bis 1945 in Deutschland überhaupt gedruckt werden konnten«, seien »weniger als wertlos und nicht in die Hand zu nehmen. Ein Geruch von Blut und Schande haftet ihnen an. Sie sollten eingestampft werden«. Dieses Diktum steht — für »Linksliberale« ohnehin — wie in Stein gemeißelt als Barriere vor der Lektüre von Meisterwerken der »Inneren Emigration«, die allesamt Manns Aussage als das entlarven, was sie ist — eine (mit Verlaub) unqualifizierte Pöbelei.

Zu nennen wären an bleibender, gültiger Qualität aus dieser Zeit (unter anderen) die Wider­standsromane Der Großtyrann und das Gericht von Werner Bergengruen, Horst Langes sagenhafte Schwarze Weide, Reinhold Schneiders Las Casas vor Karl dem Fünften, Ernst Jüngers Auf den Marmorklippen und Ernst Wicherts Das ein­fache Leben, natürlich Jochen Kleppers Preußen-Roman Der Vater. In Hamburg klafft hier eine riesige Fehlstelle. Es ist schon bezeichnend, wie komplett die Richtig­meiner die Innere Emigration aus dem Erinnerungsstrom löschen wollen — als hätte es sie nie gegeben, als wäre ein Ernst Wiechert nicht im KZ gesessen und hätte seine Aufzeichnungen über diese Tortur (Der Totenwald) nicht im Garten seines Wolfratshauser Anwesens vergraben müssen, um dem Manuskript und sich selbst ein Überleben zu sichern.

An Kommunisten mangelt es hingegen der Spiegel-Liste nicht, allerdings wurden oft die Falschen nominiert, Horvath statt Toller und Seghers statt Koestler; aber dessen Sonnenfinsternis wirft kein besonders helles Licht auf den Sozialismus in seiner real existierenden Form. Wirklich aufschlußreich wäre es gewesen, für das Jahr 1933 Ernst Tollers Eine Jugend in Deutschland kontrastierend den im selben Jahr er­schienenen Kadetten Ernst von Salomons gegenüberzustellen — eine linke und eine rechte Jugend zur selben Zeit im selben Land.

Ein rechter Literaturkanon — Vielfalt, Qualität, Ausgewogenheit

Nun haben die Vierteljahresschriftsautoren den jüngst erarbeiteten Sezessions- Kanon noch nicht gekannt, als sie dies als Fazit herausposaunten: Es gehe der »Neuen Rechten« um eine »Verbreiterung und Schwerpunktverschiebung allein nach rechts«, um die Etablierung eines »rechten Konformismus«. Schon die erste Lieferung des neu-rechten Kanons für die Jahre 1924 bis 1945 (inzwischen ist auch Teil 2, 1946 bis 1989, erschienen) — dessen Publikation sich zeitlich überschnitten hat mit dem Erscheinen des erwähnten literaturwissenschaftlichen Themenhefts — spricht dieser Deutung Hohn, denn dort sind eben nicht nur rechte Autoren versammelt, sondern eine ganze Palette jüdischer Schriftsteller, nicht zuletzt Jakob Wassermann (die nach der Logik der Rechtsleseanalytiker nun ein Teil des »rechten Konformismus« sind), dazu auch dezidiert nicht-rechte Exilanten wie Klaus Mann oder Stefan Zweig.

Die wohl peinlichste Fehlstelle des Spiegel-Kanons wird auch bereits in der ersten Lieferung des Sezessions-Kanons geheilt: Daß es — entgegen der Ansicht von Spiegelredakteuren (dortige Ausnahme: Joseph Roths Hiob) — deutsche Ostgebiete gab, die Schriftsteller hervorgebracht haben (etwa Werner Bergengruen aus dem Baltikum oder den Ostpreußen Friedrich Reck-Malleczewen) und Literatur, die die Mentalität und Geschichte dieser heute verlorenen Landschaften einfängt, wie für Schlesien Langes Schwarze Weide, für Ostpreußen Wiecherts Einfaches Leben und für die Deutsch-Balten Siegfried von Vegesacks Baltische Tragödie. Beim Spiegel wirkt die Fehlstelle Ostgebiete wie eine zweite Austreibung des Deutschen.

