Religio VI

Das Vormetaphysische. Hans Peter Duerr (*1943)

Geschrieben von Jürgen Schmid am 31.3.2025

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Religio V

Der Mythos. Leo Frobenius (1873–1938)


Religio V

Der Mythos. Leo Frobenius (1873–1938)

»Sieht man von den letzten Jahrtausenden ab, so kann man sagen, daß die Menschen sich während ihrer gesamten Geschichte mit der Welt, in der sie lebten, identifizieren konnten, und zwar mit einer Welt, wie sie war und nicht wie sie sein sollte.« Solches liest man in Hans Peter Duerrs Sedna oder Die Liebe zum Leben.1

Die »letzten Jahrtausende« — damit ist die Menschheitsgeschichte seit der sogenannten Neolithischen Revolution gemeint, die den Menschen in die Seßhaftigkeit des Bauernstands führte. Die »gesamte Geschichte«, die Duerr von dieser für uns prägenden, einzig vorstellbaren Epoche absetzt — das ist in seinem Denken die unvorstellbar lange Zeit, in der Urmenschen in Kleingruppen durch ihre Umwelt zogen, als Wildbeuter und Sammler.2

Weckrufe gegen die Normalität von Geschichtsdeutung

Für jeden, der »normal« sozialisiert wurde und eine »normale« Schule durchlaufen hat, muß eine solche Feststellung extrem verstörend sein. Wir leben mit so vielen Setzungen, ohne uns überhaupt bewußt zu machen, daß es Setzungen sind, die wir für selbstverständlich halten. Wer macht sich klar, daß es gute Gründe gab und gibt, die Französische Revolution nicht positiv zu sehen, obgleich Peter Sloterdijk diese Sicht­weise zum Ausgangspunkt eines Buches genommen hat, das einen eben­falls verstörenden Titel trägt: Die schrecklichen Kinder der Neuzeit3? Wer wagt es heute noch, die Aufklärung als Leuchtfackel der Rationalität in ihrem Sieg über den Glauben und das Sakrale anzuzweifeln (»Wo keine Götter sind, walten Gespenster«), wie es Novalis in großem Furor tat? Wer zeichnet die Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit als Verlustskizze, weil er das Mittelalter für heller hält als alles, was danach kam? Wer betrauert mit Erhart Kästner die »Vertreibung vom Athos«, wer kann diese Formulierung auch nur verstehen? Wer außer Martin Heidegger darf die griechische Philosophie als Beginn aller »Seinsvergessenheit« einordnen, wo nach landläufiger Ansicht ein Emporstreben aus mythischem Urdunkel in die Lichtsphäre begrifflicher Denkklarheit zu beginnen hat.4 Wem diese Verstöße gegen den Komment korrekten Deklamierens von epochalen Wendemarken bereits Magengrimmen bereiten, wie sollte so jemand mit der Ansicht zu Rande kommen, die Neolitische Revolution würde kein zu feierndes Emporstreben der Menschheit begründen, sondern den unersetzlichen Verlust einer Welt bedeuten, wie es Mircea Eliade in einem erschütternden Klagegesang im Sinne Duerrs betrauert?

»Eine ehrwürdige Welt, jene der nomadisierenden Jäger mit ihrer Religion, ihrer Mythologie und ihren moralischen Begriffen war zu Ende gegangen. Es bedurfte Jahrtausende, um die Wehklage der Vertreter der ›alten Welt‹, die vom Ackerbau zum Tode verurteilt war, endgültig zum Schweigen zu bringen. Man darf auch annehmen, daß es Jahrhunderte gebraucht hat, um die Folgen der schweren geistigen Krise vollkommen zu integrieren, die durch den Entschluß des Menschen hervorgerufen wurde, seßhaft zu werden und sich an die Scholle zu binden. Wir können uns unmöglich die ›Umwertung aller Werte‹ vorstellen, die durch den Übergang vom Noma­dentum zum seßhaften Dasein erfolgte, und vor allem können wir uns kaum ihre psychologischen und geistigen Rückwirkungen ausmalen.«5

Die andere Sicht: Das Nomadische als das Normale, Ehrwürdige, in die Natur Eingepaßte; wie es auch Duerr in Sedna schildert und wie es Bruce Chatwin in seiner Fragment gebliebenen Meistererzählung vom Nomadentum als der dem Menschen gemäßen Lebensform verherrlicht: »Solange die Kinder auf dem Rücken ihrer Mütter [ab Minute 9:00] getragen werden und in Bewegung sind, schreien sie nicht«.6 Die Arbeit seßhafter Bauern dagegen: Müh und Leid, von dem man sich durch Transzendenzreligionen wegtragen lassen muß. Nicht das Leben im Hier und Jetzt als das Eigentliche, sondern der »Kandiszuckerberg« des Jen­seits, den der priesterliche Rabe Moses als Ohrenbläser den schuftenden Tieren auf Orwells Animal Farm als Paradies vor Augen stellt, um sie ruhig zu halten.

Auch die Erkenntnis, daß ein Epochenbruch, das Überschreiten einer Kul­turschwelle, nicht einfach, schnell und schadenfrei vollzogen werden kann; daß die Abkehr vom Bauerntum in kürzester Zeitspanne von ein bis zwei Generationen den Menschen ratlos, entwurzelt und sinnentleert zurücklas­sen muß. Eine Zeitenwende kann nicht hurtig dekretiert werden, sie ist ein harter Einschnitt mit unabsehbaren Folgen.

Die Liebe zum Leben — Fragen

Von der Epoche des Bauern und ihrem Ende haben wir also gehört. Nun stehen wir in der menschheitsgeschichtlich wesentlich längeren Epoche des um­herstreifenden Menschen — und sehen uns hineingestellt in einen ganzen Fragenkatalog, den Duerrs Sedna 1984 aufwirft:

Was, wenn Menschen die Welt annehmen und lieben, so wie sie ist? Wenn sie sich und ihr Leben einpassen in Abläufe, die ablaufen — ohne diese Abläufe antasten zu wollen? Wenn Menschen ihr Einwirken auf die Natur darauf beschränken, ihr bei Erneuerung und Regeneration beizu­stehen? Wenn sie numinose Mächte, die in der Natur wirken, nur um das bitten, von dem sie wissen, daß die Natur bereit war, es ihnen zu geben, bevor sie sich zurück­zog, um sich zu sammeln und das Gute neu zu gebären?

Diese Fragen stellt der Völkerkundler Hans Peter Duerr — nicht zu ver­wechseln mit dem Physiker (fast) gleichen Namens Hans-Peter Dürr (1929–2014) —, eine eigenwillig schillernde Persönlichkeit, wie sie in der deutschen Wissenschaftslandschaft nahezu einzig dasteht. Bevor er zu porträtieren ist, steht die Überlegung im Raum, ob Duerr nicht Menschen und ihre Stellung in der Welt zeichnet nach den Wunschträumen, die er selbst hegt? Wir müssen das Unwahrscheinliche in Erwägung ziehen: daß wir einem begegnen, der, was er vorfindet, annimmt, so wie es ist.

Vor Beginn der Lektüre

Duerrs Werk zu verstehen, hieße zu verstehen, was der Mensch ist. Das will ich mir nicht anmaßen. Wer aber lange genug eingetaucht ist in die Wunderwelt Duerr’scher Erkundungsflüge durch Jahrtausende Mensch­heits­geschichte, der spürt sehr deutlich, daß da einer unterwegs ist mit dem unbedingten Willen zu erfahren, was den Menschen im Innersten zusammenhält und was ihn mit der Welt verbindet, in der er lebt. Die erste Konfrontation mit einem Duerr-Werk ist wie ein Schock für jeden, der aufgewachsen ist im Dunstkreis bundesrepublikanischer Universitäts­gelehrsamkeit. Wenngleich der Autor meisterhaft mit den Beständen dieser Gelehrsamkeit zu jonglieren befähigt ist, hält er sich mit ihrer Dürre nicht auf, die seinen Worten zufolge viele Fachkollegen in ihren Schriften produzieren, wenn sie »blühende Wiesen betreten« und verdorrtes Land zurücklassen. In Duerr begegnen wir einem der letzten Romantiker7, einem Ergriffenen in Frobenius’ Nachfolge, der unerschrocken durch die Kultur-, Geistes- und Religionsgeschichte der Menschheit über alle Konti­nente wandert, in Zeiten von Spezialistentum und Kulturrelativismus eine Todsünde.

Was einem Autor gar nicht hoch genug anzurechnen ist: Duerr ist nie überheblich oder gar polemisch gegenüber den Erforschten, immer nur (das aber zum Teil heftig) gegen seine Fachgenossen. Am grantigsten reagiert der Ethnologe, wenn ein Forscher sich über die Menschen erhebt.8 Ein anständiger Mensch greift die Mächtigen an, nicht die Ohnmächtigen.

Es dürfte klar geworden sein, daß ich den Mann, der im selben Jahr geboren wurde wie meine Mutter, nicht mit einer »einordnenden«, also diffamierenden Auseinandersetzung zu traktieren beabsichtige. Wer dies erwartet hat, mag an dieser Stelle getrost die Lektüre abbrechen.

Ich sehe »Religio« als archäologische Freilegungsarbeit; ich möchte den Schutt, der sich über Primärstudien wie Frobenius Paideuma angehäuft hat, also die akademische Gelehrsamkeit darüber, forträumen, um diese Denker pur präsentieren zu können, das, was sie gedacht haben — und nicht in dem Gespinst stecken bleiben, was spätere Interpreten gedacht haben, was jene, die sie sezieren, warum nicht gedacht haben sollten.

