Die »Allianz« und die Freiheit der Wissenschaft

Geschrieben von Uwe Jochum am 3.10.2019

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Uwe Jochum

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Alles begann im Jahre 2001 mit einer Tagung, die das von George Soros finanzierte »Open Society Institute« (OSI) in Budapest veranstaltete. Was man auf dieser Tagung wissenschaftspolitisch bewegen wollte, hielt man in einer Erklärung fest, die zum Grundstein der »Open-Access-Initiative« wurde und die man mit dem Datum des 14. Februar 2002 im Internet veröffentlichte. So läßt sich heute noch nachlesen, daß das OSI nicht nur die Veranstaltung ausgerichtet hat, sondern von den sechzehn Unterzeichnern der Erklärung alleine fünf dem OSI angehörten, weshalb der Schluß erlaubt sein wird, daß ohne das OSI es niemals eine »Open-Access«-Bewegung gegeben hätte. Man kann das positiv sehen, wenn man das Selbstmarketing des OSI für bare Münze hält. Denn danach dient das OSI, das sich inzwischen »Open Society Foundations« (OSF) nennt, »dem Aufbau pulsierender und inklusiver Demokratien, deren Regierungen ihren Bürgern verantwortlich sind«:

Wachstum [Quelle: Open Scociety Foundations.]

Merkwürdig daran war freilich von Anfang an, daß man die eigenen demokratischen Rechenschaftspflichten des OSI/OSF ganz klein schrieb und kein Problem damit hatte, den Aufbau einer pulsierenden Demokratie im Hinblick auf die Wissenschaften so zu bewerkstelligen, daß das fundamentale Recht der wissenschaftlichen Autoren an ihren Texten, also das geltende Urheberrecht, ausgehebelt werden sollte. Denn während ein Leser eines wissenschaftlichen Aufsatzes — und nur um Aufsätze ging es anfangs bei »Open Access« — mit diesem Aufsatz alles tun können sollte, was ihm so einfiele, und dieser läßliche Umgang mit Wissenschaft offenbar als demokratisch-pulsierend galt, sollten die Autoren hingegen sich damit zufrieden geben, irgendwie — aber wie nur? — über die Integrität ihres Werkes zu wachen und korrekt als Autoren genannt und korrekt zitiert zu werden: »The only constraint on reproduction and distribution, and the only role for copyright in this domain, should be to give authors control over the integrity of their work and the right to be properly acknowledged and cited.« (Der deutsche Text der Erklärung findet sich hier.)

Das war von Beginn an ein fundamentaler Angriff auf das in Europa und Deutschland verankerte Urheberrecht, das jedem Autor einräumt, selbst darüber zu bestimmen, ob und wie und wann sein Werk »verwertet« würde, und das hieß bis dahin: Ohne den Autor zu fragen durfte ein Leser oder »Verwerter« sich ein fremdes Werk nicht einfach nach eigenem Gusto »aneignen«. Denn man hatte einen starken Begriff davon, daß Urheber- und Eigentumsrecht zusammenhängen, weshalb die ungefragte Verwendung, Bearbeitung oder Vermischung eines Werkes mit anderen Werken stets klar als Diebstahl galt. Und Diebstahl ist deshalb so prekär, weil man, wenn man dem Menschen sein Eigentum nimmt, sehr schnell bei dem landet, was Hegel die »Entäußerung der Persönlichkeit« genannt hat: bei Sklaverei und Leibeigenschaft. Das ist bei einem einfachen Mundraub noch nicht recht zu sehen, bei einer vom Staat betriebenen Einschränkung des Urheberrechts aber sehr wohl. Denn ein solcher Urheberrechtsabbau ließe nur noch Autoren übrig, deren Rechte an ihren Werken null und nichtig wären, könnten sie sich doch gegen eine ihnen unangemessene Verwertung ihrer Werke nicht mehr wehren und könnten sie auch ihre auf dem Urheberrecht basierende ökonomische Unabhängigkeit — wie klein sie in der Wissenschaft auch immer sein mag — nicht länger mehr aufrechterhalten. Sie würden zurückfallen auf den Status direkt von Mäzenen abhängiger Aufsatzschreiber, seien diese Mäzene nun finanziell potente Einzelpersonen, Stiftungen oder eben der Staat.

Drawing[Quelle: Jan Matejko [Public domain], viaWikimedia Commons.]