Ein staatlich gefördertes Projekt — und seine Stoßrichtung

Nun ist aber die Konstanzer Zeitschrift nur ein Nebenprodukt einer viel größer dimen­sionierten Rechtsleseforschung. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft finanziert ein auf drei Jahre angelegtes Projekt, das an der Universität Stuttgart angesiedelt ist und den Titel trägt: »Neurechte Literaturpolitik«. Dies treibt die Germanisten um: »Neurechte Verlage, Zeitschriften, Bücher, Blogs, Podcasts und Videos publizieren literarische Texte, geben Lektürehinweise, betreiben Literaturkritik und Literaturwis­senschaft. Dies alles geschieht vor dem Hintergrund eines metapolitischen Konzepts — man will zunächst die kulturelle Deutungshoheit gewinnen, um damit und danach politische Ziele durchsetzen zu können. Literaturpolitik ist deshalb kein politischer Nebenschauplatz, sondern eines der wichtigsten Aktionsfelder der neurechten Thinktanks.«

Grundsätzlich ist gegen einen solchen Forschungsansatz nichts einzuwenden — außer seiner einseitigen Blickrichtung. Denn von einem DFG-Projekt »Linke Literatur­politik« oder »Grüne Literaturpolitik« hat man noch nie etwas gehört. (Liegt das daran, daß es solche Ansätze in diesen Milieus nicht gibt?) Daß allerdings der projekt­verantwortliche Professor Torsten Hoffmann punktgenau das liefert, was sich das »linksliberale« Milieu von einer solchen Forschung als Ergebnis erwartet — eine öffentlichkeitswirksame Warnung in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung (FAS) davor, wie gefährlich es wird, »Wenn die Gedanken marschieren lernen«4 (erschienen zufällig im Februar 2024 auf dem Höhepunkt der Anti-AfD-Aufmärsche) und der Vorwurf an die Neue Rechte, »Bücher als Waffen« zu mißbrauchen — zeugt von der Gewissenhaftigkeit einer progressiven Forschendenhaltung.

»Der Neuen Rechten geht es darum, Begriffe, Metaphern und Narrative im Sinne der eigenen Welt­anschau­ung in die Welt zu spülen«, sagt Alexander Fischer vom Forschungsprojekt »Neurechte Literaturpolitik«. Die Neu-Alte Linke macht so was Gemeines natürlich nicht — ihre »Narrative« irgendwo hineinzuspülen. Bei Suhrkamp ganz oben bei den Neuerscheinungen Belletristik: »Die inspirierende Geschichte einer eigensinnigen, leidenschaftlichen, humorvollen Frau« und »Zwei Menschen, unterschiedlich verstrickt, unterschiedlich schuldig geworden«. Bei Hanser an der Spitze der Empfehlungsliste — ein Antirassismusleitfaden. Oder die Kiepenheuer & Witsch’sche Dankabstattung an die beste Kanzlerin, die die Grünen je hatten. Und niemals haben Linke Begriffe ihrer Weltanschauung geprägt und in Umlauf gebracht — keine »Willkommenskultur« aggressiv eingefordert, nicht den Begriff »Faschist« inflationiert, keine »Klimaleugner« erfunden, nicht »Covidioten« beschimpft, überhaupt Zurückhaltung geübt bei »Metaphern«, die »Haß und Hetze« ausdrücken könnten, etwa wenn Menschen als »Blinddarm« bezeichnet werden.

Nichtrechte mißbrauchen Literatur niemals für ihre Propaganda

Aber es sind nicht nur die Forschenden, die jetzt entdeckt haben, daß Rechte »sich für Literatur interessieren«, so eine bahnbrechende Erkenntnis von Jungle World, son­dern der gesamte linksdrehende mediale Komplex. Allerdings lesen Rechte anders als Linke, hinterfotziger, denn sie »instrumentalisieren die Literatur und degradieren sie zur Propaganda«, was im linken Milieu undenkbar ist — etwa daß ideologische Positionen in Kinderbücher wandern würden. »Hintergedanken« sind exklusiv bei klandestinen Rechten zu verorten, diese sind so dreist, Literatur zu nutzen, »um den kulturellen Diskurs zu verschieben« (taz). Die grüne Linke hat dagegen ganz vorder­gründig den Diskurs hegemonisiert, indem sie (unter anderem) die Literatur mit ihren Themen geflutet hat: Antirassismus, Withe Supremacy, Gender Mainstreaming, Feminismus, Homosexualität, Transsexuellenkult.

