Kurvendiskussion

Geschrieben von Uwe Jochum am 13.8.2018

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σύνταξις | XII | syntaxis


Uwe Jochum

Wissenschaftlicher Bibliothekar

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Wir haben uns daran gewöhnt, den Erfolg schon alleine optisch für eine einfache Sache zu halten. Sobald wir auf einem Schaubild sehen, wie die Kurve einer Statistik von links unten nach rechts oben führt oder die Balken einer Graphik von links nach rechts immer höher werden, gehen wir davon aus, daß es um die Sache, die sich da zeigt, bestens steht. Das mag dann der Börsenkurs einer Aktie, der Absatz einer Automarke, die Anzahl der nach einer Fertilitätsbehandlung schwanger gewordenen Frauen, der Konsum einer Biersorte oder der Verkauf von Smartphones sein: die steil steigenden Kurven und deutlich höher werdenden Balken markieren ein erfolgreiches Wachstum.

Wachstum [Abb. 1: Wachstum. Quelle: Pixabay.]

Hinzu kommt, daß wir seit der Aufklärung darauf trainiert wurden, solche quantitativen Zuwächse ins Moralische zu verlängern und ein Mehr für ein Besser zu halten: Ein längeres Lebensalter, eine Zunahme des Größenwachstums oder des Intelligenzquotienten sind für uns gleichbedeutend mit einem Mehr an gutem Menschsein; und dieses gute Mehr führte uns — wenn man es auf die lange Zeitachse der Humanentwicklung überträgt — ganz selbstverständlich vom Zustand des Affen zum Zustand des wahren Menschen. Freilich meinen unsere kalifornischen Freunde in den Denkfabriken der Digitalindustrie längst, man könne und müsse die Wachstumskurve des Humanen über den Menschen hinausführen in eine Zone jenseits des biologischen Jetztmenschen. Für sie stellt sich daher die Frage des Mehr an Humanem so, daß die Antwort auf eine Abkehr vom Homo sapiens hinausläuft; am Ende der Geschichte steht, so meinen sie, irgendetwas mensch-maschinell Hybrides oder gar die finale Überwindung des Menschen in Richtung auf einen reinen Geist, der in digitaltechnischen Systemen auf immer und ewig und ganz ohne Leib zirkulieren soll.

Drawing[Abb. 2: Fortschritt. Quelle: Wikimedia Commons, Public Domain.]

So ist das also mit dem Wachstum und dem Fortschritt: Wir denken sie als einen im Gleichschritt ablaufenden Gesamtprozeß und verschwenden keinen Gedanken darauf, daß Prozesse, die im Gleichschritt stattfinden, verdächtig sind. Denn der Gleichschritt ist, genau besehen, die Gangart des Militärs; und daß diese Gangart etwas mit Fortschritt zu tun haben könnte, wäre höchstens von einem hartgesottenen Nietzscheaner und Futuristen zu behaupten, der das destruktive Potential von Krieg und Zerstörung für einen Reinigungsprozeß hält, der die wahre Substanz einer Sache von störenden Schlacken befreit. Solche nietzscheanischen Futuristen sind selten geworden, nachdem die letzten Regime, die auf Gleichschritt setzten, zuletzt nicht im schlackelosen Glanz des Fortschritts erstrahlten, sondern in einer katastrophalen Zerstörungsorgie untergingen.

Drawing[Abb. 3: Gleichschritt. Quelle: Staff Sgt. D. Myles Cullen (USAF) [Public domain], via Wikimedia Commons.]

Solche nietzscheanischen Futuristen sind selten geworden? Nicht — natürlich nicht — wenn sie von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) Projektmittel erhalten, mit deren Hilfe sie das wissenschaftliche Publikationssystem schlackenfrei machen sollen. Dann wird nicht nur vielstimmig das wohleinstudierte Lied von Wachstum und Fortschritt gesungen, sondern dann wird auch eine »Disruption« angekündigt, die sich von der Zerstörung der bekannten wissenschaftlichen Publikationsverhältnisse ein neues Publikationssystem erhofft, das wie ein Phönix aus der Asche sich aus den Trümmern des Zerstörten erheben soll.

