Einstein schreibt nicht mehr

Geschrieben von Uwe Jochum am 8.9.2019

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Uwe Jochum

Wissenschaftlicher Bibliothekar

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Zu den schönsten Versprechungen der »digitalen Transformation«, die man in den wissenschaftlichen Bibliotheken vor dem Hintergrund umfassender Planungen durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die »Allianz der Wissenschaftsorganisationen« umzusetzen versucht, gehört die Öffnung der Wissenschaft für alle interessierten Laien. Jeder könne bald, wenn nur endlich alles digital transformiert wäre, seinen heimischen Computer anwerfen und sich entgeltfrei übers Internet — mit einem kleinen Umweg über die Server der Universitätsbibliotheken — jeden beliebigen wissenschaftlichen Aufsatz in digitaler Version besorgen.

Das ist die Theorie. Aber sie ist wie immer und so auch hier reichlich grau. Denn faktisch — also auf der Ebene der realen Welt mit ihren realen Ökonomien und realen juristischen Regelungen inklusive der realen Menschen mit ihren realen Absichten und Ängsten —, faktisch führt die »digitale Transformation« nicht zu einer bunten Öffnung von Wissenschaft, sondern zu ihrer nicht nur theoriegrauen, sondern sehr praktischen Abschließung nach draußen zur Welt jenseits der Wissenschaft.

Das liegt zunächst daran, daß die neuen Fachinformationsdienste, die man mit ihren schicken digitalen Angeboten anstelle der guten alten Sondersammelgebietsbibliotheken zu installieren begonnen hat, keineswegs für alle Interessierten zugänglich sind und sein werden, sondern nur für ausgesuchte Wissenschaftskreise. Wissenschaft, so lernen wir an dieser Stelle, ist in der digitalen Welt keineswegs eine Sache des freien Netzzugangs, vielmehr faltet sie sich in all ihren Spezialisierungen auf sich selbst zurück und wird zu einem autopoetischen System der Erzeugung von Wissenschaft für die Wissenschaft. Der interessierte Laie, der an diesem System als Rezipient partizipieren möchte, schaut in die tote Röhre.

Fernseher [Quelle: Pixabay.]

Und schon sind meine Freunde von der »Open-Access«-Bewegung zur Stelle und rufen frohgemut in die Runde, wie sehr man ebendeshalb »Open Access« brauche: Das sei die wirkliche Umstellung der Wissenschaft auf Freiheit und damit auch freien Zugang für alle, denn was unter »Open-Access«-Konditionen veröffentlicht werde, sei damit für alle Zeiten — gemeint ist: alle Zeiten, in denen die Digitaltechnik funktionieren wird — von jedermann aus dem Internet bequem und kostenlos und ohne juristischen Klamauk abrufbar und nutzbar, und das auch noch in fast jeder erdenklichen Nachnutzungsweise.

Aber auch hier verdankt sich der frohe Mut eher der freudigen Vorprägung durch eine Theorie, die zuletzt dann doch wieder bloß grau ist. Denn schaut man genauer hin, muß man erkennen, daß »Open Access« den Abschluß der Wissenschaft nach draußen, zur Welt hin, vollendet, indem sie nun auch die Produzenten, die nicht dem Wissenschaftssystem angehören, aus der Wissenschaft ausschließt.

Wie ich das meine? Nun, erzählen wir eine wahre Geschichte, die für viele andere wahre Geschichten derselben Art steht.

Einstein [Quelle: Pixabay.]

