Das Vertikale, nach oben Offene, Heilige, zu etwas Strebende, das größer ist als der Mensch in seiner Beschränktheit — diesem letzten Geheimnis hat sich »Religio« in menschheitsgeschichtlichen Riesenschritten anzunähern versucht.
Zunächst mit Leo Frobenius — und seiner Vorstellung von Kultur, die in intuitiver Ergriffenheit den Menschen durchwirkt. Sodann mit dem letzten Romantiker unter Deutschlands Wissenschaftlern — Hans Peter Duerr, der dem sogenannten Irrationalen zubilligt, vernünftiger mit dem umzugehen, was außerhalb der Vernunft liegt. Zuletzt mit zwei sehr unterschiedlichen Denkern, die aus konträren Positionen heraus das Heilige wesensbestimmen und verteidigen gegen das Profane, ja mehr noch gegen das Laue — dem protestantischen Theologen Rudolf Otto und dem katholischen Reaktionär Mircea Eliade.
Für eine Suche nach Rückbindung, die in unserer Zeit und an unserem Standort lebbar wäre, so könnte nun eingewandt werden, eigneten sich afrikanische Vergangenheiten, wie sie Frobenius präsentiert, nicht wirklich; auch nicht Duerrs Hymnus auf die kosmische Eingebundenheit von Eiszeitjägern; und schließlich dürften einige Zeitgenossen fremdeln mit Eliades Ursprungssehnsüchten, die es in den Mythen und ihren Vergegenwärtigungen in archaischen Riten zu entdecken gelte.
Doch mit Ottos biblischen Heiligkeitsargumentationen (tatsächlich sind es, dem Thema nur bedingt angemessen, Argumentationen), mit den Spekulationen über die Liturgie der Dampfnudelzubereitung und zu bäuerlichem Arbeitsgerät, das zur Ehre eines Höchsten verziert worden sein könnte, haben wir uns bereits angenähert an das Eigene in Raum und Zeit.
Das Eigene in der Suche nach Vertikalität ist im Abendland nun einmal das Christentum, in seinen drei wesentlichen Konfessionsformen — aufgetrennt in die Latinität des Katholizismus, die Abspaltung des Protestantismus mit seinen diversen Spielarten und die ostkirchliche Orthodoxie.
Nun kommen wir ins Eigene, wo keine Ausrede mehr gilt, wo die Probe aufs Exempel gemacht werden muß, was an Traditionen noch einen Sitz im Leben hat, wie weit der Abstand ist zu dem, was immer gelten sollte. Oder in den Worten von Georg Lukács: Wie weit die »transzendentale Obdachlosigkeit«1 fortgeschritten ist in einer »gottverlassene[n] Welt«, die — Lukács’ Analyse stammt aus dem Jahr 1916, in Buchform publiziert 1920 — »aus den Fugen geraten ist«.2
Die Vermessung dieses anschwellenden Abstands — das ist die Leitlinie, unter der wir uns anzusehen haben, was ein Volkskundler wie Leopold Kretzenbacher an volksfrommer Gegenwart, die (Kretzenbacher) als Seiendes ein Gewordenes ist, noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts miterleben und aufzeichnen konnte; was — mit Romano Guardini gesprochen — an »heiligen Zeichen« in unserer Eltern- und Großelterngeneration gelebter religiöser Alltag war.
Auch wer nicht bereit ist, mit Emmanuel Todd von einem »Zombiechristentum« zu sprechen, das nur noch für beliebige »Werte des Anstands« steht, »losgelöst von jedweder religiösen Praxis«,3 wird nicht umhinkommen, einen breiten und tiefgreifenden Verlust an gelebter Religiosität sowie das fortschreitende Verschwinden religiöser Zeichen aus der Öffentlichkeit zu konstatieren.
Keinesfalls will ich die »Entmachtung der Transzendenz« beschreiben in einer »von keinerlei Gefühl getrübte[n] Sachlichkeit«.4 Leitfaden der Vermessungsarbeiten soll sein: »Die Überzeugung […], daß es eine andere Wirklichkeit gibt, und zwar eine von absoluter Bedeutung für den Menschen, welche die Wirklichkeit unseres Alltags transzendiert«5 — verbunden mit der Frage, was diese Überzeugung wert ist ohne Zeichen davon in der Alltagswirklichkeit? Ein Menetekel kann man gar nicht oft genug vor Augen führen: Ein Kardinal der katholischen Kirche, der am Jerusalemer Tempelberg das Kreuz demonstrativ verleugnet, setzt damit ein fatales Zeichen.
Fehlt, wie es Martin Mosebach in einem Interview vermutet hat, inzwischen »das gläubige Volk, das immer wieder die Rückkehr zur Tradition erzwungen hat«, ist jene »Herde Christi«, die Traditionen unbeeindruckt von »theologischen Katastrophen« und »Häresien die Führungsschichten« im volksfrommem Glaubensvollzug bewahrt hat, so klein und einflußlos geworden, daß sie die Kontinuität nicht mehr wahren kann?
Um eine Kontinuität zu wahren, muß der Bestand an religiösen Traditionen geklärt werden. Das wollen wir unternehmen.
Anmerkungen
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Georg Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik. Berlin: Paul Cassirer, 1920, S. 23 f. ↩
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Georg Lukács: Vorwort / oder Nachwort / zur Theorie des Romans. Typoskript 1962, S. 6; https://real-ms.mtak.hu/21807/2/Lukacs_kez_45_470.pdf. ↩
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Emmanuel Todd: Der Westen im Niedergang. Ökonomie, Kultur und Religion im freien Fall. Neu Isenburg: Westend, 2024, S. 190. ↩
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Peter L. Berger: Auf den Spuren der Engel. die moderne Gesellschaft und die Wiederentdeckung der Transzendenz. Freiburg im Breisgau (u.a.): Herder, 1969 (hier in der Auflage von 1991), S. 20. ↩
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Ebd. ↩