Freilich kommt dieser Wissenschaftsphönix namens »Open Access« inzwischen reichlich flügellahm daher. Denn die beiden Grundversprechen, mit denen man ihn hochgepäppelt hat — daß das wissenschaftliche Publizieren billiger und daß es leichter/zwangsfreier/demokratischer werde —, haben sich längst als falsch herausgestellt. Aber das ist für unsere DFG-finanzierten Publikationsfuturisten kein Grund, die Sache zu überdenken und dann auch sein zu lassen. Ganz im Gegenteil: Die Tatsache, daß die »Open-Access«-Statistiken ein schönes Wachstum an »Open-Access«-Veröffentlichungen ausweisen, ist für alle, die sich begeistert zur »Open-Access-Community« zählen, völlig ausreichend, um vom Wachstum auf den Fortschritt zu schließen und im gewohnten Gleichschritt weiterzumaschieren. Prinzipielle Bedenken lassen sich auf diese Weise einfach »disruptiv« überrennen, das merkt der in der »Open-Access«-Phalanx Mitlaufende noch nicht einmal.

Denn was sind schon Bedenken, was ist schon ein kritisches Argument gegenüber einer Statistik, die das Wachstum so schön ins Bild setzt, daß der Fortschritt ins Auge springt. Beispielsweise so:

Wachstum [Abb. 4: Weltweites Wachstum von reinem »Open Access«. Quelle: Uwe Jochum unter Verwendung von Daten aus OpenAPC, Stand August 2018.]

Zeigt diese Wachstums- und Fortschrittsgraphik nicht aufs allerschönste, wie sehr die reinen (also nicht-hybriden) »Open-Access«-Veröffentlichungen weltweit zunehmen? Ja, natürlich zeigt sie das. Und wem solche Wachstumskurven gefallen, der mag sich darüber freuen, daß »Open Access« auch in Deutschland wächst: Auch hierzulande werden jedes Jahr mehr »Open-Access«-Artikel veröffentlicht, wenngleich die deutsche Wachstumskurve deutlich flacher ist als die globale, die deutsche Kurve an der globalen aber in stolzer Weise ein Drittel an Veröffentlichungsmasse beiträgt:

Wachstum [Abb. 5: Deutschlandweites Wachstum von »Open Access«. Quelle: Uwe Jochum unter Verwendung von Daten aus OpenAPC, Stand August 2018.]

Statistikfreunden wird natürlich aufgefallen sein, daß die weltweite Wachstumskurve nur bis zum Jahr 2016 reicht, die deutsche aber bis 2017. Das erklärt sich leicht: OpenAPC ist so etwas wie eine dynamische Statistik; ständig wird nachgetragen, umgebucht und ausgetragen; und so kommt es, daß man die Erhebung oder jedenfalls Verzeichnung der weltweiten »Open-Access«-Wachstumsdaten für das Jahr 2017 im August 2018 noch nicht beendet hat, weshalb ich nur die halbwegs verläßlichen Erhebungsdaten bis 2016 in eine Graphik gebracht habe. Unter Berücksichtigung des Jahres 2017 sähe die weltweite »Open-Access«-Wachstumskurve derzeit nämlich so aus:

Wachstum [Abb. 6: Weltweites Wachstum von »Open Access« inkl. des Jahres 2017. Quelle: Uwe Jochum unter Verwendung von Daten aus OpenAPC, Stand August 2018.]

