σύνταξις | XIX | syntaxis

Geschrieben von Uwe Jochum am 31.1.2025

Die Moderne begreift sich selbst als eine dynamische Epoche. Ihre Plastikwörter sind »Innovation« oder »Disruption«. Sie suggerieren, daß das zukünftige Anderssein von was auch immer ein Bessersein sein wird.

Diese Suggestion zielt nicht nur auf die Gemeinschaft von Menschen, sondern auf jeden einzelnen. Wer immerzu nur der sein wollte, der er war, sieht sich jetzt dem Verdacht ausgesetzt, er sei ein Hinterzopfiger, mit dem man nicht zu rechnen brauche. Wer sich hingegen der herrschenden Dynamik unterwirft, wird sich beeilen, den Zopf, der ihm erst gestern wuchs, heute schon wieder abzuschneiden und im Tagesverlauf je nach Situation »einen anderen Hut aufzusetzen«, um zu signalisieren: Ich bin anders, jedenfalls nicht der, der ich vor einer Stunde noch war. Und von jetzt an in einer Stunde werde ich wiederum anders sein. Denn, so denkt sich das jetzt, dieses permanente Anderssein sei Erfüllung dessen, was im Menschen angelegt sei: daß er potentiell anders sein könne.

Das ist, aufs Ganze und wesentlich gesehen, schon richtig. Der Mensch kann potentiell in der Arktis leben oder auf einer Südseeinsel. Er kann potentiell Astronaut werden oder Müllmann. Er kann mehrere Sprachen sprechen oder keine. Aber das — und das ist die Pointe — kann er keineswegs nach eigenem Gusto und heute mal so, morgen so. Er kann es als Mensch, weil er als Gattungswesen wesentlich anders sein kann; aber als Individuum kann er es nicht oder nur in Ausnahmefällen, weil er als Individuum die konkrete Ausformung des Menschen als solchem ist. Und in dieser Ausformung steht er in einem Kultur- und Sprachkreis und auf einem Kontinent dieser Erde, wird von den Vorfahren geprägt und prägt seine Nachkommen — in dieser einmaligen Art und keiner anderen.

Die abendländische Philosophie und die Weisen dieser Welt haben das immer gewußt. Im Abendland hat man das, was sich prägend durchhält und etwas zu dem macht, was es ist, das Wesen genannt. Anderswo haben sie es anders genannt, etwa von einem Tao gesprochen als der Kraft, die allem, was ist, zugrundeliegt und es in seiner Einmaligkeit formt.

Aus diesem Wissen heraus hat Lao Tse in seinem Tao te king ganz am Ende eine kleine Reflexion notiert, die das Wesentliche festzuhalten versucht: daß es darauf ankomme, man selbst zu sein, indem man dort bleibt, wo man ist. Ohne daß das ein Gefängnis sein soll: Man kann sich vorstellen, wegzugehen, man kann auch die Mittel haben, wegzugehen — aber man sollte lernen, es nicht zu tun. Denn hinter den Bergen mag es anders sein, aber auch besser? Wohl kaum. Anders nur. Das schauen wir uns gerne an, aber aus der Ferne; und was uns gefällt, können wir dann bei Bedarf nachmachen — oder es bleiben lassen.

Lao Tse schrieb also (Tao te king, Nr.80):

Das Land sei klein, das Volk wenig,
lasse es Beamte für zehn und hundert
Menschen haben und nicht gebrauchen.
Lasse das Volk den Tod schwer nehmen
und nicht in die Ferne ziehen.
Obschon es Schiffe und Wagen habe,
nicht habe es Anlaß, sie zu besteigen.
Obschon es Panzer und Waffen habe,
nicht habe es Anlaß, sie anzulegen.
Lasse das Volk wieder Schnüre knoten
und sie gebrauchen.
Süß sei ihm seine Speise,
schön seine Kleidung,
friedlich seine Wohnung,
freudig seine Sitte.
Nachbarländer seien gegenseitig zu erblicken,
der Hähne und Hunde Stimme gegenseitig zu hören,
und das Volk erreiche Alter und Tod,
ohne einander zu besuchen.

»Schnüre knoten«: eine Form von Schrift, wie sie auch in Südamerika in Gebrauch war. Aber von was wird hier durch Knotungen von Schnüren geschrieben? Sicherlich nicht von der Ferne, dem Allerneuesten einer Illusionsindustrie. Hier wird vielmehr das Vergangene festgeknotet, damit die Jüngeren erfahren können, wie es war. Und daß es gut war und gut ist.

ξ

Am Ende einer Predigt sagt Meister Eckhart, die Leute würden ihn oft bitten, für sie zu beten und im Gebet einen Wunsch zu formulieren, der in Erfüllung gehen soll. Eckhart kommentiert das so: »Dann denke ich: ›Warum geht ihr aus? Warum bleibt ihr nicht in euch selbst und greift in euer eigenes Gut? Ihr tragt doch alle Wahrheit wesenhaft in euch.‹« (Predigt 5B)

Die »wesenhafte Wahrheit«, das ist nicht das Neue hinter den Bergen oder dem Ozean. Die »wesenhafte Wahrheit« ist überall dieselbe, oder sie ist nicht. Ist sie aber, dann muß ich nirgendwohin gehen, um sie zu finden. Sie ist schon da. Ich habe sie bisher nur übersehen. Um sie zu sehen, muß ich nicht fortgehen, sondern meine Augen öffnen. Aber wie macht man das?

Eckhart war sich sicher, daß der wahre Augenöffner das kontemplative Gebet ist. Es führt uns nicht von uns fort, sondern uns in uns hinein. Es verknotet uns mit der »wesenhaften Wahrheit«.

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In diesem Sinne hat Blaise Pascal einmal gesagt, »daß das ganze Unglück der Menschen aus einem einzigen Umstand herrühre, nämlich, daß sie nicht ruhig in ihrem Zimmer bleiben können.« (Pensées, 136/139, ed. Armogathe)