Es ist reichlich uninteressant, ob einer wie Frobenius seine Quellen »richtig« gedeutet hat im Sinne dessen, was ein je machthabender Diskurshoheitsblock in wechselnden Ideologiezugriffen als hegemonial dekretiert. Zeitlos gültig erscheinen mir Weltdeuter wie Duerr als Groß­erzähler, die eine Meistererzählung vorlegen.9 Mich interessiert die Intuition (ein Frobenius-Wort!), mittels derer es großen Geistern gelingt, eine ureigene Anthropologie zu schaffen. Und mich begeistert die Begeisterungsfähigkeit dieser Weltdeuter.

»Duerr will wissen, was ist«,10 so formuliert sein Wiener Irrationalistenfreund Adolf Holl in seiner Sedna-Rezension für den Spiegel: »Indem er über das schreibt, was ist, schreibt er über das, was sein sollte. Zu allen Zeiten sei es den Menschen möglich (gewesen), glücklich und frei zu sein …«

Einzelgänger, Außenseiter, Inspirationsquelle

Um gleich vorwegzunehmen, was für einer Duerr ist — ein Bonmot: Was falsch verstandene Rationalität anrichte, könne man an seinem Lehrer sehen, Wilhelm Emil Mühlmann, der die Lotophagen nicht wahrnehmen würde, selbst wenn sie ihm leibhaftig gegenüberstünden.11 Und was von seinen marxistischen Kommilitonen zu halten ist, weiß er als Student sehr genau: Diese würden einem wie ihm dereinst drei Finger vor die Nase halten und ihn zwingen zu behaupten, er sähe vier: »Ich dachte, daß aus dieser menschenverachtenden Art einer kommenden Funktionärskaste, die alles unterdrückt und ausmerzt, überhaupt nichts werden könne.«12 Er selbst ist kein Dogmatiker, hat kein Problem, mit Schulfreunden, die der NPD zuneigen, weiter befreundet zu bleiben (und sie mit ihm). Daß er schließlich seinen Bremer Lehrstuhl verliert, weil er den institutionalisierten Feminismus nicht akzeptiert,13 vorzeitig pensioniert, mit geminderten Bezügen, spricht Bände: Frühes Opfer von Political Correctness und Cancel Culture, Morddrohungen inklusive, und zugleich einer der zeitigsten und beherztesten Kritiker dieser Ideologie, die wir heute als Wokeness kennen — für Duerr 1994 (im Spiegel-Interview!) erkennbar als »Lügengespinst«.

Wie wird man zu dem, was hier anekdotenhaft als Charakterbild skizziert wurde? Mannheimer, Arbeiterkind, schlechter Schüler, aber grundneugierig, Kriegsdienstverweigerer, akademischer Aufsteiger in jener Zeit, als die Sozialdemokratie Aufstiegsversprechen nicht nur geben, sondern auch einlösen kann. Studium in Heidelberg beim erwähnten, nicht sonderlich geliebten Wilhelm Mühlmann, einem soziologisch denkenden Ethnologen, gern gesehener Referent in Armin Mohlers Münchner Siemens-Stiftung. Der Student soll über sizilianische Küstenfischerei promovieren, was dieser mit Verweis auf seine Lektürevorlieben — Nietzsche und Wittgenstein — brüsk ablehnt. Ein Stürmer und Dränger, der im vorgerückten Lebensalter seine jugendliche Arroganz offen einzugestehen und zu bereuen fähig ist. Beim Titel seiner Dissertation – Über die logischen und metaphysischen Grundlagen des Zugangs zu eigenem und fremdem Bewußtsein, insbe­sondere dem der Naturvölker — sagt er im (diesem Kurzporträt zugrunde liegenden) Interview von 2009, als Bestsellerautor von 66 Jahren, würde er »heute einen Krampf kriegen«.

Duerr ist als ein »Muster eines Gelehrten« zu entdecken, der elektrisiert, polarisiert und inspiriert wie kaum ein Zweiter, keiner jedenfalls aus dem Getriebe der Massenverbildungs- und Zeitzerschredderungsanstalt Uni­versität unserer Zeit, die »jegliches Interesse an Mythos und Symbolik verloren hat« (Thomas Bargazky).14

Die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation

»Auch von einem Strukturalisten wird man erwarten können, daß er den Alfa Romeo stehen läßt und zu Fuß weitergeht, wo der Urwald beginnt.«15

Die Traumzeit, kongeniale Auslotung der »Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation«16, die Suche nach der von ihrem angestammten Platz ver­triebenen Hagussa, der Hexe auf dem Zaun, der diese Sphären scheidet, stellt gleich den ganzen Duerr vor uns hin, allerdings nicht gerade in der Nußschale, sondern im opulenten Gewand von 204 Seiten Fließtext, 333 Seiten Fußnoten, 92 Seiten kleinstgedrucktem Literaturverzeichnis. Doch was heißt »Fußnote« bei einem wie Duerr — es sind zum Teil seitenlange und mitunter sogar bebilderte (!) Feuerwerke an Gelehrsamkeit, die nicht wissenschaftsbeamtisch daherkommen, sondern gespickt mit prickelnder Ironie, meinungsstarken Urteilen, überraschenden Volten. Wie oft ertappt man sich als Leser dabei, sich kreuz und quer durch Fußnoten zu lesen …17

Der Amerikanist und Religionsphilosoph Werner Müller frohlockte in der Zeitschrift Anthropos, endlich sei wieder einer angetreten, Ethnologie zu betreiben. Was ist so aufsehen­erregend an Traumzeit? Dieses Buch will, in des Autors eigenen Worten, zeigen, »daß die ›archaischen Menschen‹ rationaler waren als wir, weil sie ein vernünftiges Verhältnis zu dem hatten, was jenseits der Vernunft liegt«.18 Für den Bayreuther Ethnologen Thomas Bargatzky ist die Studie damit eine »methodisch gründliche ethnologisch-philosophische Untersuchung vormoderner Welterklärung«.

Traumzeit beginnt damit, daß eine steirische Frau namens Ursula Kollarin 1661 im inquisitorschen Verhör berichtet, wie eine Frau sie und andere »mit einer schwarzen Salbe unter den Jaxen angeschmiert, auf welches allen der Leib fedrig geworden und alsbald am Rohitschberg gleichsam wie Storchen geflogen«.19

Es wird aufgerollt, wie sehr die Inquisition darauf bedacht war, solche ekstatischen Flüge mit der »Nachtschar« auf die Versuchung durch den Teufel hin zu trimmen, mit Suggestivfragen den Verhörten Antworten in den Mund zu legen, die mittelalterliche Grundierung solcher Visionen zu negieren, in einer christlich begründeten Moral- und Dogmenvorstellung eine »Verteufelung der Sinne« zu institutionalisieren, den Visionen ihren »Wirklichkeitscharakter« zu rauben und sie als »Scheinerfahrungen«, als »Halluzinationen« einzuordnen.20

Die mittelalterliche Hexe ist die hagazussa, die auf der Hecke, auf dem Zaun sitzt, auf der Flurgrenze, wo Zivilisation und Wildnis geschieden sind — »ein Wesen, das an beiden Bereichen teilhatte«.21 Von diesem im Eigenen, im europäischen Bewußtsein, einst fest verhafteten, inzwischen komplett verschütteten, nur noch aus archivalischen Quellen zu rekonstru­ierendem Wissen aus reist der Ethnologe Duerr in eine Welt, in der man solche Muster noch beobachten kann. Bei den Bakweri in Kamerun ist die Welt des »Draußen«, die Wildnis des Urwaldes, eine Welt der Frauen: »Die Männer züchten innerhalb des Zaunes […] Ziegen, Kühe und Schweine, während die Frauen außerhalb des Zaunes aus dem Regenwald das Brenn­holz holen«. Wenn nun eine von ihnen von einer Seejungfrau, die diese Welt bewohnt, ergriffen wird, entfremdet sie sich der Kultur, trägt ihr Haar »lang und wirr«, spricht eine unverständliche Sprache und ist »völlig wild« geworden. Dieses Erlebnis hat weitreichende Bedeutung: »Jetzt erst, nachdem sie ›draußen‹ gewesen ist, ist sie bereit zum ›Drinnen‹, zur Heirat mit einem Mann«, sie ist nun »kulturfähig« gerade durch das Erlebnis der Wildheit: »Ihre ›rituell entschärfte‹ Wildheit nützt fortan die Gemeinschaft vor dem bedrohlichen Einbruch der Seejungfrau in den Bereich innerhalb des Zaunes.«22

Zurück in Europa, muß für die Wende zur Neuzeit festgestellt werden, daß man diese Grenzgängerinnen »aus der Kultur hinausgeworfen« hat, sie im Sinne eines inquisitorischen Exorzismus dämonisiert und damit gezwungen, »in der Nacht in verzerrter Form wiederzukehren«. Es ist eine Abkehr von jenem vernünftigen Umgang mit dem, was jenseits der Ver­nunft liegt, dem Duerr die gesamte Traumzeit gewidmet hat.