Das ist natürlich eine ganz unschöne Graphik, denn sie zeigt einen Knick nach unten, und solche Knicks sagen jedem Laien: Hier ist ein Trend gebrochen, hier geht es nicht mehr wachsend und fortschrittlich aufwärts, hier geht’s abwärts. Warten wir also, bis die »Open-Access«-Statistiker die Daten für 2017 nachgetragen haben werden, und dann schauen wir uns an, wie’s um den weltweiten »Open-Access«-Trend bestellt sein mag. So sagte ich mir und wollte die Sache auf sich beruhen lassen, als mein Blick auf die Veröffentlichungszahlen jener deutschen Universitätsbibliotheken fiel, die sich in den letzten Jahren in Sachen Förderung von »Open Access« sehr ehrgeizig, aber auch leider sehr kostensteigernd hervorgetan haben. Und dann habe ich das, was mir bemerkenswert schien, in eine kleine Graphik gepackt, damit jedermann sehen kann, wie es in Deutschland um das fortschrittliche Wachstum von »Open Access« bestellt ist:

Wachstum [Abb. 7: Wachstum von »Open Access« an ausgewählten deutschen wissenschaftlichen Bibliotheken. Quelle: Uwe Jochum unter Verwendung von Daten aus OpenAPC, Stand August 2018.]

Man sieht leicht, daß von einem einfachen und erfolgreichen Wachstumsprozeß von »Open Access« in Deutschland keine Rede sein kann. Denn zwar fügt sich der »Open-Access«-Vorreiter Göttingen noch ganz gut in das Wachstumsschema ein, jedenfalls dann, wenn man bereit ist, den Knick nach 2015 für einen temporären Ausreißer nach unten und den Anstieg im Jahr 2017 für eine Rückkehr zum Aufwärtstrend zu halten — und nicht für den Beginn einer Fluktuation um den erreichten Sättigungspunkt herum, der in Göttingen dann bei jährlich etwa 230 »Open-Access«-Publikationen liegen würde. Daß es einen solchen Sättigungspunkt gibt und er gerade bei den engagierten »Open-Access«-Institutionen bereits erreicht wurde, zeigen die Kurven für Bielefeld und Konstanz, die mit Göttingen ja soetwas wie das deutsche »Open-Access«-Dreigestirn bilden: Hier geht es nach einem Höhepunkt auf bescheidenem »Open-Access«-Publikationsvolumen seit 2015 bergab. Das gilt erst recht und am deutlichsten für die deutsche »Open-Access«-Vorzeigeeinrichtung par excellence, die Max Planck Digital Library (MPDL) in München, die sich, siehe oben, im Jahr 2015 mit der Forderung nach einer »disruptiven« Globaltransformation hin zu »Open Access« ja ganz besonders weit aus dem Fenster gelehnt hat. Nun zeigt die einfache Statistikkurve, daß zu dem Zeitpunkt, als die Verantwortlichen der MPDL mit dieser Forderung an die Öffentlichkeit ging, den Disruptoren in spe schon längst hätte dämmern sollen und müssen, daß nicht einmal die eigene Institution sich auf einem »Open-Access«-Wachstumspfad bewegt. Ganz im Gegenteil ist der langjährige Abwärtstrend, seit 2015 in beschleunigter Form, gar nicht zu übersehen, so daß ich sagen würde: Ein schöneres Beispiel für die Widerlegung der Ideologie durch die Wirklichkeit habe ich seit Jahren nicht mehr gesehen. Wenn etwas eine »Disruption« genannt werden darf, dann das.

Und auch für die weniger um Aufmerksamkeit bemühten Einrichtungen, die bisher nicht sonderlich auffällig in Sachen »Open Access« geworden sind, aber halt mitmachen — für sie stehen in meiner Graphik Regensburg und Bremen —, sieht es alles andere als nach einem erfolgreichen »Open-Access«-Trend aus. Nur Bremen zeigt ein flaches Wachstum, Regensburg wohl eher eine Fluktuation um den Sättigungspunkt, so daß es sich empfiehlt, das leichte Bremer Wachstum im Insgesamt der »Open-Access«-Zahlen nicht für den Strohhalm zu halten, an dem die »Open-Access«-Bewegung sich festhalten kann. Bei dem geringen »Open-Access«-Publikationsniveau dieser Einrichtungen genügt schon eine leichte und durch Sondereinflüsse bedingte Erhöhung der Veröffentlichungszahlen, um die Kurve anzuheben.

