Hoch ging es her in diesen Tagen. Eine Welle von Hausdurchsuchungen überrollte das Land, und immer fanden sie aus demselben Grund statt: Ein Politiker sah sich durch die Äußerung eines Bürgers beleidigt und nach Paragraph 188 des Strafgesetzbuches in seinem öffentlichen Wirken derart beeinträchtigt, daß daraufhin die Staatsanwaltschaft die Polizei ausrücken ließ, um bei dem vermeintlichen Beleidiger die Tatwaffen in Form von Smartphones, Tablets und Laptops sicherzustellen.
Die Welle der Hausdurchsuchungen wäre nicht möglich gewesen, wenn es keine Politiker gäbe, die sich beleidigt fühlen und einen Strafantrag stellen. Denn Beleidigungen sind Anzeigedelikte, das heißt: Sie werden nur dann von der Staatsanwaltschaft verfolgt, wenn der sich beleidigt Fühlende eine Anzeige erstattet hat. Inzwischen weiß man, daß die Empfindlichkeiten in puncto Beleidigtsein sehr ungleich verteilt sind. Während einige Politiker es nicht für nötig halten, das Strafrecht zu bemühen, wenn sie sich beleidigt fühlen, sind die deutschen Spitzenreiter im strafrechtlich relevanten Beleidigtsein die Noch-Außenministerin Annalena Baerbock und der Noch-Wirtschaftsminister Robert Habeck. Habeck hat 800 Strafanträge wegen Beleidigung laufen, Baerbock 500.
Nun kann man die Debatte der vergangenen Tage natürlich weiterführen und darüber reflektieren, ob hier einige Politiker nicht einfach zu empfindlich sind. Oder ob und warum der Staat amtlich überreagiert und den Rahmen des Grundgesetzes verlassen hat. Oder ob die beteiligten Staatsanwälte, Richter und Polizeibeamten nicht wegen des unverhältnismäßigen Vorgehens selber angezeigt werden müßten. Diese Debatte läuft und dürfte den erfreulichen Effekt haben, daß wir bis zur vorgezogenen Bundestagswahl Ende Februar deutlich weniger Hausdurchsuchungen sehen werden als bisher.
Man kann aber auch einen Schritt zurücktreten und auf die Ereignisse der letzten Zeit mit einem kulturgeschichtlich informierten Blick schauen. Dann wird man feststellen, daß ausgerechnet die Grünen, die wie keine andere Partei seit vierzig Jahren damit beschäftigt sind, nicht nur Deutschland als Land und die Deutschen als Volk zum Verschwinden zu bringen, sondern die im Land geltenden bürgerlichen Sitten unter Faschismusverdacht zu stellen, um sie als sogenannte »Sekundärtugenden« endlich loszuwerden — daß ausgerechnet das Führungspersonal dieser Partei nun plötzlich für Sitte und Anstand eintritt.
Mit anderen Worten: Die Grünen sind Opfer ihrer eigenen antibürgerlichen Politik. Sie stehen vor dem sittlichen Scherbenhaufen, den sie selbst verursacht haben. Die Scherben sind die Scherben der bürgerlichen Gesellschaft, in der Sitte und Anstand all das regelten, was sich im Alltag als konflikthaft herausstellte, ohne daß man sich zur Konfliktregelung an staatliche Institutionen wenden und Gesetzestexte studieren mußte. Man wußte, was sich gehört, und man handelte danach.
Wenn man nicht mehr weiß, was sich gehört, bleibt nur der Rekurs an die Gerichte, und dieser Rekurs führt nicht zu einer Entschärfung der Lage, sondern, wie wir gerade erfahren, zu einer Lageverschärfung. Denn auch die Gerichte wissen nicht mehr, was sich gehört, so daß ihre Gesetzesauslegung und -anwendung immer situativer und insgesamt immer machtförmiger wird. Recht bekommt jetzt zunehmend, wer die Macht hat oder auf ihrer Seite steht. Und damit geht die Allgemeinheit des Rechts, die für den bürgerlichen Staat konstitutiv war, vor die Hunde.
Will man diese destruktive Spirale nicht weiterdrehen, sollte man sich an die einfache Tatsache erinnern, daß zwischen dem Anstand, zu dem wir in unseren Familien erzogen wurden, und dem Staat mit seinen Gesetzen und Institutionen das weite Feld der Sittlichkeit liegt, in der sich unser Alltag ohne Recht und Gesetz von alleine regelt. Beleidigungen sind im Reich der Sittlichkeit kein Straftatbestand, sondern etwas, was »man nicht macht, weil es sich nicht gehört«. So wie Pünktlichkeit, Erhrlichkeit und Sauberkeit zu den Dingen gehören, »die man macht, weil sie sich gehören«. Wir brauchen keine Pünktlichkeitsparagraphen im Strafgesetzbuch, und wir brauchen auch keine Beleidigungsparagraphen. Was wir brauchen, ist eine sittliche Haltung, die sich zu einem schönen Spruch verfestigt hat, der dieser Tage auf X die Runde macht. Er lautet: »Die Leute, die über mir stehen, beleidigen mich nicht; die Leute, die mich beleidigen, stehen unter mir.«
Der vorstehende Text wurde zuerst am 27. November im Kontrafunk in der Sendung »Kontrafunk aktuell« als Tageskommentar gesendet.