»Es gibt kein Wissen über die ›Insel des tonal‹ ohne die Erfahrung ihrer Erschütterung, ohne das nagual.«23

Das Tonal, das ist jener Ausschnitt des Bewußtseins, der uns zugänglich ist. Nagual dagegen — »eine Stimme, die aus den Tiefen kommt«,24 die »Tiernatur«, wie sie etwa initiierten Schamanen widerfährt, »die Erfahrung jenes ›wilden‹ Teiles unserer Person«, wozu der »moderne« Mensch keiner­lei Zugang hat.25 Es ist, so zitiert Hans Peter Duerr den Ethnologen Carlos Castaneda, der den Yaqui-Indianer Don Juan befragt haben will, »der Teil von uns, für den es keine Beschreibung gibt — keine Worte, keine Namen, keine Gefühle, kein Wissen«.26 Ob nun Die Lehren des Don Juan authen­tisch sind oder nicht,27 ihr Kern jedenfalls ist so umfangreich belegt, daß Duerr resümieren kann, die »Wilden« seien zurecht so genannt worden, weil sie »noch ein Bewußtsein ihrer Wildnis hatten«,28 während die Zivili­sierten sich auf ihrer Insel einrichten, indem sie diese fürs Ganze halten, ängstlich darauf bedacht, die Schotten geschlossen zu haben.29

Wirklichkeit, das ist für Rationalisten stets nur das, was innerhalb des Zaunes liegt, der im Sicherheitsdenken der Moderne immer mehr zu einer Mauer ausgebaut und ständig weiter in die Wildnis vorgeschoben wurde.30 Wenn nun der Rationalist auch noch Ethnologe ist und »draußen«, wo er das betreibt, was er »Feldforschung« nennt, auf etwas stößt, was sich seinem verstehenden Zugriff entzieht, kann er das Fremde nicht in seinem Eigenwert belassen, wenn es außerhalb dessen siedelt, was innerhalb seines Zauns denkmöglich ist; er muß es »verstehen«, aber nicht in dem Sinne, wie es verstanden werden will, sondern wie er es als Rationalist zu verstehen hat — und dazu muß er das Irrationale, das für ihn nahe am Wahnsinn wandelt, »in die vertrauten Kategorien übersetz[en]«, »ein­ordnen« und damit »neutralisieren«, ein Vorgang, den Duerr in der ihm eigenen Bildhaftigkeit und Bissigkeit so beschreibt: »Man reißt ›draußen‹ irgendwelche Dinge an sich, setzt mit ihnen in die eigene Kultur über und baut sie, die Fugen verspachtelnd, in deren Zusammenhang ein.«31

Und das ist der Grundfehler: Denn wir können, davon ist Duerr überzeugt, nur das sein, was wir sind, wenn wir wissen, was wir nicht sind, wenn wir unsere Grenzen einmal überschritten und damit erfahren haben, wo diese überhaupt zu verorten sind.32

Was ist der Wissenschaftler im Zeitalter der Rationalität? »Er hat weder Ehrfurcht vor den Dingen, noch liebt er sie. Er wirft ein Netz über sie, er teilt sie und teilt sie ein. Die Dinge werden rubriziert, kontrolliert und von all dem gesäubert, was über die Maschen wuchern will. Die Dinge weinen, aber der Forscher sieht keine Tränen. Er rodet den Urwald und legt einen vom Unkraut gereinigten Garten an, in dem nur noch Gemüse wächst, das sich verwerten läßt.«33

»Wenn die Ethnologen kommen, so lautet ein haitianisches Sprichwort, verlassen die Geister die Insel.«34

Die Liebe zum Leben — Versuch von Antworten

Sedna, für Labrador-Eskimos Herrin der Tiere, »die vorher war«, gab jenem Buch den Titel, das sich den Regenerierungsritualen der Sammler und Wildbeuter widmet. Vielfach haben Ethnologen die »ungetrübte Le­bensfreude« dieser aneignend umherziehenden Kleingruppen beschrieben, seien es Bambuti-Pygmäen im kongolesischen Ituri-Urwald35, umher­streifende besitzlose Dschungelbewohner in Hinterindien36, Aborigine-Stämme im australischen Outback, Amazonas-Indianer mit ihrer — so Claude Levi-Strauss in den Traurigen Tropen — anspruchslos »vergnügten« Haltung im Umgang der Mütter mit ihren Kindern von »Frische und Fröhlichkeit«,37 oder die letzten Feuerland-Indianer38. Diesen »ursprünglichen Überflußgesellschaften« bescheinigte man eine höhere »Lebensqualität« als sie dem viehzüchtend und ackerbauend Seßhaften beschieden ist. Schon frühe Pflanzer hätten ihr Leben »in mühsamer Arbeit im Schatten drohender Mißernten« gefristet, umso mehr ging die Lebensfreude dem Proletariat der industrialisierten Welt verloren.39 Die Nambikwara sorgen sich auch um ihren Lebensunterhalt, doch »immer zum Lachen bereit«, die Arbeit unterbrochen von Schlafpausen, die Abende verbringend »im Gespräch oder mit Tanzen und Singen«.40 Traurig sind für Lévi-Strauss die Tropen nicht, weil die Menschen, die er dort im Urzustand noch angetroffen hat, einen traurigen Eindruck gemacht hätten, im Gegenteil; sondern deshalb, weil diese Welt von der Zivilisation zerstört und den dort Lebenden ein Leben aufgedrängt wurde, das nicht das ihre ist.

Auf Duerrs Sedna verwies Peter Sloterdijk auf einer seiner abertausenden Seiten, die nicht gerade strotzen vor Literaturbelegen;41 er nannte es eine Studie über »vormetaphysisches Denken«. Was meint der Philosoph, wenn er die religiöse Welt archaischer Menschen so klassifiziert — Mentalitäten vor der Herausbildung eines philoso­phischen Begriffsdenkens?

Wenn man Metaphysik mit Immanuel Kant faßt: »eine ganz isolierte spekulative Vernunfterkenntnis, die sich gänzlich über Erfahrungsbeleh­rung erhebt, und zwar durch bloße Begriffe«, ein Gebiet, »wo Vernunft ihr eigener Schüler sein soll«,42 muß man Duerr insofern ein Aufspüren von Vormetaphysischem attestieren, als er Phänomene jenseits der Vernunft­erkenntnis Ernst nimmt und ihnen — vermeintlich gegen jede »Vernunft« — ihr Eigenrecht beläßt, etwa schamanistischen Praktiken und Erfahrungen, die mit »unserer« Vernunfterkenntnis nicht nur nicht zu begreifen sind, sondern gar nicht so stattfinden dürften, wie sie aber — so Duerr (u.a.) — zweifelsfrei stattfinden. Besonders deutlich wird diese Sichtweise in den Bänden Der Wissenschaftler und das Irrationale, wo es eigentlich heißen müßte: das sogenannte Irrationale. »Wie verhalten sich Wissenschaftler, wenn sie mit Erfahrungen konfrontiert werden, bei deren Beschreibung oder Erklärung ihre wissenschaftlichen Mittel versagen?«43

»Menschen sah ich in den Wäldern des Ituri, und Menschen wollte ich auch zeichnen, nicht ungeheuerliche Tiermenschen, die sozusagen am Rande der Menschheit, an der Grenze zwischen Mensch und Tier sich bewegen.«

Paul Schebesta44

Diese Frage gilt besonders für den Umgang mit schamanistischen Reisen in verborgene Welten: »Ich werde sie aufsuchen / Die unbekannte Frau / Ich werde die verbor­genen Dinge ergründen / Jenseits der Menschen« — die »Liebe zum Leben« setzt ein mit diesem Gesang eines Eskimoschamanen.45

Es sind Gänge in den »Bauch der Erde«,46 die vorzunehmen sind, wenn »zwischen den Zeiten« die Jagdtiere ausbleiben. Bei den Cheyenne sagt der Mythos, daß ein Schamane mit seiner Begleiterin in eine Höhle des Heiligen Berges gelangte, wo ihnen der Große Geist Anweisungen gab und die Frau beschlief — und beim Auszug aus der Höhle plötzlich die Büffel­herden wieder, wie aus dem Berg ausgetreten, auf der Prärie grasten. Das, was »in illo tempore« (Mircea Eliade) geschah, was die Götter in der Schöpfung taten, vollzieht sich von nun an in jedem Jahr aufs Neue in der »Hütte des Neuen Lebens«, im Sonnentanz, bei dem der Schamane als Wiedererwecker in Büffelgestalt einen heiligen Beischlaf vollzieht, um die Tiere aus ihrer Erholungsphase zurückzuberufen.47

In Labrador muß Sedna, »jene, die vorher ist«, aufgesucht werden. In einer »Unterweltsreise« taucht der Schamane ins unterseeische Reich der Tiermutter, um sie zur Freigabe der Jagdtiere zu animieren. Es ist stets das Eindringen des Schamanen in eine weiblich gedachte Höhle, wo die Herrin der Tiere deren Seelen verwahrt.48

Duerr erlaubt sich den Rückschluß von diesen Regenerationsmythen auf den Sinn und Zweck paläolithischer Höhlen und ihrer Tiermalereien, die er weniger als erschaffen deutet, denn als aus dem Felsen gelöst, »berührt« und »aufgefrischt«, wie es bei australischen Aborigine-Stämmen heißt.49

»Wir können uns vorstellen, wie es gewesen sein mag, als die ersten Menschen des Aurignacien [vor 40.000 Jahren] die noch jungfräulichen Höhlen betreten haben, wie im Flackern der [mit Fett gefüllten Steinlämp­chen mit Dochten aus Wacholderzweigen] plötzlich Gestalten aus dem Fels traten, um augenblicklich wieder zu verschwinden, als habe die Felswand sie geboren, und wie diese Menschen die Umrisse des Tieres, das eben noch zu sehen war, mit den Fingern nachfuhren, ein weiteres Tier, viel­leicht eine ›Tierseele‹ herausholten, gewissermaßen Geburtshilfe leisteten im Schoß der Erde.«50

In derartig beseelten Höhlen vollzogen sich Rituale der Initiation, wovon ein nordamerikanischer Paviotso-Schamane berichtet: »Ich konnte alle Tiere hören. Bären waren da, Berglöwen, Hirsche und andere Tiere. Sie waren alle in der Höhle im Berg.«51 Kein Zweifel: Die Tiere haben gelebt!

