Die Dreisten

Geschrieben von Uwe Jochum am 7.1.2018

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Uwe Jochum

Wissenschaftlicher Bibliothekar

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Es gibt einen guten Brauch besonders in der amerikanischen Philosophie. Dort erscheinen gerne Sammelbände zum Werk eines noch lebenden Philosophen, die folgende Aufteilung aufweisen: Zunächst stellt der Philosoph in verschiedenen Artikeln die ihm wichtigen Aspekte seines Werks vor; darauf folgen dann aus der Feder anderer Philosophen kritische Artikel zu diesen Aspekten; und zum Schluß erhält der Philosoph Gelegenheit, auf diese Kritik in einem weiteren Artikel zu replizieren. Man kann sich auf diese Weise einen guten Überblick über das Werk des Philosophen verschaffen und über das, was es daran möglichwerweise zu kritisieren gibt. Das schließt offenbar von ferne an die mittelalterlichen Summen an, die das zu behandelnde Material in Artikeln organisierten, in denen zunächst das Pro und Contra zu einem Sachverhalt dadurch angegeben wurde, daß man die kanonischen Meinungen der kanonischen Autoren knapp präsentierte; sodann legte der die Summe verfassende Philosophentheologe seine eigene Meinung zu dem Problem dar (im corpus genannten Abschnitt des Artikels); und im Schlußabschnitt des jeweiligen Artikels wurde dann das einleitende Pro und Contra wiederaufgenommen und auf der Basis der eigenen Darstellung durch den Philosophentheologen minutiös widerlegt oder bestätigt. Wer will, kann die Summa theologiae des Thomas von Aquino zu Hand nehmen und sich das einmal anschauen. Die Summen nehmen damit den Brauch der mittelalterlichen Universitäten auf, in einer disputatio das Pro und Contra verschiedener Fragen (quaestiones) öffentlich zu diskutieren und im Wettkampf der Argumente eine Entscheidung herbeizuführen.

Drawing[Abb. 1: Seite aus der Summa theologiae, pars secunda, primus liber, gedruckt in Mainz von Peter Schöffer, 1471. Quelle: Wikimedia Commons (gemeinfrei).]

Diese schöne Welt, in der es nicht nur um den öffentlichen Austausch von Argumenten geht, sondern vor allem auch um ihre nachvollziehbare Gewichtung — diese schöne Welt ist nicht die Welt, in der die »Open-Access«-Bewegung zu Hause ist. Ihre Welt ist eine Welt der Filterblasen und des marketinghörigen Verlautbarens, in der der Gegner des eigenen Standpunktes nicht als Disputationspartner vorkommt, sondern nur als eine Art wegzuerklärender und wegzuschreibender Störfaktor.

Man kann diese unschöne Logik auf dem offiziellen Blog der UB Leipzig beobachten. Dort wurde am 21. Dezember 2017 ein Beitrag veröffentlicht, der auf eine Podiumsdiskussion zum Thema »Geisteswissenschaften und elektronisches Publizieren« eingeht, die am 7. Dezember 2017 stattfand. Zu der Podiumsdiskussion hatte der Studentenrat der Universität Leipzig Roland Reuß als bekannten Kritiker von »Open Access« und Ulrich Johannes Schneider als Direktor der UB Leipzig und damit als Verteidiger von »Open Access« eingeladen; zwei Mitglieder des Studentenrates (Nils Fandrei, Joachim Rautenberg) saßen mit auf dem Podium, als Mitdiskutierende und als Moderatoren. Der Blog-Beitrag nennt sich im Titel »Open-Access-Kritik im Faktencheck« und beansprucht damit, die in der Podiumsdiskussion vorgebrachte Kritik auf ihre Faktenhaltigkeit zu prüfen. Da auf der Veranstaltung nur ein »Open-Access«-Kritiker aufgetreten war, heißt das, der Faktencheck dient der Prüfung der von Roland Reuß vorgebrachten Argumente, nicht aber der Selbstprüfung der Pro-»Open-Access«-Seite, die vielmehr in diesem Blog sich in einem Rollentausch versucht: Was auf der öffentlichen Podiumsdiskussion ein gleichgewichtetes Pro (Schneider) und Contra (Reuß) war, über dessen Gehalt das anwesende Publikum zu befinden hatte, wird nun nachträglich von der Pro-Seite zu einem Urteilsspruch der Pro- über die Contra-Seite umfunktioniert. Und dazu mobilisiert man das, was auf der »Open-Access«-Seite dank bereitgestellter öffentlicher Gelder so reichlich vorhanden ist: Personal und Infrastruktur, in diesem Fall also den offiziellen Blog der UB Leipzig, öffentlich verantwortet von der Pressestelle der Universitätsbibliothek und mit einer fünfköpfigen Redaktion ausgestattet, deren eines Mitglied, Katrin Sturm, sich mit zwei Mitarbeitern des an der UB Leipzig beheimateten »Open Science Office« zusammentat, um den besagten Blog-Beitrag zu verfassen.