Wer nun meint, daß Deutschland dann eben größere Anstrengungen unternehmen müsse, um in Sachen »Open Access« nicht zurückzufallen, der sollte sich einmal anschauen, wie die Zahlen für einige international bekannte »Open-Access«-Befürwortungsinstitutionen aussehen:

Wachstum [Abb. 8: Wachstum von »Open Access« an ausgewählten internationalen Institutionen. Quelle: Uwe Jochum unter Verwendung von Daten aus OpenAPC, Stand August 2018.]

Da wäre einmal die Wachstumskurve für das University College London (UCL): Nachdem man dort bis 2013 die Hände in den Schoß gelegt hatte, will man seither durch exorbitantes Wachstum — und das heißt bei »Open Access« ja nichts anderes als Steigerung der direkten Subventionen — offenbar dokumentieren, wie sehr man beim Fortschritt durch »Open Access« mittut, auch wenn man dann doch nicht so sehr mittut, daß man im Sommer 2018 die Zahlen für 2017 beisammen hätte (das haben, wie man sieht, bis dato auch der Wellcome Trust und die University of Cambridge nicht geschafft). Es ist schon eine merkwürdige Sache, daß eine wissenschaftliche Einrichtung, die sich auf ihrer Website damit brüstet, weltweit im Universitätsranking auf Platz 10 zu stehen, nicht einmal in der Lage ist, ihr Zahlenwerk auf dem neuesten Stand zu halten. Aber sei’s drum.

Wichtiger ist, daß ausgerechnet der britische Wellcome Trust, der sich viel lauter als das UCL für eine digitale Wissenschaft und dann natürlich auch für »Open Access« ausgesprochen hat, ebenjene Verhältnisse zeigt, die wir oben für Deutschland gesehen haben: keine (steile) Erfolgskurve, sondern ein Auf und Ab, das auf eine Fluktuation um den Sättigungspunkt hindeutet. Anders verhält es sich für den Österreichischen Wissenschaftsfonds (FWF). Die leichte Wachstumskurve, die man dort zu verzeichnen hat, dürfte sich der »Open-Access-Policy« des FWF verdanken, die alle Geförderten dazu verpflichtet, ihre Forschungsergebnisse per »Open Access« zu veröffentlichen. Die leicht ansteigende FWF-Kurve verdankt sich daher keiner steigenden Attraktivität von »Open Access« im schönen Österreich, sondern einer rigiden wissenschaftlichen Zwangswirtschaft. Ohne Zwang dürfte es à la longue eher wie in der Leibniz Gemeinschaft aussehen, wo der Leibniz Fonds zur Förderung von »Open Access« nicht nur spät in die Gänge kam, sondern auch bei niedrigen Veröffentlichungszahlen — sie entsprechen auffälliger Weise den niedrigen absoluten Zahlen der kleineren Universitätsbibliotheken — vor sich hindümpelt. Nur die Universität Cambridge und die TU München fallen mit kontinuierlichem Wachstum aus dem Rahmen. Aber wie sagt man so schön: Solche muß es halt auch geben. Einen Trend repräsentieren sie jedenfalls nicht.

Denn einen Trend hin zu »Open Access« gibt es schlicht und einfach nicht, weder in Deutschland noch weltweit. Was es gibt, ist eine Ausweitung von »Open Access« auf immer mehr Institutionen bei gleichzeitigem »Open-Access«-Publikationsrückgang an der einzelnen Einrichtung. Nur aus der Vogelperspektive des Globalen sieht das dann nach Wachstum und Fortschritt aus; sobald man die Optik aber auf lokale Schärfe stellt, zeigt sich Stagnation und Niedergang. Vergleicht man dieses einfache Resultat mit all dem finanziellen Aufwand, der über viele Jahre in die »Open-Access«-Sache gesteckt wurde — die direkten Fördermillionen für Publikationen, die indirekten Fördermillionen für Projektstellen —, muß man zu dem einfachen Schluß kommen: »Open Access« ist gescheitert.

Drawing[Abb. 9: Gescheiterter Fortschritt. Quelle: von Willy Stöwer [Public domain], via Wikimedia Commons.]