Die Eiszeitjäger, davon ist einer wie Duerr überzeugt, hätten jene Höhlen, die sie regelmäßig aufsuchten, als »weiblichen Leib«, den Höhleneingang als Vagina und bestimmte Felskammern »als eine Gebärmutter aufgefaßt«. Dafür sprechen im Eingangsbereich eingravierte oder aufgemalte Vulven, auch der Umstand, daß ganze Höhlenbereiche mit rotem Ocker bestreut wurden, der als Symbol des Lebenssaftes, als Blut zu verstehen ist.52

Der Höhleneingang als Vagina, die Höhle selbst als Uterus, die Vorstel­lung, »daß männliche Schamanen die weibliche Höhle betraten, um hier durch, sagen wir vorsichtig: kopulationsartige Handlungen die Wiederge­burt der Jagdtiere einzuleiten«53 — wir befinden uns in einer »sexualisierten Welt«, wie Mircea Eliade konstatiert: »Die auf den Kosmos projezierte Idee des Lebens ›sexualisiert‹ diesen.«54

Eine andere Denkmöglichkeit, ebenfalls mit sexualisierter Konnotation: Den Ananga Zentralaustraliens gilt der Ayers Rock, in ihrer Sprache Uluru, als heiliger Berg, eine Höhle in diesem Felsmassiv als Gebärmutter der Traumzeitfrau Bulari. »Heute noch«, so Duerr 1984, »wird dieser Felsenute­rus durch die Felsenvulva von schwangeren Frauen betreten, die hierher kommen, um zu gebären, d.h. das zu tun, was die Bulari prototypisch in illo tempore [sprich: am Anbeginn der Schöpfung] tut.«55 Könnten auch Eiszeitfrauen in Höhlen ihre Kinder zur Welt gebracht haben, »vielleicht, um durch den Akt der Geburt die Geburt der Tiere aus dem Schoß der Erde anzuregen«,56 genauso wie die Labrador-Eskimos glaubten, durch den rituellen Beischlaf während einer Erneuerungszeremonie Sedna als die »immer Brünftige« zu ermuntern?57 Fußspuren von Eiszeitmenschen tief in Höhlen, auch von Kindern, lassen Fragen aufkommen: »Fanden hier Initiationen statt, in denen den Kindern gezeigt wurde, ›wo die Kinder wirklich herkommen‹?«58

Mit Blick auf die »Rituale« unserer Gegenwart (Klimareligion!) lesen sich Duerrs Ansichten davon, wie der archaische Mensch seine Stellung im Gefüge der Natur sah, wie ein (Erkenntnis)Schock: »Keinem Regenmacher würde es einfallen, in der Trockenzeit um Regen zu bitten.«59 Der Urmensch will nicht »magisch zwingen«, sondern der Natur helfen bei der Regenera­tion, bei der Rückkehr in den »Normalzustand«. »Man kann sagen, daß die Natur selber das Ritual vollzog, an dem sich die Menschen beteiligten«.60

Die Navaho, ein Indianervolk im Südwesten der USA, so rekonstruiert Duerr, führten ihre Rituale nicht durch, »um etwas zu beeinflussen oder herzustellen, sondern eher, um sich wieder in etwas einzugliedern, was sie verlassen haben, aus dem sie ausgetreten sind; und deshalb vollziehen sie keine Zeremonien, in denen das Falsche oder Schlechte bekämpft wird, sondern solche, in denen richtig gehandelt wird, oder anders ausgedrückt: in denen man zur paradigmatischen Handlung zurückkehrt.«61

»›Der Wald ist das Gute‹, singen die Bambuti [Pygmäen im Ituri-Wald des Kongo]. So, wie er normalerweise ist, ist es gut.« Wenn der Wald Erholung braucht oder krank ist, quengeln die Bambuti ihn nicht an wie kleine Kinder, die ihn zu etwas nötigen wollen, was er gerade nicht geben kann; sondern sie singen und tanzen für ihn, um ihm »über seine momentane Schwäche hinweg[zu]helfen, indem sie sein Herz erfreuen.« Sie wollen den Wald, der sie ernährt, »glücklich machen«.62

Zurück zur Wissenschaft vom Menschen

»Auch habe ich kein Interesse an der Bildung einer neuen Theorieschule. So etwas liegt mir nicht, schon beim Gedanken daran wird mir schlecht.«63

Warum studiert man in der Wirtschaftswunderbundesrepublik Ethnologie, die damals noch vielfach Völkerkunde heißt? »Face-to-face-Communities in fremden Ländern« — für einen jungen Anarchisten, der an der Zivilisation zweifelt, ein Sehnsuchtsort. »Größere Menschlichkeit« durch »gegenseitige Verpflichtung«, das ist es, was Duerr an den Urvölkern anzieht, während ihn die Kälte im eigenen Land abstößt: »Ganz im Sinne von Tönnies kam mir die moderne Gesellschaft immer desintegrierend vor. Dazu fällt mir auch de Tocqueville ein, der in den 1830ern nach Amerika reiste und meinte, daß dort schon der Keim des künftigen Individualismus sichtbar sei: Irgendwann wird es nur noch voneinander isolierte Individuen geben, die keinerlei gegenseitige Verpflichtungen mehr haben, und die Bindungen lösen sich auf. So sah ich auch immer die moderne Gesellschaft, im Gegen­satz zur traditionellen Gemeinschaft.« Und letztere fand man, wollte man nicht die Restbestände der im Strukturwandel der 1960er Jahre zerstörten Bauerngemeinschaften aufsuchen, eben nur noch in der Ferne. Und in Büchern über die Mythen dieser Völker.

Hans Peter Duerr nimmt die Menschen so, wie sie sind, will sie nicht be­lehren und nach seinem Bilde formen. Im Vorwort zu Traumzeit bekennt er, »großes Interesse an der Lebensform fremder Völker« zu haben, obwohl er Ethnologie studierte.64 Er schreibt in einer verständlichen Sprache, nicht in derjenigen des Raumschiffs Academia seiner Tage, der in den Worten des Sprachkritikers Uwe Pörksen alles Menschliche fehlt.65 In Traumzeit und Sedna »rasselt« einer eben nicht »mit Begriffen, daß einem das Hören und besonders das Sehen vergeht«, da hört man die »Stimme« von Menschen, alles läßt »auf den menschlichen Gegenstand der Rede schlie­ßen«.66 Während Geisteswissenschaftler der Postmoderne »oft nur noch zu sich selbst sprechen« und sich in einen »Wissenschaftsautismus« verstricken,67 bei dem sich »die Wissenschaft« die Welt, die sie beschreibt und erklärt, selbst errichtet,68 ist Duerr Deuter jener Welt, die er vorfindet.

»Im Frankreich des 18. Jahrhunderts hätte man Duerr zu den ›Moralisten‹ gezählt, den Beobachtern menschlicher Sitten, und ihn vielleicht mit […] dem alten Montaigne verglichen. Die Moralisten hatten eine hohe Meinung von den Menschen, sie hielten ihre Natur für von Hause aus gut.«

Adolf Holl

Absurd die akademischen Irrungen und Wirrungen dieses »Zaunreiter[s]’ unter den Wissenschaftlern«.69 Die erwähnte Dissertation: Von sämtlichen Ethnologen abgelehnt, weil zu theoretisch und ohne Empirie; von einem Philosophen akzeptiert. Die Habilitation Traumzeit: anrüchig wegen Drogenexperi­menten, die beschrieben werden, wieder abgelehnt, erneut zur Philosophie emigriert, bei Suhrkamp (!) mit in rascher Folge 150.000 (!) verkauften Exemplaren zum Bestseller aufgestiegen; als Kultbuch für Flower-Power-Bewegte erfolgreich, hinderlich jedoch bei einer Bewerbung in Zürich, denn — so wird kolportiert — da marschiere einer in Lederjacke an, der Drogenkonsum verherrliche und Studentinnen angraben wolle. Es bleibt die Flucht an eine Kunsthochschule (Kassel), dann ein groteskes Bewerbungsverfahren an der Universität Bremen: Duerr erringt Platz 1 der Liste, wird aber abgelehnt, weil eine Frau gefragt ist, die berufen wird. Bis der Sozialdemokrat Henning Scherf, seinerzeit Wissenschaftssenator und später Bürgermeister der Hansestadt, auf den Plan tritt, weil er Traumzeit — Geschenk einer Tante — gelesen hatte – und eine salomonische Lösung ausheckt: die gewünschte Frau erhält den Lehrstuhl, für den Duerr aus­erwählt wurde, und dieser darf sich einen eigenen Lehrstuhl bauen. Er tut dies mit dem Namen: »Ethnologie und Kulturgeschichte«.

Für einen, der »den Pflug von der rituellen Begattung der Erdscholle herleitet«,70 ist kein Platz im Stamme derer, die sich anschicken, zu einer Entität namens »die Wissenschaft« zu mutieren. Der Mythos ist — wie die Sage – für progressive Vergangenheitsdekonstrukteure und Zukunftstrans­­formatoren auf ihrem Zwischenstopp in der Gegenwart weder Wirklichkeit noch Möglichkeit, sondern bestenfalls »Materialfundus« und »Betrachtungs­objekt« für eine »Problemanalyse der Gegenwart«.71

Duerr ist einer der letzten, der dieser bedrohlichen Verkühlung der Ethno­logie, ja der Geisteswissenschaften auf ihrem Weg zu Soziologisierung und Politisierung, wo es nur noch Subjekte gibt, die von oben herab auch so behandelt werden wie sie benannt sind, etwas entgegenstellen: echtes Interesse am Menschen und den Grundfragen menschlicher Existenz. Er scheint bewegt von einem inneren Drang der Erkenntnis, die nicht um sich selbst kreist oder sich geschmeidig den jeweiligen Zeitgeistströmungen und deren Bedürfnissen andient, sondern auf ein Ziel ausgerichtet ist: den Menschen und — ja, sagen wir es doch — sein Seelenheil.