Redaktionsteam [Abb. 2: Das Redaktionsteam von ubl. Quelle: Website der UB Leipzig]

Was verblüfft, ist die Dreistigkeit, mit der man hier vorgeht: Hier wird aus einem im prinzipiell demokratischen Kontext einer öffentlichen Podiumsdiskussion geführten Streitgespräch der Versuch der Wissenschaftsbürokratie, einen unliebsamen Kontrahenten wenigstens dadurch doch noch zurechtzustutzen, daß man nachkartet. Man tut das öffentlich, aber dieses »Öffentlich« ist von anderer Qualität als das Öffentliche der Podiumsdiskussion: Es ist eine medial inszenierte und von der Bürokratie vollkommen kontrollierte Öffentlichkeit, deren Zweck eben nicht der entscheidungsfähige freie Austausch von Argumenten ist, sondern das für alle sichtbare argumentative Nachkarten, das auch dann noch Recht behalten will, wenn man im öffentlich-demokratischen Meinungsaustausch kein Recht bekam.

Daß so ein Verhalten nicht aus einer Position der Stärke erwächst, liegt auf der Hand. Wer ein ganzes »Open Science Office« mit vier Personalstellen, einen Blog mit fünf Redakteurinnen und endlich einen von drei Autoren verfaßten Beitrag für den Versuch aktivieren muß, die öffentlich vorgebrachten Argumente bloß einer Person in die Schranken zu weisen, ist nicht weit davon entfernt, sich öffentlich lächerlich zu machen. Und das wird nicht besser, wenn man sich den Blog genauer anschaut.

So heißt es gleich zu Anfang:

Faktencheck [Abb. 3: So beginnt der »Faktencheck« auf ubl. Quelle: Website der UB Leipzig]

Will sagen: Ulrich Schneider hat keine Thesen vertreten und Befürchtungen geäußert, die der »Faktencheck« kritisch zu nehmen hätte. Das ist für Ulrich Schneider und seine Mitarbeiter, eben auch die hier schreibenden Blogger, sehr beruhigend. Und beruhigender ist noch viel mehr, daß das, was es an Argumenten gegen »Open Access« gibt, zumeist den einfachen Status eines »Mißverständnisses« oder einer »verkürzenden Verallgemeinerung« haben soll, weshalb der »Faktencheck« sich an die Arbeit machen darf, das zu korrigieren. Und wie sieht diese Korrektur dann aus?

Sie beginnt mit einer langen Erörterung der Lizenzierung von E-Books. Die auf dem Podium anwesenden Studenten hatten danach gefragt, weil ihnen ganz offensichtlich bewußt war, daß es sich bei solchen Lizenzen nicht um Käufe (mit Eigentumsübergang) handelt, sondern um das, was der Name »Lizenz« sagt: um einen vertraglich vereinbarten befristeten oder dauerhaften (gleich mehr dazu) Zugriff auf Datensätze, die sich in der Regel auf den Volltextservern der Lizenzgeber befinden. Mit anderen Worten: Die Universitätsbibliotheken, die sich auf solche Lizenzverträge einlassen (und es sind inzwischen alle), erwerben damit kein Eigentum an den Daten, sondern nur ein Nutzungsrecht. Punkt. Faktisch richtig. Unsere Leipziger Blogger machen daraus dies:

Faktencheck [Abb. 4: Der »Faktencheck« zum Thema »Lizenzen«. Quelle: Website der UB Leipzig]

Ich habe das mehrfach gelesen, aber nicht mehr gefunden als dies: 1. Roland Reuß, der sich seit Jahren kritisch auch zu den Lizenzierungen geäußert hat, hat zusammen mit den fragenden Studenten den Lizenz-Nagel auf den Kopf getroffen. 2. Wir Leipziger Blogger wollen aber nicht über Lizenzen sprechen, sondern möchten weiterhin von »Käufen« in Anführungszeichen reden, auch wenn wir wissen, daß hier nichts »erworben« und »letztlich eine Lizenz abgeschlossen« wird. Und warum tun unsere Blogger das? Sie tun es, weil es eine unschöne Erkenntnis für die Öffentlichkeit wäre, daß die staatlichen Bibliotheken sich für Millionenbeträge an die digitalen Nabelschnüre der Volltextanbieter und Großverlage hängen, die sie doch stets zu bekämpfen vorgeben, gerade auch durch »Open Access«. Man kann nicht sagen, daß der »Faktencheck« dieses Faktenthema elegant und erschöpfend behandelt. Er läßt es einfach weg.