Das alles ist natürlich eine lächerliche rechte Verschwörungstheorie, denn ein linksdrehender Mainstream existiert in Wirklichkeit nicht, sondern nur »vermeintlich« oder »angeblich«. Bestätigt wird dieser Verdacht durch die typische Forschenden- und Journalisierendenphrase von einer »typisch neurechte[n] Beschreibung eines vermeintlich linksliberalen Mainstreams in Medien und Universitäten« (Jungle World).

Germanist, freue Dich, Du sitzt jetzt auch im Expertenkarussell!

Das Aufatmen im akademischen Literaturerklärungsbetrieb ist geradezu hörbar, nun endlich einen Hebel gefunden zu haben, mit dem man sich in die lukrative mediale Aufmerksamkeitsspirale der neuen Expertokratie einklinken kann. Allerdings muß man einen Preis dafür bezahlen: Seine wissenschaftliche und menschliche Neugier eintauschen gegen die eindimensionale Bestätigung des Expertenauftrags: rechts = böse. Man muß als politisch korrekter Rechtsleseforschender auch bereit sein, destruktiv zu lesen und zu werten, denunziatorisch an alles heranzugehen, was sich einem an Material darbietet.

Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß marktwirtschaftlich aufgesetzte Projekte wie die Verlage Antaios und Jungeuropa5 oder die Zeitschriften Sezession und Tumult6 willkommene Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Aufmerksamkeits­generierungsmöglichkeiten für all jene sind, die am Tropf des Steuerzahlers hängen.

Die Fallstudie über den Jungeuropa-Verlag ist deshalb interessant, weil hier die Beobachteten und Analysierten sich dafür entschieden haben, zurückzu­beobachten und den Beobachter ihrerseits zu analysieren: Jungeuropa-Verleger Philip Stein und Verlags-Autor Volker Zierke sprechen in ihrem Podcast von »einer Industrie, die sich der Ausschlach­tung des Phänomens ›Rechtsextremismus‹ verschrieben hat« und »sehen sich die Thesen der Geisteswissenschaftler an«, die diese über sie und ihr Milieu produziert haben. So ist ein Ringzirkel entstanden: Es wird geforscht, die Forschungsobjekte rezensieren die Forschenden, auf daß diese wiederum auf die Reaktion, die sie selbst erzeugt haben, reagieren können.

Es ist — auf Neu-Deutsch gesprochen — eine Win-Win-Situation für Gratismutige, ein DFG-Projekt zu beantragen, das gar nicht abgelehnt werden kann. Die Auftraggebenden vergeben Steuergeld dafür, weil sie sich sicher sein können, geliefert zu bekommen, was ihr Begehr ist. Wenn der Auftragnehmer, beim Projekt »Neurechte Literatur­politik« der Stuttgarter Germanist Torsten Hoffman, liefert wie bestellt, öffnen sich für ihn verschlossene Türen: Der Rilke-Forscher, dessen Publikationen bisher ein akademisches Leben in Fachzeitschriften fristeten, katapultiert sich ins Scheinwerfer­licht einer gesellschaftspolitischen Debatte — dem omnipräsenten Kampf »gegen rechts«. Und als Kombattant der guten Sache wird man von den Staatsmedien zum Interview gebeten, plötzlich steht die Qualitätspresse von (ehemals) bürgerlich (FAS) bis immer schon extrem links (taz) als Produktionsmittel (Brecht) zur Verfügung, wo man immer dasselbe sagen und immer denselben Text abdrucken lassen kann. Dritter Gewinner in diesem Spiel somit: die Medien, die bekommen, was sie ihren Lesern am liebsten vorsetzen.