Man könnte vermuten, Botho Strauß habe sich im Anschwellenden Bocks­gesang von Duerr anregen lassen, wenn er den »Wiederanschluß an die lange Zeit, die unbewegte« sucht, in einem »Akt der Auflehnung: gegen die Totalherrschaft der Gegenwart, die dem Individuum jede Anwesenheit von unaufgeklärter Vergangenheit, von geschichtlichem Gewordensein, von mythischer Zeit rauben und ausmerzen will.«

Wo im Mittelalter die Theologie Mutter und Endziel aller Wissenschaft war, dann lange die Philosophie Grundlage für alles, was die 1920er Jahrgänge unter den Wissenschaftlern noch substantiell beherrschten, Ernst Nolte etwa im Bereich der Historiographie oder Wolfhart Pannenberg als Theo­loge, trat jetzt an deren Stelle eine »Gesellschaftswissenschaft«, die sich zusehends als »Verunsicherungswissenschaft« (so manche Soziologen stolz) versteht, die alles durch den Fleischwolf dreht, was Halt gibt.

Wenn der Mensch total verunsichert ist, wenn alles dekonstruiert wurde, was ihn stützen und rückbinden könnte, dann treten die Utopisten auf den Plan.

Von Reaktionären und Utopisten

»Die Idee, Ethnologie nützlich zu machen, ist grauenhaft und wird immer auch mit einem didaktischen Zeigefinger hervorgebracht.«

In Duerr, dem Völkerkundler, begegnen wir einem Vertreter der Skepsis, was Machbarkeiten anbelangt. Er ist ein Weltbeschreiber und bleibt bei seinen Leisten, ohne gestalterische Anwendungshinweise daraus abzu­leiten; im Gegensatz zum Physiker Dürr, der über sein Fachgebiet weit ausgreifend Zuversicht ausstrahlt, daß einem schummerig wird. Wenn Duerr sagt, er sei aus Sicht von Linken ein »Reaktionär«, dürfte diese Aussage durchaus einen Kern treffen, besonders im Vergleich.

Der Physiker Hans-Peter Dürr (1929–2014) vertritt eine »holistische Physik«, wie er das nennt (man könne recht eigentlich nicht mehr von Teilchen sprechen, sondern vom »Ganzen«), als Nachfolger auf dem Münchner Lehrstuhl Heisenbergs, der — so Dürr — die Welt nicht materiell sehen wollte, sondern so offen, das sie »auch den Menschen mit einschlie­ßen könnte« [sic!] (und an der »Weltformel«, die er sucht, scheitert).

Ein Gedanke Dürrs, der fasziniert: »Der Ursprung allen Seins ist der Geist.« Materie entstehe erst »durch eine Gerinnung des Geistes«, manifestiere sich als »Kruste des Geistes«. Und, auf diesen Gedanken aufbauend weiter: Weil Geist Materie schaffen kann, hält er die Zukunft in der Hand. »Die Zukunft ist offen, lautete sein Credo — alles ist gestaltbar«, heißt es im Nachruf auf Dürr, mit diesem Optimismus habe er Menschen begeistert und eine globale Netzwerk-Stiftung gegründet, um »den nachhaltigen Umbau unserer Zivilisation vor[zu]bereiten«.

Es ist eine Drift ins Fatale: ins Zukunftsgestalten. Utopisten, Umbauer, Optimisten, Transformatoren, sie alle verbreiten Angst.72 Als einziger, vor dem man keine Angst haben muß, erscheint der Reaktionär.

Neo-Schamanismus: Wiederbelebung des Eigenen?

Auch im 20. Jahrhundert gibt es den »Sonnentanz« bei den Cheyenne, aber man hat sich vom Ritual der archaischen Zeit entfremdet: Statt einer »Regenerierung des gesamten Kosmos« geht es nun darum, »sich selbst [zu] retten«, die Welterneuerung beschränkt sich auf die »Suche nach individuellem Heil«. Denn, so Duerr, der diese Veränderung in einer seiner legendären Fußnoten rekonstruiert und kommentiert: »Längst sind die Bande zwischen den Wesen des Universums zerschnitten.«73

Vor einiger Zeit habe ich versucht zu verstehen, was Menschen im Allgäu umtreibt, die sich »auf den schamanischen Weg begeben«, wie sie selbst sagen, als Heiler oder »Alpenschamanen«.74 Eine Kräuterkundige schätzt diejenigen, die so denken wie sie, als Menschen ein, die »dem Boden näher kommen« wollen und »der analytischen Ausschließlichkeit« unserer Zeit etwas entgegen setzen müssen, die »Kraftorte« für sich entdecken als »Zugangstore zur Anderswelt«. Lebt in diesen Vorstellungen das uralte Wissen um die Höhle als Gebärmutter allen Lebens, wie sie Duerr aus den Mythen hergeleitet vor uns stellt — oder haben sich die Alpenschamanen diese Vorstellung in Büchern wie demjenigen Duerrs angeeignet?

Was ist überhaupt ein Schamane — und was nicht? Wem es genügte, im Schamanen jemanden zu sehen, der sich »um den Beistand der spirituel­len Mächte der Welt bemüht«, wie das der Ethnologe Karl Schlesier tut, der hielte auch einen Odenwaldpfarrer für einen Schamanen, der ebenfalls eine »persönliche spirituelle Kommunikation« zu Gott pflege, wenn er bete. (Duerr schreibt diese Zeilen 1984; er hatte damals noch ein romantisches Bild von einem Pfarrer der EKD.75) Einem Schamanen aber obliege es, die »Reise zu den Hütern der Tiere« zu unternehmen76, wie wir sahen; er ver­fügt dazu über Techniken der Ekstase.77 In diesem Sinne gibt es wohl keine Schamanen im Allgäu. Was aber treibt die an, die sich so nennen?

Nicht um die Übernahme fremden Wissens geht es den Alpenschamanen. Sie verstehen sich als Erneuerer heimischer Traditionen, die verloren ge­gangen seien. Historiker wie Carlo Ginzburg (Hexensabbat, 1990) stützen mit ihren Archiv-Funden solche Sichtweisen — wenn sich nicht umgekehrt die Alpenschamanen auf diese Forschungen beziehen, die im frühneuzeitli­chen Europa Überreste vorchristlicher schamanischer Glaubensvorstel­lungen entdeckt haben wollen. Für das Allgäu hat Wolfgang Behringer im Augsburger Staatsarchiv eine besonders spektakuläre Geschichte aus­gegraben: Chonrad Stoeckhlin und die Nachtschar (1994) erzählt von »schamanistischen Befähigungen« eines Roßhirten im 16. Jahrhundert.

Der Shaman of Oberstdorf — so der Titel der englischsprachigen Ausgabe — berichtet vor dem Inquisitionsgericht, wie ihn »eine faulkhait, alß eine Ohn Macht«, also ein der Trance ähnlicher Zustand befallen habe: »Alsdann fahre, seines Vermeinens, seine Seel Auß dem Leib dorthin Und bleibe ungevor bei zwei oder drithalb Stunden auß«. Diese Reise mit der »Nachtschar«, ein »magischer Flug«, bei dem die Seele vom Körper gelöst in Kontakt zum Totenreich treten konnte, bezahlt der Hirte mit dem Tod auf dem Scheiterhaufen. Stoeckhlins Erzählungen gelten vielen als Beleg für die Existenz von visionären Traditionen im frühneuzeitlichen Europa.

Nichts anderes behauptet Hans Peter Duerr in seiner Traumzeit: Das Buch beginnt ja geradezu mit einem Hexenflug, der im Laufe der Unter­suchungen eingebunden wird in die Reisen der Schamanen archaischer Völker außerhalb unserer Kultur. Wenn Schamanen Ritualisten sind, die eine Rückverbindung mit dem Kosmos pflegen, dann ist der Gedanke einer Allgäuer Heilerin daraus abgeleitet: Sie versuche zu vermitteln, was viele Zeitgenossen suchen — eine »Anbindung zu Mutter Universum«.

Wie wird ein Mitteleuropäer im 21. Jahrhundert zum schamanischen Heiler? Ein Allgäuer erzählt, er wäre auf eine indianische Schwitzhütten-Zeremonie gestoßen — aus der er mit einem »Schlüsselerlebnis« heraus­kam: »Ich hatte zum ersten Mal im Leben das Gefühl: Endlich daheim, endlich ›normale‹ Menschen, die mich verstehen.«

Die Schwitzhütte, auch das rekonstruiert Duerr, ist wohl eine Nachahmung der heiligen Höhlen, die wir mit ihm besuchten, und diese galten als weib­licher Uterus, als Gebärmutter, bei Indianern in Nordamerika wie auch bei den Azteken in Mexiko als Schwitzhütten »nachgebaut«, wo der Initiand durch den engen Hütteneingang (Vagina) zurück in die Mutter eingeht, was seinen »›Tod‹ und das Wiederherauskommen als ›Wiedergeburt‹ aus dem feurigen Leib der Muttergöttin«, die Erdmutter Temazcalteci, »Groß­mutter des Schwitzhauses«, zur Folge hat.78

»Wir hatten diese Traditionen auch, aber wegen der Inquisition ging dieses Wissen verloren«, meint der befragte Allgäuer. Die Sauna als Körperreini­gung und Entspannung ist für ihn lediglich ein reduziertes »Überbleibsel«, denn »da ist das Heilige nicht mehr drin.« Das Ritual der Schwitzhütte »wirkt auch auf die Seele«. Bereits als Kind habe er gespürt, »daß ich anders bin als die Norm und deshalb bin ich immer wieder in den Syste­men angeeckt. Ich bin immer als Mann der Sensible gewesen.« In einer Depression war eine Psychotherapie gut für das verstandesmäßige Be­greifen, »aber Herz und Seele, da habe ich gespürt, da komme ich wenig weiter.« Jemand, der so denkt, übersetzt »Religion« mit »zurückbesinnen«.