Und er läßt damit natürlich auch die eigentlich interessante Frage weg, was mit solchen lizenzierten Daten passiert, wenn wir politisch und technisch einmal in schwierigere Zeiten kommen: Wenn einer der digitalen Großanbieter pleite macht und seine Server nicht mehr betreiben kann? Wenn ein Staat die digitalen Grenzen schließt? Wenn ein großflächiger Stromausfall ganze Volltextjahrgänge verschwinden läßt und auch die Spiegelserver nicht mehr laufen? Wenn irgendein Bug irgendwas tut, was sich niemand hätte träumen lassen? Wir haben ja, so sagen uns die Leipziger Blogger, »unbegrenzten Zugriff« auf dieses lizenzierte Material; wir erwerben, so sagen uns die Blogger, natürlich auch die »Archivrechte« an solchem digitalen Material; und nur bei den Datenbanken ist das wirklich schwierig, sagen uns die Blogger. Ach Gott, möchte man nach Leipzig rufen: In allen diesen Lizenzen stecken soviele technisch-politische Mucken, daß keine Leipziger Fliegenklatsche ausreicht, die Mucken zu vertreiben. Es sind Mucken, die jede Rede vom »dauerhaften Zugriff« auf solches Material Lügen strafen.

Und dann werden unsere Freunde aus Leipzig auch noch zu Humoristen. Sie schreiben:

Faktencheck [Abb. 5: Der »Faktencheck« zum Thema »Zwang zu ›Open Access‹«. Quelle: Website der UB Leipzig]

Offenbar hat man trotz der hervorragenden Personalausstattung in Sachsen nicht das Personal oder hat dieses nicht die Zeit, die Vorgänge wahrzunehmen, die sich seit Monaten in Baden-Württemberg abspielen. Dort hat das einschlägige Hochschulgesetz für alle sichtbar auf Zwang umgestellt, und die Sache liegt inzwischen beim Bundesverfassungsgericht, wie man ganz offiziell auf der Website des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg nachlesen kann. Daß die Förschungsförderer in dieser Sache juristisch (noch) zurückhaltender formulieren, verdankt sich nun aber keineswegs der besseren Einsicht der Forschungsförderer, sondern schlicht dem Umstand, daß man dort auch über andere als rüde-juristische Mittel verfügt, durchzusetzen, was man durchgesetzt haben will. Die Debatte zu dieser Frage läuft seit Jahren, und seit Jahren sollte klar sein, daß der Zwang bei »Open Access« kein juristischer Unfall ist, sondern von Anfang an von den Erfindern und dann den Forschungsförderern gewollt war und immer wieder sichtbar wurde, zuletzt mit größtmöglicher Deutlichkeit in Baden-Württemberg. An unseren faktencheckenden Freunden aus Leipzig ging das alles vorbei. Ich verstehe das: Auf einer »Open-Access«-Projektstelle lebt es sich angenehmer, wenn man vor all dem Unangenehmen, das mit »Open Access« und dem Zweitveröffentlichungs»recht« verbunden ist, einfach die Augen schließt.

Ich spare mir den Rest des Blogs: Daß es keinen Interessenkonflikt zwischen Bibliotheken und (wissenschaftlichen) Autoren geben soll, wie unsere Blogger meinen, daß der Deutsche Bibliotheksverband sich namens der Bibliotheken vielmehr für die Belange der wissenschaftlichen Autoren eingesetzt habe, daß auch bei »Open Access« die Verlage Partner der Bibliotheken blieben — alles das steht in dem Blog, hat aber mit den bekannten Fakten rein gar nichts zu tun, sondern gehört in das große Kapitel des öffentlichen Flunkerns.

Demnach ist klar, was man in Leipzig zu erwarten hat, wenn man sich hilfesuchend an die hier bloggenden Mitarbeiter des »Open Science Office« wendet:

Faktencheck [Abb. 6: Der »Faktencheck« wirbt zum Schluß ganz offen für »Open-Access«. Quelle: Website der UB Leipzig]

Man hat »Open-Access«-Aktivisten zu erwarten, deren Wirklichkeitswahrnehmung man nicht unbedingt für vollständig halten wird, deren institutionelle Anbindung dafür freilich hervorragend genannt werden darf und die hier wirklich alles nur Erdenkliche getan haben, um sich eine Verlängerung ihrer »Open-Access«-Projektstellen zu erschreiben. Daß sie mit der Kultur des öffentlichen Austauschs von Argumenten und dem Respekt vor dem Kontrahenten das eine oder andere Problem zu haben scheinen und lieber das tun, was sich so leicht tun läßt — institutionell mit den Wölfen heulen, dreist nachkarten —, ach Gott, das wollen wir ihnen nachsehen. Sie sind ja jung, sie brauchen das Geld.

Open Science
Office [Abb. 7: Das Team vom »Open Science Office« in Leipzig. Quelle: Website der UB Leipzig]