Bleibt noch die Frage nach der nächsten Runde in diesem Spiel: Was wird die junge germanistische Disziplin der Rechtsleseforschung (wann gibt es eigentlich den ersten einschlägigen Lehrstuhl?) nun aus dem Sezessions-Kanon herauslesen (beziehungsweise in ihn hineinlesen, denn das entspricht eher dem Vorgehen dieser Forschenden)? Die Neue Rechte literaturhistorisch zu durchleuchten und zu diskreditieren, diese neue Sportart wird jedenfalls mit einem immensen Aufwand betrieben. Es lohnt sich für die Durchleuchter ja auch, immer neue Bewirtschaftungsflächen zu bestellen …

Anmerkungen

  1. In vorliegenden Text werden als Forschende bezeichnet alle politisch korrekt Akademisierenden, denen es nicht darum geht, etwas über den Gegenstand ihrer Forschung herauszufinden, sondern diesem Gegenstand etwas zu unterstellen, was für ihre Karriere von Nutzen ist. Ansonsten wären es Forscher. 

  2. Jens Krumeich und Sandra Schell vom Germanistischen Seminar der Universitär Heidelberg befassen sich mit: »Breiter Kanon von rechts? Gaiser, Grass und der geschichtsrevisionistische Umgang mit der Nachkriegsliteratur«. 

  3. Warum Jugend ohne Gott auf der politisch hyperkorrekten Spiegel-Liste erscheinen darf, ist rätselhaft, traktiert es doch das N-Wort in seiner vollständigen Fassung auf für wohlmeinende Leser unerhört penetrante Art und Weise. Wikipedia schreibt zu Jugend ohne Gott: »Der Ich-Erzähler arbeitet als Lehrer an einem städtischen Gymnasium. Bei der Korrektur einer Klassenarbeit stellt er allgemein abwertende Äußerungen eines Schülers über Schwarze, im Buch mit dem zeitgenössischen Wort ›Neger‹ bezeichnet, fest und stellt den Schüler zur Rede.« Man darf gespannt sein, wer die Forderung nach einer rassismussensiblen Überarbeitung aller kommenden Neuausgaben dieses Romans als erster erhebt. Noch spannender: Wie man das Problem reparieren will, weil jede Veränderung des unsagbaren Wortes den Plot des Romans zerstören würde. 

  4. Bei diesem Text ist bereits die Bebilderung ungeheuer perfide: Groß im Bild — eine Bücherver­brennung. Der oberflächliche Betrachter und Nicht- beziehungsweise Nur-Überschrift-Leser soll die Verknüpfung abspeichern: Kubitschek — Bücherverbrennung. Und denken: »Also das planen die Rechten!« Im Kleinstgedruckten der Bildunterschrift steht dann (halbwegs) korrekt: »Feindliche Übernahme: Auch Ray Bradburys dystopischer Roman ›Fahrenheit 451‹, hier eine Szene aus der Verfilmung von Truffaut, wird instrumentalisiert.« Ja, »instrumentalisiert« schon, wenn man unbedingt so will, aber für das Gegenteil, was die Bild-Montage dem Betrachter suggerieren will; nämlich dafür, vor totalitären Tendenzen zu warnen, Bücherverbrennungen zu ächten, das freie Lesen von was immer man lesen will zu propagieren: https://sezession.de/68433/fahrenheit-451-oder-das-hat-die-universitaet-wien-ihren-studenten-vorenthalten

  5. Kevin Kempke, Mitarbeiter am Stuttgarter DFG-Forschungsprojekt »Neurechte Literaturpolitik« beleuchtet »Neurechte Lesekrisen und die Literaturpolitik des Jungeuropa-Podcasts ›Von rechts gelesen‹«: https://link.springer.com/article/10.1007/s41245-024-00256-7

  6. Alexander Fischer, auch er ein Stuttgarter Rechtsleseforschender, untersucht »Die Zeitschrift Tumult und ihre Inszenierung des ›Selbstdenkens‹«: https://link.springer.com/article/10.1007/s41245-024-00262-9