Viele seiner Altersgenossen seien nach Tibet gegangen, um sich selber zu finden, sagt dieser Allgäuer. Er habe sich gefragt: Kann ich mich nicht im Allgäu finden?

Die Liebe zum Leben — Fluchtversuche

Wo man, Duerr zufolge, jedenfalls die Liebe zum Leben nicht findet: im Nirwana, einer Stille, wo der Wind »erlöscht«.79 Der Yogin, als »Lebend­erlöster« gedacht, kennt nicht »Glück noch Unglück, weder Ehre noch Verachtung«.80 Daß es keine Empfindung mehr gibt, auch kein Glück — darin besteht in dieser Weltverleugnung das Glück des »Befreiten«81. Die fernöstlichen »Fluchtversuche«, mit deren Betrachtung Sedna schließt, aus einem Leben, das als nichts als Leiden erscheint, stoßen bei einem, der die Liebe zum Leben mag, auf wenig Sympathie. Wenn all die Entsa­ger, Yogis, Gurus, Zen-Meister und Buddhisten letztendlich »befreit« seien von allem, seien sie »genau so frei wie ein Herbstblatt, das vom Wind in die eine, bald in die andere Richtung geweht wird« und »so weise wie eine verbeulte Bierdose, die dieser Wind über den Asphalt rollen läßt.«82

Die Flucht ins Nirwana — einer der »Entlastungsversuche«, »übermächtig gewordene Spannungen und Widersprüche des Lebens zu lösen, nachdem wir die paläolithische Tundra der Unschuld verlassen haben«. Nicht »Eingreifen, Herstellen, Entwickeln, Denken« sind die Lebensmaxime des archaischen Menschen, sondern eine Art Gelassenheit in seiner Einfügung in ein Leben, das einer »natürlichen Selbstverständlichkeit« folgt.83

Finden wird man sich nur da, wo man ist. Wer flieht, kann doch nicht ent­kommen. Die einen scheitern darin, ins Nirwana zu flüchten, die anderen dabei, sich an einen Nicht-Ort in der Zukunft wegzuprojektieren. Leben aber gibt es nur im Hier — und in einem Jetzt, das Verbindung hält, auch und vor allem zu jenem, das unser Verstand nicht zu erfassen vermag.

Die nächste Folge von »Religio« erkundet wiederum das Reich »jenseits der Vernunft« — diesmal aus Sicht von Theologen und Religionsphilosophen: Was ist heilig und wo liegt die Grenze zwischen Heiligem und Profanem?

Anmerkungen

  1. Hans Peter Duerr: Sedna oder Die Liebe zum Leben. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1984, S. 11. 

  2. Der Zoologe und Evolutionsbiologe Josef H. Reichholf führt uns in einer faszinierenden Meistererzählung noch weiter zurück, in die ostafrikanische Savanne, den Geburtsort des Homo sapiens: Josef H. Reichholf: Das Rätsel der Menschwerdung. Die Entstehung des Menschen im Wechselspiel der Natur. Stuttgart: Deutsche Verlags-Anstalt, 1990. 

  3. Peter Sloterdijk: Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. Über das anti-genealogische Experiment der Moderne. Berlin: Suhrkamp Verlag, 2014. 

  4. Uwe Jochum setzt die fatale Denkwende — so teilt er es brieflich mit — »an den Beginn der ›Neu­zeit‹ um 1300 herum, wo vieles zusammenkommt: Stadtgründungen, Geldwirt­schaft, aber eben auch eine neue Philosophie-Theologie, die nicht mehr auf die Sachen/ Dinge hören wollte, sondern meinte, man müsse da­rauf per Begriff zugreifen und könne das Begriffene dann weiter zu mani­pulativen Absichten verwenden. Daraus wird dann die moderne Technik.« Dargelegt in: Uwe Jochum: Wie die Wirklichkeit woke wurde. In: Sezession 125, 2025 (in Druck). 

  5. Mircea Eliade: Schmiede und Alchemisten. Stuttgart: Ernst Klett, 1980, S. 196. 

  6. Aus dem Gedächtnis zitiert aus: Bruce Chatwin: The Songlines. London: Jonathan Cape, 1987; deutsch: Traumpfade. München: Hanser, 1990. 

  7. Was Karlheinz Weißmann über Werner Müller gesagt hat, kann man wohl fast eins zu eins auf Hans Peter Duerr, der Müller sehr geschätzt hat, münzen (und ebenso auf einen volkskundlichen Bruder im Geiste, Will-Erich Peuckert) — er ist »ein bekennender Gegen-Aufklärer, ein Romantiker, der die Wahrheit des Gefühls verteidigte, der davon ausging, daß kein ‚Fortschritt’ von der archaischen zur modernen Geistigkeit führe und daß der Mythos wahrer sei als das, was die Auswertung von Quellen und Überresten ergebe«. 

  8. Ungemütlich wird Duerr etwa, wenn er stalinistische Demütigungspraktiken beschreibt, mit denen Wissenschaftsfunktionäre in der Sowjetunion sibirische Schamanen dazu zwangen öffentlich einzugestehen, daß sie ihr Volk angelogen hätten mit dem, was sie als Ritualisten taten: Hans Peter Duerr: Traumzeit. Über die Grenzen zwischen Wildnis und Zivilisation. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1978, S. 202. 

  9. In diesem Sinne sollte man wohl auch Spengler lesen — und nicht ständig krittelnd: ›Da sagt aber die mo­derne Ägyptologie etwas anderes‹; oder: ›Das hat Spengler mißverstan­den, weil er kein Experte für dies oder das war‹. So auch Spenglers Biograph Anton Mirko Koktanek. 

  10. Was der Ich-Erzähler in »Heil Hyperpop!« hingegen finden will, stellvertretend für viele seiner Zeitgenossen, ist »nicht direkt das Vergangene, wie es je existiert haben mochte, sondern das Vergangene, wie ich es entstellen konnte«. 

  11. Duerr: Traumzeit (1978), wie Anm. 8, S. 473 Anm. 30. 

  12. »Was mich zu Studienzeiten abschreckte, war dieser Konformismus der Linken, auch in der so genannten antiautoritären Phase, verbunden mit einer faschistischen Grundein­stellung. […] [I]n Berlin, bei einem Seminar, erlebte ich, wie über die Behandlung der Reaktionäre diskutiert wurde: Die eine Hälfte der Anwesenden war dafür, nach der erfolgreichen Revolution auf der Insel Rügen eine Art Umerziehungslager, also ein KZ, einzurichten, die andere Hälfte meinte, man könne solche Leute, wie zum Beispiel [Herbert] Marcuse oder [Willy] Brandt [sic!], nicht umerziehen, sondern nur liquidieren.« 

  13. »Ich [hatte] das Wort ›Brüste‹ benutzt, das […] galt als Indiz für meine ›Frauenfeind­lichkeit‹. Mit dem Rektor hatte ich eine Diskussion darüber, ob ich das Wort benutzen dürfe oder nicht, es war ein absurder Dialog.« 

  14. Auf den bedeutenden Beitrag von Hans Peter Duerr zu einer Geschichte der transkul­turellen Universalien, Beispiel: Schamgefühl, kann dieser Text nicht eingehen. Man lese dazu: Hans Peter Duerr: Der Mythos vom Zivilisationsprozeß. Fünf Bände. Suhrkamp: Frankfurt am Main, 1988-2002. Oder begnüge sich mit der Feststellung von Thomas Bargazky, Duerr hätte sich mit diesem opus magnum »um eine realitätsnahe Sicht auf die menschliche Natur sehr verdient gemacht«, besonders auch dahingehend, daß dieser anthropologische Befund »der utopistischen Doktrin der grenzenlosen Formbarkeit des Menschen« Grenzen setzt. 

  15. Duerr auf einer der 333 Seiten kleingedruckten Fußnotentextes in der Traumzeit, aus dem Gedächtnis zitiert; wahrscheinlich anspielend auf das Fahrzeug seines Ethnologen-Freundes Michael Oppitz, der in den 1970er Jahren den Strukturalismus von Claude Levi-Strauss in die deutsche Academia eingeführt hat. 

  16. Duerr: Traumzeit (1978), wie Anm. 8. 

  17. Wie Duerr die Materialmengen, die er präsentiert, lesend, sichtend, schrei­bend bewältigen konnte, in einem analogen Zeitalter, ganz ohne Google, Wikipedia, KI? Eine Anekdote aus seiner Studentenzeit gibt Aufschluß darüber: Er, sein Kumpel Fritz Kramer und der spätere Historiker Rolf Peter Sieferle überboten sich in einem skurrilen Lesewett­bewerb darin, was man alles an einem Tag an Stoffmengen in sich hineinfressen kann. 

  18. Duerr: Sedna (1984), wie Anm. 1, S. 9. — Eine ebenso charakteristische wie wundervolle Duerrität ist der Zusatz, daß die archaischen Menschen — »auch wenn es unwahrscheinlich klingen mag« — »nicht tiefer« dachten als etwa »Jürgen Habermas«. 