Diese Perspektive hat auf seiten des OSI/OSF niemanden beschäftigt und erst recht niemanden beunruhigt. Man wollte eine Wende in der Nutzung wissenschaftlicher Aufsätze durch radikalen Abbau der Autorenrechte. Und man rannte dabei offene Türen bei einer ganzen Reihe staatlicher Akteure ein, die offenbar die einmalige Chance sahen, die Kosten von Wissenschaft dadurch zu reduzieren, daß die Wissenschaftsautoren finanziell und auch sonst nichts mehr zu melden hatten, dafür aber die Leser und vor allem die Bibliotheken in die Lage versetzt würden, die von anderen geschriebenen Wissenschaftstexte nach Belieben zu verwerten. Das war es, was man seither in diesem Kontext als »Freiheit« bezeichnete: Es war die maximale Freiheit der Rezipienten, die sich aus einer maximalen Unfreiheit der Produzenten spiegelbildlich ergab.

In Deutschland kulminierte das sehr rasch in der »Berliner Erklärung« aus dem Jahr 2003, die von allen bedeutenden und zu einer »Allianz« zusammengeschlossenen Wissenschaftsorganisationen unterzeichnet wurde — der Hochschulrektorenkonferenz, der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), der Max-Planck-Gesellschaft e tutti quanti bis hinunter zum Deutschen Bibliotheksverband. Die Erklärung macht schon im Titel klar, um was es geht: um den »offenen Zugang zu wissenschaftlichem Wissen« — und nicht um den Schutz der wissenschaftlichen Autoren, den Schutz ihrer Autorenrechte in der Dimension des historisch gewachsenen Urheberrechts. Man wollte jetzt »haben«, man zeigte öffentlich Gier, und man hatte ein gutes Gewissen dabei, denn Geiz war nicht nur damals geil, sondern obendrein perfekt damit legitimierbar, daß man die Freiheit vergrößerte: die Freiheit freilich nur der Leser und Nutzer, die ohne juristisches Gemäkel den Autoren nehmen durften, was diesen nun nicht mehr gehören sollte.

Drawing[Quelle: Pieter Bruegel der Ältere [Public domain], viaWikimedia Commons.]

Ein Ruhmesblatt der Wissenschaftsgeschichte war und ist das nicht, und es gehört zur Mentalitätsgeschichte der Bundesrepublik, daß die »Allianz« diesen wissenschaftspolitischen Sündenfall erster Güte nicht einmal bemerkte und, als der »Heidelberger Appell« fulminant Protest gegen die Aushebelung der Urheberrechte erhob, am 25. März 2009 ziemlich kontrafaktisch erklärte, man würde keineswegs in die Urheberrechte der Autoren eingreifen, sehr wohl aber »erwarten«, daß die von Steuermitteln finanzierten Wissenschaftsautoren ihre Werke über einen »einfachen Zugang« und für die öffentliche Hand kostengünstig dem interessierten Publikum mitteilten.

Was man halt so sagt, wenn man sich öffentlich legitimieren muß. Wie sich die schönen Worte indessen zu wissenschaftspolitischen Realität verhalten, kann man daran ablesen, daß der »Unterausschuß für elektronisches Publizieren« der Deutschen Forschungsgemeinschaft schon im Jahre 2005 — ganz unwidersprochen von den höheren Rängen der »Allianz« — ein Papier zum »Elektronischen Publizieren im wissenschaftlichen Alltag« veröffentlicht hatte, in dem er sich zwar am Ende gegen »›Top-down‹-Verordnungen« im Hinblick auf Publikationsvorgaben wendet, aber andererseits (auf S. 3) offen dafür plädierte, durch »externe Anreize« die Bereitschaft zum elektronischen Publizieren zu erhöhen, um etwas säuerlich festzustellen: »Hochschulleitungen, die am ehesten einen gewissen (institutionellen) Druck ausüben könnten, um Veränderungen in der Publikationskultur zu befördern, sind bislang allerdings eher zurückhaltend bei der aktiven Propagierung elektronischer Publikationen.« Was solche Sätze zusammen mit der von der »Allianz« formulierten »Erwartungshaltung« in einer Wissenschaftslandschaft bedeuten, die zu mehr als fünfzig Prozent von Projektförderungen lebt, die im wesentlichen von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert werden, muß man nicht erst umständlich erklären. Wir lesen hier schlicht eine Aufforderung zur Zurückhaltungsbeendigung und zur erwartungsvollen Druckerhöhung.

Daß man es mit dem elektronischen Publizieren und seiner breiten Durchsetzung als »Open Access« wirklich ernst meinte, zeigte sich nach der bei solchen Eingriffsprozessen notwendigen Reifezeit im Jahre 2015 angesichts der Novellierung des baden-württembergischen Hochschulgesetzes, das die Hochschulangehörigen durch Hochschulsatzungen darauf verpflichtet, ihre wissenschaftlichen Zeitschriftenveröffentlichungen nach Ablauf eines Jahres auf digitalen Repositorien zweitzuveröffentlichen (LHG Baden-Württemberg, § 44, Abs. 6). Als die Universität Konstanz als einzige Universität in Baden-Württemberg im Dezember 2015 diese Vorgabe auch wirklich in eine Satzung umgoß, erfolgte prompt eine Normenkontrollklage der Konstanzer Juristischen Fakultät. Der Mannheimer Verwaltungsgerichtshof hat inzwischen mit Beschluß vom 26. September 2017 festgestellt, daß die Konstanzer Satzung nach Auffassung des Gerichts verfassungswidrig ist, weshalb die Sache dem Bundesverfassungsgericht übergeben wurde und dort noch auf eine Entscheidung wartet.

