Ich gehe ab und zu gerne in ein Sternerestaurant. Dort bekomme ich wunderbare Gerichte, die der Sternekoch aufgrund seiner gastrosophischen Expertise mir auftischt: Feine Speisen aus erlesenen Zutaten, zusammengestellt zu einem kulinarischen Gedicht, das nicht nur den Geschmacks- und Geruchssinn anspricht, sondern über die Textur der Speisen auch die Kaumotorik anregt, die Augen bewegt und den Händen sagt, was sie zu tun haben. Ich überlasse mich dabei dem Profi, ihm vertrauend, daß er sein Handwerk beherrscht. Ich komme nicht in sein Lokal und mache ihm Vorschriften über den besten Garpunkt des Steaks oder die ideale Kerntemperatur der Dorade. Das alles weiß er viel besser als ich, das alles beherrscht er auch technisch viel besser als ich, und deshalb kocht er viel besser als ich. Ich wäre ein elender Besserwisser, wenn ich mich neben ihn in die Küche stellte und ihm erklärte, wie er das alles meiner Meinung nach machen soll. Oder ihm gar sagen würde, daß dem Rumpsteak die Zukunft gehört und nur ihm.
[Abb. 1: Totènes ou petits calmars farcis aux épinards et aux pignons. Quelle: Wikipedia]
Was dort im Restaurant geschieht, wird — wenn es gelingt — nur ein kulturloser Rüpel für bloße Nahrungaufnahme oder für die notwendige Zufuhr von lebenswichtigen Nährstoffen halten. Das Ganze hat vielmehr mit den Sinnen und der Lust zu tun: Die Sinne sollen dem nachspüren, was sich da zeigt, was da riecht, was da schmeckt, was sich da ertasten läßt mit den Händen und dem Gaumen und der Zunge. Es ist ein Stück gestaltete Natur, transformiert durch eine Kulturtechnik, die mit dem Wort »Kochen« nur sehr unzulänglich beschrieben ist, mit dem Wort »Kochkunst« schon viel besser; und wer will, mag sich das verbal zur »Kulinarik« veredeln.
Wenn es gelingt. Wenn es gelingt, treten drei Partner miteinander in ein Gespräch: Der Kochkünstler, sein Gast und das Ensemble der Speisen, die der Kochkünstler seinem Gast vorsetzt. Wenn es gelingt, kann der Kochkünstler stolz auf sein Werk sein, der Gast wird sich beglückt fühlen, und die Speisen werden nicht unter ihrem Wert und unter Mißachtung ihrer geschmacklichen und sensorischen Gehalte einfach heruntergeschlungen worden sein, sondern man wird sie genossen haben, geduldig und — warum nicht? — mit Liebe, und in dieser Liebe werden sich Kochkünstler und Gast begegnen. Aus so etwas entstehen Freundschaften; es sind Freundschaften zwischen Menschen; und es sind Freundschaften aus der gemeinsamen Freude am Werk, das zwischen den Menschen steht und sie verbindet, selbst dann, wenn es im Genuß verschwinden mag.
[Abb. 2: Freunde, möglicherweise. Bild von Henri Brispot: Der Gourmand. Quelle: Wikipedia]
Und wenn es nicht gelingt? Wenn es nicht gelingt, haben wir tatsächlich wenig mehr als eine Zufuhr von Spurenelementen, Mineralien, Faserstoffen, Eiweisen, Kohlehydraten und anderem, was der Chemiker, der sich analysierend über »das Essen« hermacht, schnöde in Formeln bringt, auf die er die zum »Nahrungsmittel« reduzierte Speise nocheinmal reduziert. Das ist eine Sicht auf die Welt, die sich durchaus mit einer gewissen Art von Menschenfreundlichkeit verträgt: Wenn man weiß, was in den Speisen »drin« ist, wieviel Kalzium, Vitamin C, D und E, wieviel Selen, dann kann man das technisch reproduzieren und in synthetischer Form allen Hungernden zugänglich machen. Zwar nicht in der teuren Form eines Kobe-Rindes, dafür aber, so der Menschenfreund, in der billigen Form von Preßfleisch; denn die Hauptsache, so der Menschenfreund, die Hauptsache ist eben das, was »drin« ist; bei der Form müssen wir, wenn wir’s für alle erschwinglich machen wollen, eben ein bißchen ab und zu geben. Es mag dann durchaus kein Werk gelingen, aber alle werden satt. Und zwar möglichst preiswert.