  19. Duerr: Traumzeit (1978), wie Anm. 8, S. 17. 

  20. Ebd., S. 73. 

  21. Ebd., S. 81. 

  22. Ebd., S. 80f. 

  23. Ebd., S. 201. — Cotta, der Römer, der in Christoph Ransmayrs Letzter Welt an der Schwarzmeerküste den verbannten Dichter Ovid und dessen Buch, die Metamorphosen, sucht, macht diese Erfahrung zwar nicht selbst, erlebt sie aber an seinem Zimmerver­mieter in der Eisernen Stadt, dem Seiler, der zum (Wer)Wolf wird … 

  24. Duerr: Traumzeit (1978), wie Anm. 8, S. 110. 

  25. Ebd., S. 108. 

  26. Ebd., S. 110. 

  27. Alexander Knorr: Metatrickster. München: Vasa, 2004. 

  28. Duerr: Traumzeit (1978), wie Anm. 8, S. 113. 

  29. Im Alten Orient, in der Welt der Sumerer, galt das Wilde, alles außerhalb der Stadt­mauern befindliche, als dämonisch, als gefährlicher, draußen­zuhaltender Feind für die mühselig der Steppe (eden) abgerungene Zivilisation und Kultur. »Die Bedrohung der Steppe [wozu alles zählte, was nicht Stadt war], die in die geordnete Welt der Stadt eindringen könnte, prägte die mesopotamische Weltsicht« (Walther Sallaberger: Das Gilgamesch-Epos. Mythos, Werk und Tradition. München: C.H. Beck, ²2013, S. 27). Nun stellt das Gilgamesch-Epos mit Enkidu einen vor, der von »Draußen« stammt und die »Menschwerdung« vollzieht, »sich vom behaarten Wilden zum zivilisierten Städter ent­wickelt« (S. 71). Enkidu, Kind von Gazelle und Wildesel, stark und roh, »mit Haaren bepelzt am ganzen Leibe«, »streift im Steppenland beständig umher, frisst mit dem Wild das Gras« (Das Gilgamesch-Epos. Übersetzt von Albert Schott. Stuttgart: Reclam, 1988, S. 18, S. 20), wird »zivilisiert« — durch Beischlaf mit einer Dirne, die ihn damit der Wildnis entfremdet; bekleidet, in die Stadt geführt, mit Brot und Bier bekannt gemacht, so daß er zum Freund und Berater des Königs, Gilgamesch, werden kann — durch den Akt der Zivilisierung aber auch seine »Reinheit« (Sallaberger, S. 29) verliert, die der Städter in der »unberührten Wildnis« ebenso gesehen hat wie die Gefahr, die von dort droht. 

  30. Duerr: Traumzeit (1978), wie Anm. 8, S. 147. 

  31. Ebd., S. 202f. 

  32. Ebd., S. 201. 

  33. Ebd., S. 185. 

  34. Ebd., S. 204. 

  35. Paul Schebesta: Bambuti. Die Zwerge vom Kongo. Leipzig: Brockhaus, 1932: In der »Wildnis«, im »uferlosen Urwald«, finden sich die Bambuti-Pygmäen »aus eigener Kraft zurecht«, und können ihr Leben »nicht nur fristen«, sondern existieren als »Natur-Wald­menschen« (S. 262) »zufrieden« dort, wo der Zivilisierte zugrunde gehen würde (S. 261). »Immer sieht man die Zwerge munter und aufgeräumt«, resümiert der Forschungsrei­sende, der die Bambuti zu den »glücklichsten Menschen der Erde« rechnet (S. 265). — Schebesta war als Steyler Missionar aus Mödling bei Wien ein Mitstreiter des legendären Pater Wilhelm Schmidt, dessen zwölfbändiges (!) Werk »Der Ursprung der Gottesidee« (1912-1955) den Nachweis eines »Urmonotheismus« führen wollte. — Das Buch über die Bambuti erwarb ich in einem Münchner Antiquariat; es weist ein Ex Libris auf: »Aus der Schlossbücherei Neidstein / Frh. v. Brand«, stammt also aus dem Besitz der Oberpfälzer Familie von Philipp Paul Freiherr von Brand zu Neidstein (1868–1935) und dessen Sohn Philipp Theodor Freiherr von Brand (1898–1973), der als Jurist in der Nachkriegszeit Protokollchef der Bayerischen Staatskanzlei war. 

  36. Hugo Adolf Bernatzik: Die Geister der gelben Blätter. Forschungsreisen in Hinterindien. Gütersloh: Bertelsmann, 1962: Die Phi Tong Luang, die in Kleingruppen im Dschungel von Thailand und Laos umherstreifen, haben so gut wie keinen materiellen Besitz: Sie sind nackt, schützen sich an ihren Rastplätzen — wenn überhaupt — mit einfachsten Wind­schirmen aus Palmwedeln (Abb. 50) und führen auf ihren Streifzügen so gut wie nichts mit. Alles, was man benötigt, wird spontan aus den Materialen hergestellt, die der Wald bietet (S. 188): Gefundene Holzstöcke dienen als Grabehilfen bei der Nahrungssuche, Feuer wird auf Stein geschlagen. Gekocht wird im Bambusrohr (Abb. 56), gegessen von großen Blättern, die der Ethnologe »Tisch« nennt (Abb. 57), Trinkwasser von Hohlräumen im Bambus gewonnen und aus zu einer Art Becher gefalteten Blättern getrunken (Abb. 46). Der Wiener Völkerkundler Hugo Bernatzik, der in den 1930er Jahren dieses »Volk kindlicher Phantasie« besuchte, fand Menschen vor, die sich »scheu und zurückhaltend«, aber nicht »unterwürfig« verhielten, da es »bei ihnen keine Untergebenen oder Hochge­stellten« gäbe (S. 164); nie hat der Forscher einen Phi Tong Luang »ärgerlich oder zornig« gesehen (S. 165). 

  37. Claude Lévi-Strauss: Traurige Tropen. Köln: Kiepenheuer & Witsch, 1974 (Tristes Tropiques. Paris: Librairie Plon, 1955), S. 238-249 (Familienleben der Nambikwara), hier S. 247 (Anspruchslosigkeit), die Zitate S. 239, S. 241. 

  38. Martin Gusinde: Die Feuerland-Indianer. 3 Bände. Mödling, 1931–1939; ders.: Urmenschen im Feuerland. Vom Forscher zum Stammesmitglied. Berlin: Zsolnay, 1946. 

  39. Duerr: Sedna (1984), wie Anm. 1, S. 11, S. 232. 

  40. Lévi-Strauss: Traurige Tropen (1955/1974), wie Anm. 37, S. 239f. 

  41. Beim besten Willen kann ich nicht mehr rekonstruieren, wo bei Sloterdijk ich diesen Hinweis gelesen habe; jedenfalls habe ich nicht gezögert, dieses Buch in der Münchner Universitätsbibliothek zu bestellen. 

  42. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Ehemalige Kehrbachsche Ausgabe. Heraus­gegeben von Raymund Schmidt. Leipzig: Philipp Reclam jun., 1924, S. 21 (Vorrede zur zweiten Ausgabe, 1787; ich habe die Ausgabe, aus der ich zitiere, im Haidhauser Bücherschrank gefunden). — Welch entspiritualisierte und entsakralisierte Kopfgeburt des Königsbergers Vernunftreligion darstellt, zeigt Caroline Sommerfeld: Kant — wie wir ihn lesen. In: Sezession 119, April 2024, S. 4-7, besonders S. 5. 

  43. Hans Peter Duerr (Hrsg.): Der Wissenschaftler und das Irrationale. Band 1: Beiträge aus Ethnologie und Anthropologie. Band 2: Beiträge aus Philosophie und Psychologie. Frankfurt am Main: Syndikat, 1981; Zitat Band 1, S. 10. 

  44. Schebesta: Bambuti (1932), wie Anm. 35, S. 259. 

  45. Duerr: Sedna (1984), wie Anm. 1, S. 15. 

  46. Ebd., S. 46-58. 

  47. Ebd., S. 17-26. 

  48. Ebd., S. 35. 

  49. Ebd., S. 48. 

  50. Ebd., S. 46. 

  51. Ebd., S. 47. 

  52. Ebd., S, 51. 

  53. Ebd., S. 54. 

  54. Eliade: Schmiede (1980), wie Anm. 5, S. 37-46, hier S. 37. 

  55. Duerr: Sedna (1984), wie Anm. 1, S. 54. 

  56. Ebd. 

  57. Ebd.. S. 40. 

  58. Ebd., S. 55. 

  59. Ebd., S. 231. 

  60. Ebd., S. 235. 

  61. Ebd., S. 234. 

  62. Ebd. — Zu den beglückenden Erfahrungen des Schreibens und des Austausches mit Mitdenkern gehört, was mir 5artikel-Herausgeber Uwe Jochum schrieb, als wir Folge V von »Religio«, Der Mythos, über Leo Frobenius zur Veröffentlichung vor­bereiteten und ich schon die ersten Gedanken über die nächste Folge, die nun hiermit vorliegt, nach Kon­stanz sandte: »Die Philosophie von der Antike bis ins Mittelalter war davon ausgegangen, daß wir die Wahrheit von Sachen und Sachverhalten ermitteln können, wenn es uns ge­lingt, uns in unserem Denken auf die Sache selbst einzulassen und ihr inneres ›Funktions­muster‹ oder ihren ›Geist‹ oder ihr ›Wesen‹ zu entdecken. (Am Ende Ihrer Mail schreiben Sie über die Indigenen, die dem Wald helfen wollen, indem sie sich ihm anfügen: darum geht es.) Dieser Impuls verblaßt ab 1300. Ich sehe jetzt, daß die Autoren, über die Sie schreiben, auch Frobenius und Duerr, in dem ganz alten (von heute aus gesehen:) Gegen-Impuls stehen, der aber bis etwa 1300 gar kein Gegen-Impuls war, sondern der tragende und eigentliche Impuls der menschlichen Kulturleistungen.« — Siehe zu diesen Bemerkungen auch das in Anm. 4 Gesagte. Und die Ergänzung, daß Menschenbeobach­ter wie Frobenius und Duerr versuchen, das Bourdieu’­sche Diktum von der Notwendigkeit jedes ernstzunehmenden Forschers, die »innere Notwendigkeit« eines Menschen, über den er forscht, zu ergründen, also aus sich selbst und seiner Sicht der Welt herauszu­treten und die Perspektive dessen einzunehmen, über den man handelt, beherzigt haben, bevor der französische Soziologe diese ethisch einzig vertretbare For­scherhaltung in seinem exzellenten Beitrag »Verstehen« im »Elend der Welt« formulierte. 