Albert Einstein wurde 1879 in Ulm geboren, war also württembergisch-deutscher Staatsbürger. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts verchlug es ihn in die Schweiz, wo er nach Ablegung der Matura im Jahre 1896 mit dem Studium am Zürcher Polytechnikum begann, das er 1900 mit einem Diplom abschloß. Er wäre dort gerne Assistent geworden, wurde es aber nicht, sondern arbeitete zunächst als Hauslehrer in Winterthur, wurde 1901 Schweizer Staatsangehöriger mit dem Bürgerort Zürich und bekam 1902 eine feste Stelle am Patentamt in Bern. Als Angestellter des Patentamtes veröffentlichte er im Jahre 1905 in den Annalen der Physik eine Folge von heute berühmten Beiträgen, nämlich »Über einen die Erzeugung und Verwandlung des Lichts betreffenden heuristischen Gesichtspunkt«, »Über die von der molekularkinetischen Theorie der Wärme geforderte Bewegung von in ruhenden Flüssigkeiten suspendierten Teilchen«, »Zur Elektrodynamik bewegter Körper« und »Ist die Trägheit eines Körpers von seinem Energieinhalt abhängig?«, womit der Weg zur Relativitätstheorie gebahnt war. Trotz dieser Publikationen kam eine Habilitation an der Universität Bern zunächst nicht zustande, dann aber, im Jahre 1908, doch, und schließlich wurde Einstein 1909 Dozent an der Universität Zürich, 1911 Professor an der damals österreichischen Universität Prag, 1912 Professor in Zürich, 1914 Mitglied der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin und 1917 Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Physik ebenda.

Das ist, wie man leicht sieht, eine wissenschaftliche Karriere nicht ohne Hemmnisse; und es wäre, würde man die damaligen Ereignisse um einhundert Jahre in die Zukunft und also ins Heute drehen, eine Karriere, von der man sagen müßte, daß sie wahrscheinlich nicht stattgefunden hätte. Denn Einstein würde für seine vier bahnbrechenden Veröffentlichungen keine Publikationsmöglichkeit finden. Und zwar nicht deshalb, weil es heute keine Annalen der Physik mehr gibt, sondern deshalb, weil er daran gescheitert wäre und scheitern würde, die vier Veröffentlichungen zu finanzieren. Die Annalen sind nämlich seit dem Wiley-DEAL-Deal eine »hybride« Fachzeitschrift, die unter »Open-Access«-Konditionen steht, und das heißt, daß für jeden Aufsatz eine Veröffentlichungsgebühr von 2750 Euro fällig wird (siehe die von der Max Planck Digital Library bereitgestellte Liste hier). Für seine wissenschaftliche Karriere hätte Einstein also im Jahr 1905, das wir uns als heutiges Jahr denken, 11.000 Euro aufbringen müssen, um überhaupt veröffentlicht zu werden. Aber Einstein, der damals »technischer Experte 3. Klasse« beim Berner Patentamt war und kein Universitätsprofessor oder -assistent, hätte dazu auf keine Lehrstuhlmittel zurückgreifen können, er hätte keinen universitären und von einer Universitätsbibliothek verwalteten »Publikationsfonds« in Anspruch nehmen können, und als Bürger der Schweiz hätte er sicherlich damals bei der deutschen Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft und heute bei der Deutschen Forschungsgemeinschaft vergebens um eine finanzielle Unterstützung angefragt. Kurz, er hätte auf keine Transferzahlungen der Steuerzahler zurückgreifen können, sondern hätte die Publikationsgebühren aus seinen privaten Ersparnissen bezahlen müssen, wenn er welche gehabt hätte — oder er hätte den Traum von der Relativitätstheorie im Stillen und unpubliziert zu Ende träumen müssen und wäre als unbekannter technischer Experte des Patentamtes irgendwann in den Ruhestand gegangen. Die heroische Geschichtsschreibung der Physik, die von Genies und Durchbrüchen zu berichten weiß, wäre um ein Genie und einen Durchbruch ärmer; die Welt um einen frustrierten Privatphysiker reicher.

Normalität [Quelle: Bild von Gerd Altmann auf Pixabay.]