[Abb. 3: Russische Astronautennahrung. Quelle: Wikipedia]
Ich rede hier natürlich gar nicht vom Essen, schon gar nicht vom Speisen. Ich rede, der Leser hat es möglicherweise längst gemerkt, von der Digitalisierung der Bücher und der Bibliotheken; und ich rede davon, daß viel zu viele meinen, es komme nur auf den »Content« an, auf das, was »drin« ist in einem Buch, nicht auf die Form, die wenig mehr sei als eine papierene Verpackung für ebendiesen »Content«. Und, so denken die viel zu vielen, wenn man diese Verpackung möglichst billig macht, hat man durchaus keinen Verlust, im Gegenteil, man hat irgendwie sogar mehr vom Inhalt, nämlich fast ohne störende Verpackung (die Kosten verursacht) einen irgendwie direkten Zugriff auf den geistigen Nährstoff, den man sich dann einfach »reinziehen« kann. Wozu also ein bibliophiles Kobe-Rind wie, nur beispielsweise, die schöne und philologisch sehr interessante Kafka-Ausgabe von Roland Reuß und Peter Staengle, wenn ich denselben »Content« als bibliophobes Preßfleisch, nämlich als Taschenbuch, bekomme? Das macht im einen Fall 199 Euro für das bibliophile Kobe-Rind, im andern Fall aber nur 17,60 Euro fürs Preßfleisch. Ja, und natürlich gibt es den »Content« auch als Lektürehamburger für um die fünf oder sechs Euro. Und irgendwer wird mir jetzt gleich schreiben wollen, er habe den »Content« ganz umsonst »im Netz« gefunden und ihn würde schon die Soße ohne irgendwas zufrieden machen; und noch ein anderer hat natürlich längst entdeckt, daß man die digitalsynthetische Version des »Content« für weniger als einen Apfel bei einem am Amazonas beheimateten Volk bekommt.
Was heißt das? Es heißt, daß wir bei Büchern noch lange nicht da sind, wo wir beim Thema Essen schon seit längerem sind. Beim Essen wissen wir, daß es keineswegs damit getan ist, sich wie ein Astronaut aus der Tube diesen oder jenen Nährstoff zuzuführen oder einen Hamburger runterzuschlingen; beim Essen wissen wir, daß es einen subtilen Zusammenhang gibt zwischen der Qualität der Lebensmittel, ihrer angemessenen Zubereitung, dem Genuß der Speisen und der Gesundheit der Essenden. Man kann das ignorieren und so tun, als genüge ein Mix aus Nahrungsergänzungsmitteln und Nährstoffen oder der Verzehr pappig-fettiger Sättigungsteile, um gesund zu bleiben. Aber man wird dann über kurz oder lang zugeben müssen, daß die gastrosophischen Ignoranten nicht so gut aussehen, wie sie aussehen möchten: Die einen (die mit der synthetischen Astronautennahrung leben wollen) werden trotz aller zugeführten Nährstoffe blaß und verschattet daherkommen; die anderen (die ihre Ernährung ganz auf Fast food abstellen) werden sich mit einem adipösen Leib durchs Leben schleppen.
[Abb. 4: Daniel Lambert, adipös. Bild von Benjamin Marshall. Quelle: Wikipedia]
Bei den Büchern ist das nicht anders. Wer seinen Kleist immer nur als billiges Taschenbuch genossen hat, kennt ihn als Kleist noch lange nicht. Es fehlt ihm all das, was beim Essen die Qualität der Zubereitung, die Gewürze, die Aromen wäre — und das hier, beim Buch, die Verarbeitung, der Satzspiegel, die Typographie ist. Zugegeben: Nicht jeder Autor war auch ein großer Koch, der sich mit der Verarbeitung der von ihm hervorgebrachten Werke beschäftigt hat; aber jeder große Autor war der Schöpfer eines Werkes, das das typographische Küchenpersonal zu Höchstleistungen anspornen sollte, damit wir mit Genuß lesen und im Lesegenuß die Aromen des Werkes entdecken können. Wenn man das vergißt, wenn man das absichtlich ignoriert, wird man entweder die Werke auszehren oder sie als synthetischen Fraß irgendwelchen »Usern« vorsetzen, die darauf genau so reagieren, wie sie es beim Nahrungsfraß tun: Sie werden adipös, indem sie immer mehr »Content«-Fraß in ihren Tolinos und Kindles bunkern und dann dank und trotz dieser Fettschicht aus Text immer weniger lesen und immer unbeweglicher werden. Sie sind schon satt, bevor sie ihre müden Lider öffnen. Und eines Tages, wahrscheinlich jetzt schon, ekelt es sie vor dem Textfett und ekelt es sie vor sich selbst.
So wenig wir die Welternährungsprobleme mit synthetischer Nahrung und Fast food lösen werden, so wenig werden wir die Weltintelligenzprobleme mit digitalem »Content« lösen. Wie alles Synthetische kommt der digitale »Content« scheinbar billig daher, und wie alles Synthetische wird er uns teuer zu stehen kommen.
[Abb. 5: Ernährungsumstellung. Martin Luther: Werke, Bd. 4 (1552). Photographie von Soenke Rahn. Quelle: Wikipedia]
Machen wir es daher wie in der guten Küche: Fragen wir die guten
Köche Autoren, in welche Richtung sie ihre Werke gerne
veredelt sehen möchten. Überlassen wir uns der Expertise der
Fachleute, die wissen, wie ein Werk entsteht, und die wissen, was
man daraus machen kann. Und machen wir einen Bogen um all die
Synthetik-Junkies, Fast-food-Vertreter und
Preßfleisch-Lieferanten, die an den Bibliotheksecken stehen und
uns einreden wollen, sie hätten den billigen und schmackhaften
geistigen Instantmix für alle.