  63. Duerr wäre in den Kolloquien der sich von der Volkskunde (und überhaupt von allem Menschlichen) verabschiedenden LMU-Volkskunde zu München, denen ich in den Jahren 2006 bis 2010 beiwohnen durfte, das kalte Grausen über den Rücken gelaufen bei Fragen der Assistentin an eine Doktorandin wie: »Was willst Du theoriepolitisch mit Deiner Arbeit sagen?« 

  64. Duerr: Traumzeit (1978), wie Anm. 8, S. 12. 

  65. Jürgen Schmid: (Rezension von) Valentin Groebner: Wissenschaftssprache. Eine Gebrauchsanweisung. Konstanz: Konstanz University Press, 2012. In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde 2013, S. 201-205. 

  66. Uwe Pörksen: Wissenschaftssprache und Sprachkritik. Untersuchungen zur Geschichte und Gegen­wart. Tübingen: Narr, 1994, S. 270. — Der unerreichte Sprachkritiker hat im März diesen Jahres seinen 90. Geburtstag gefeiert. 

  67. Peter Graf Kielmansegg: Die Sprachlosigkeit der Sozialwissenschaften. In: Paul Kirchhof (Hrsg.): Wissenschaft und Gesellschaft. Begegnung von Wissenschaft und Gesellschaft in Sprache. Symposion zur Hundertjahrfeier der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. Heidelberg 2010, S. 93-101. 

  68. Das ganze Dilemma postmodernen (Un)Wissenschaftlertums wie in der Nußschale offenbaren die Dissertationen von Robert Habeck und seiner Frau Andrea Paluch, beides Germanisten, die während des Bundestagswahlkampfes kurz für Aufregung sorgten, weil sie Plagiate enthalten und Belesenheit vortäuschen, wo keine Belesenheit ist: Bei Habecks komplett unlesbarem Text »Die Natur der Literatur. Zur gattungstheoretischen Begründung literarischer Ästhetizität« (2001) wurde mindestens auf jeder zweiten Seite ein Zitat aus einer Sekundärquelle übernommen, ohne auf diese Übernahme mit »zitiert nach« hinzuweisen. Daß sich Plagiatsprüfer Weber wundert, warum Habeck an wenigen Stellen dies korrekt tut, also weiß, wie es geht, aber dieses Wissen nicht durchgängig korrekt anwendet — diese Verwunderung verwundert. Denn hätte Habeck jede Über­nahme korrekt nachgewiesen, wäre transparent geworden, daß er fast nichts, was er zitiert, im Original konsultiert hätte — und dann wäre seine Masche, Belesenheit nur vorzutäuschen, sofort jedem ins Auge gefallen. — Die grundsätzliche Lehre, die der spektakuläre Betrugsfall Habeck auftut, wird leider so gut wie nie thematisiert: Habeck & Konsorten fabrizieren postmoderne Studien, die selbstreferenziell sind; will heißen: sie kommen nirgendwo her und wollen nirgendwo hin. Sie haben keine Basis, kein Funda­ment, nirgendwo in ihnen wird eine Wirklichkeit sichtbar. Sie kreisen um ein wortreich verschleiertes Nichts. Denn es fehlt ihnen die Empirie. (Nebenbei: Würde man von Empirie ausgehen, könnte man gar nicht so viele Plagiate produzieren.) Empirie in den Geisteswissenschaften wäre auf zweierlei Art herzustellen: Durch eigenständige Quellen­erschließung*. Oder durch Konzentration auf eine Quelle, einen Denker und dessen Werk, durch seriöse Quellenarbeit an einem klar definierten und eingegrenzten Fall­beispiel, etwa wenn sich in der Literaturwissenschaft jemand einen Schriftsteller vor­nimmt und / oder ein Werk, das er aus einem bestimmten Blickwinkel befragte und dieses sein selbst gewähltes Thema dann umkreist. — Eigenständige Quellenerschlie­ßung — das wäre im Falle der Archäologie Befunde und Funde bearbeiten, die man selbst aus der Erde geholt hat. In der Volkskunde, verstanden als empirische und qualitative Sozialwissenschaft, wäre die Quelle das, was man selbst beobachtet und die Gespräche, die man führt. In Geschichte das Erschließen neu aufgefundener oder bisher nicht beachteter Archivalien. Und in den Philologien die Edition und Kommentierung von unpu­blizierten Texten wie Manuskripte aus Nachlässen, Tagebücher, Korrespondenz. Etc. pp. 

  69. Duerr: Traumzeit (1978), wie Anm. 8, S. 213. 

  70. Bernhard Streck: Leo Frobenius. Afrikaforscher, Ethnologe, Abenteurer. Gründer, Gönner und Gelehrte. Biographienreihe der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Frankfurt am Main: Societäts-Verlag, 2014, S. 201. 

  71. Helge Gerndt: Sagen und Sagenforschung im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Fabula 29, 1988, S. 1-20, hier S. 18, S. 3. 

  72. Wenn einem im Buchladen weiß auf rot dieser Bandwurmtitel anspringt: »Utopien für Realisten. Die Zeit ist reif für die 15-Stunden-Woche, offene Grenzen und das bedin­gungslose Grundeinkommen«, dann hätte man vor nicht allzu langer Zeit geahnt, daß man gleich aus einem skurrilen Traum erwachen wird. Heute ist das ein real existierender »Spiegel-Bestseller« eines »Vordenkers«, dessen »Visionen« der Verlag auf eine Stufe sieht mit der Erfindung der Demokratie, »inspirierend« und »mitreißend«, in Richtung »Fort­schritt«. Daß ein Fortschreiten immer auch auf einen Abgrund zusteuern kann, ist dabei nicht eingepreist; auch nicht, das schon viele Zukunftsgestalter vor diesem Utopisten mitgerissen wurden von ihren Visionen, die — wenn es gut ging — am Nichtort versande­ten, leider allzu oft aber die Welt in den Abgrund rissen. 

  73. Duerr: Sedna (1984), wie Anm. 1, S. 270 Anm. 27. 

  74. Jürgen Schmid: »Es geht nicht darum, daß wir den Indianern hinterher hüpfen«. Schamanische Spiritualität im Allgäu. edition:schwaben 4/2012, S. 86-94. 

  75. Möglicherweise beeinflußt durch einen Roman des gleichaltrigen Friedrich Christian Delius (1943–2022): »Der Sonntag, an dem ich Weltmeister wurde« (1994), worin Delius mit Bauchgrimmen von seiner Kindheit in einem hessischen Pfarrhaus erzählt, wo der Pfarrervater offenbar noch ein gläubiger Mensch war, dessen christlich geprägte Autorität und Beharren auf christlich fundierte Tagesabläufe dem Sohn nicht geschmeckt haben. Und Duerr hat in den 1980er Jahren noch dieses romantische Bild vom EKD-Pfarrer, obwohl Ruth Rehmann (1922–2016) in ihrer abstrusen Abrechnung mit ihrem Vater, Der Mann auf der Kanzel (1979), einem rheinischen Geistlichen, der sein Seelsorgeamt Ernst nahm, das Idealbild dessen entgegenhalten zu müssen meinte, was Rehmanns Kinder in den bundesrepublikanischen 1970er Jahre erlebten — Pfarrer, die sich »im Religionsunter­richt auf das gestrige Fernsehprogramm beziehen« und statt »vom Vater im Himmel« von »sozialem Engagement« predigen. Ob Duerr aber 1984 (!) geahnt hat, wie gottlos eine Kirche wie die EKD vierzig Jahre später werden konnte, welche Räume der Kälte sich in ihr auftun würden, in denen »Pfarrpersonen« (Selbstbezeichnung einer Pfarrerin) walten, die fordern: »Schafft den Gottesdienst am Sonntag ab!«, um mehr Zeit und Raum frei zu bekommen für »die biblische Weinprobe in der Kirche« oder einen »feministisch-theolo­gische[n] Lesekreis«? (Wer hofft, dieser Irrsinn würde sich auf die Kirchen des deutschen Sonderwegs Protestantismus beschränken, der kennt weder die Queer-Messen, zu denen sich der Münchner Kardinal Marx verstieg, noch die ebenfalls in München stattfindenden Geburtstagspartys für Jesus, die ein Pfarrer namens Schießler in seiner Kirche an Heilig Abend abhält, wo mit Sekt angestoßen wird zu Discobeats, die ein DJ auflegt.) 

  76. Duerr: Sedna (1984), wie Anm. 1, S. 274 Anm. 21. 

  77. Mircea Eliade: Schamanismus und archaische Ekstasetechnik. Zürich: Rascher, 1957. 

  78. Duerr: Sedna (1984), wie Anm. 1, S. 277 Anm. 27. 

  79. Ebd., S. 243. 

  80. Ebd., S. 12. 

  81. Ebd., S. 244. 

  82. Ebd., S. 255. 

  83. Ebd., S. 258.