Natürlich: Ohne all die »Open-Access«-Subventionen der öffentlichen Hand wäre es für Einstein noch teurer gewesen, in den Annalen der Physik zu veröffentlichen, denn unsubventioniert werden dort 3150 Euro pro Artikel fällig. Aber es geht hier nicht um die Differenz zwischen dem unsubventionierten Listenpreis für eine Artikelpublikation in den Annalen und dem subventionierten Wiley-DEAL-Dealpreis. Es geht darum, daß das angeblich wissenschaftsfördernde »Open-Access«-Modell von seinen wissenschaftspolitischen Machern für eine Wissenschaft gedacht ist, die sich selbst nur als etablierten Normalbetrieb kennt, als einen Betrieb also, der in wohleingerichteten institutionellen Bahnen mit wohleingerichteten Karrierepfaden und wohleingerichteten Forschungsfeldern rattert und stampft und ebenjene Erkenntnisse am Fließband produziert, die vom politikgelenkten Normalbetrieb erwartet werden und »innovativ« nur im Rahmen dessen sind, was schon etabliert ist. Eine »innovative Veröffentlichung« zum Thema »Äther« hätte daher damals, zu Einsteins Zeiten, die wir uns als heutige Zeiten denken, eine ganz wunderbare Chance auf Veröffentlichung gehabt, wenn der Autor der Arbeit ein Universitätsprofessor oder -assistent mit Zugang zu einem universitären Publikationsfonds gewesen wäre: Dann hätte er aus eigener Tasche weder den Listenpreis noch den Rabattpreis bezahlen müssen, denn diese finanziellen Unannehmlichkeiten hätte das den Normalbetrieb finanzierende »Open-Access«-System ihm abgenommen.

Man kann sich leicht ausmalen, was die unter dem Signum von »Open Access« betriebene Abschließung der Wissenschaften insgesamt bedeuten wird. So wie Facebook kein »soziales Medium« ist, sondern Asozialitäten auf allen Ebenen fördert und auf die Gesellschaft insgesamt desaströs wirkt, so ist »Open Access« keine Öffnung und Befreiung von Wissenschaft, sondern ihre steuerfinanzierte Abschottung vor dem Unbekannten, Unerwarteten und Nichtetablierten und vor jenen produktiven Köpfen, die möglicherweise gerade deshalb produktiv sind, weil sie nicht zum etablierten Wissenschaftssystem gehören. »Open Access« ist in Wahrheit ein »Closed Access«. Und dies in der denkbar rigidesten Form: Erstens durch Errichtung einer produzentenbezogenen »Paywall«, die alle, die Wissenschaft außerhalb der staatlich alimentierten Institutionen betreiben und über keinen Zugriff auf Steuergelder verfügen, ausschließt; und zweitens durch die Fixierung auf einen alleine digitaltechnischen Zugang zu Wissenschaft, der es erlaubt, schon beim Anmelden der Publikation auf einer »Publikationsplattform« diejenigen, die zum etablierten Wissenschaftsystem gehören, von jenen zu unterscheiden, die nicht dazugehören und auf den Publikationsservern und in den digitalen Fachzeitschriften dann auch nichts verloren haben.

Nocheinmal: »Open Access« ist in Wahrheit ein System des »Closed Access«. Es fördert den etablierten wissenschaftlichen Normalbetrieb, den es durch eine administrative Paywall und viel Technik von den Zumutungen eines den Normalbetrieb störenden Um- und Neudenkens abschottet. »Einstein«, so könnten die wohletablierter Äther-Spezialisten aller Zeiten und Orte mit ihrem bequemen, weil steuerfinanzierten Zugang zum vollen technischen Publikationsinstrumentarium sagen, »Einstein — kenne ich nicht.« Und sie hätten recht und werden auf immer recht behalten. Denn wir reden hier von einem Wissenschaftssystem, in dem kein Einstein jemals geschrieben hat und kein Einstein jemals schreiben wird.

Einstein [Quelle: Pixabay. Bild von Branimir Lambaša auf Pixabay.]