Drawing[Quelle: Adolph von Menzel, Los Angeles County Museum of Art [Public domain], via Wikimedia Commons.]

Soweit kann man es also bringen, wenn man meint, das, was früher »Diebstahl« hieß, nunmehr von seiten der öffentlichen Hand und etikettenschwindelnd als »Freiheit« auf Biegen und Brechen durchsetzen zu müssen. Man kollidiert dann maximal mit den Freiheitsrechten, dem Eigentumsrecht, dem Urheberrecht und in Deutschland gar mit Artikel fünf des Grundgesetzes und der dort kodifizierten Wissenschaftsfreiheit als eines Widerstandsrechts gegen den Staat. Daß man das als »Allianz der Wissenschaftsorganisationen« tut, gibt der Sache ein zusätzliches manichäisches Geschmäckle: Man teilt dann die Welt in eine Allianz und in Rebellen, in Gute und Böse, und wird zunehmend zappelig, wenn es mit dem manichäischen Finaldurchbruch zur besten aller Wissenschaftswelten partout nicht klappen will und die ein ums andere Mal ausgerufenen initiativen Fünfjahrespläne einfach nicht fruchten. So wie es einfach nichts werden will mit der säkularen Disruption, die die Max Planck Digital Library im Jahre 2015 in einem »White Paper« verkündet hat, das weltweite Heil der vollkommen-totalen Digitaltransformation von Wissenschaft für das Jahr 2020 erwartend. Wir dürfen gespannt sein, auf welchen Berg die Münchener Digitalisten im Jahre 2020 steigen werden, um sich final verklären zu lassen.

Ich bleibe statt dessen lieber in der Ebene. Die ist unübersichtlich, voller dorniger Büsche und Gehölz; und wer meint, man könne und müsse darin mit der Axt um sich hauend schnell vorwärtskommen, der landet eher, als ihm lieb ist, wieder auf dem kleinen Dorfplatz, von dem er loszog bei dem Versuch, in einen Palast zu gelangen. So geht es derzeit offenbar der Deutschen Forschungsgemeinschaft, dem wichtigsten Mitglied der »Allianz«. Denn im gerade zurückliegenden September hat die DFG einen »Kodex« mit dem Titel »Leitlinien zur Sicherung guter wissenschaftlicher Praxis« veröffentlicht, in dem es auf Seite 18 sehr schön und vollkommen gendergerecht heißt: »Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler entscheiden in eigener Verantwortung – unter Berücksichtigung der Gepflogenheiten des betroffenen Fachgebiets –, ob, wie und wo sie ihre Ergebnisse öffentlich zugänglich machen.«1

Irrgarten aus
Paragraphen [Quelle: Bild von Reimund Bertrams auf Pixabay.]

Damit stehen wir nach Jahren der Auseinandersetzung um die von der »Open-Access«-Bewegung initiierte Aushebelung des Urheberrechts wieder da, wo wir ganz zu Anfang standen und wo Wissenschaft den besten und einzig möglichen aller Stände hat: Beim wissenschaftlichen Autor und seinen Rechten, zu denen natürlich auch Pflichten und eine Verantwortung gehört, die niemals strittig waren. Daß sich die DFG nun ihrerseits zu ihrer Verantwortung bekennt, die Autorschaft und das Urheberrecht der Wissenschaftler zu schützen und das in einem »Kodex« eigens festhält, läßt hoffen, daß dieser unerfreuliche und beunruhigend dunkle Holzweg der nicht nur deutschen Wissenschaftspolitik bald hinter uns liegen wird. Was nun noch fehlt, ist der Punkt, den das Bundesverfassungsgericht unter diese Sache setzen wird.

Anmerkung

  1. In Zeiten der Plagiatsprävention sei an dieser Stelle angemerkt, daß in einem Artikel in der Frankfurter Rundschau am 7. April 2009 auf S. 40 zu lesen stand, daß es zur Freiheit der Wissenschaft konstitutiv gehöre, »dass niemand — schon gar nicht der Staat und eine staatlich finanzierte Allianz von Wissenschaftsorganisationen — einem Wissenschaftler vorzuschreiben hat, ob und wie und wann und wo er seine Forschungen veröffentlichen soll.«