Es geht zu Ende

Geschrieben von Uwe Jochum am 25.1.2021

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Uwe Jochum

Wissenschaftlicher Bibliothekar

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Vor einem Jahr war zum erstenmal festzustellen, was es in einem wissenschaftlichen Konfliktfall konkret heißt, wenn die Kommunikation dieses gesellschaftlichen Teilsystems über digitale Großsysteme läuft. Alles kommt dann darauf an, wer die Herrschaft über das digitale System hat und von der Herrscherposition aus über die Zulassung oder Ausschließung der Diskutanten entscheiden kann. Was damals in statu nascendi beobachtet werden konnte, war das Wegkippen des wissenschaftlichen Publikationssystems in seiner digitalen Form und Ausgestaltung als »Open-Access«-Publikationssystem, das man sich bis dahin als ein neutrales Medium zur Förderung von Debatte und Aufklärung gedacht hatte, in ein System, das von seinen Herren gegen Systemabweichler in Stellung gebracht werden konnte. Konkret: Die Universität Stanford hatte einem ihrer Wissenschaftler die übliche finanzielle Unterstützung für die Publikation eines Fachaufsatzes in einer »Open-Access«-Zeitschrift versagt, und zwar, wie man annehmen muß, weil dieser Aufsatz die Berechnungsmodelle der Klimaprojektionen kritisch unter die Lupe genommen und zu dem Ergebnis gekommen war, daß aufgrund mathematischer Ungenauigkeiten die Klimamodelle schlicht nicht dazu taugten, über den Anteil des Menschen an der Erderwärmung etwas Valides auszusagen. Den Vorgang mag der eine oder andere vielleicht noch nicht als Zensur werten, weil der Wissenschaftler ja publizieren konnte, indem er die Veröffentlichungskosten schlicht aus eigener Tasche bestritt; aber es ist dennoch ein Vorgang, der auf der Linie eines Eingriffs ins Wissenschaftssystem liegt, auf einer Linie, bei der die Wissenschaftsherren den Wissenschaftsknechten vorgeben, nach welchem Takt sie zu arbeiten haben.

Drawing[Giovanni Battista Tiepolo, Public domain, via Wikimedia Commons.]

Heute, ein Jahr später, wissen wir, daß das, was damals im Wissenschaftssegment noch wie eine Petitesse aussah, sich in rasendem Tempo zu einem gesellschaftspolitischen Großphänomen ausgewachsen hat. Denn inzwischen beobachten wir überall, wie mittels kommunikativer Teilsysteme namens Twitter™, YouTube™, Facebook™, Instagram™, Google™ und Amazon™ (um nur die auffälligsten Akteure™ zu nennen) eine »Cancel Culture« und ein »Deplatforming« unliebsamer Meinungen gleich welcher Art und Güte durchgesetzt werden, indem man den Gegner — sei es ein politischer, ein wirtschaftlicher, ein wissenschaftlicher, ein religiöser oder sonst ein Gegner — ins kommunikative Nirvana befördert. Der Gegner hat, wenn es die Herren der Systeme so wollen, ab sofort öffentlich nichts mehr zu melden.

Dabei scheint auch die Machtfrage — jedenfalls in jenem Teil unseres Planeten, der sich »der Westen« nennt — vorerst entschieden: Die Macht haben die Konzernoligarchen und nicht die vom Volk gewählten Repräsentanten, und seien diese der Präsident der Vereinigten Staaten mit dem Stehvermögen eines Donald Trump. Ihm hat man nach einer Demonstration in Washington, in deren Verlauf Demonstranten in das Kapitol eindrangen — wofür man Trump verantwortlich macht —, im Januar 2021 die Benutzerkonten bei Facebook™ und Instagram™ zeitweise gesperrt, und Twitter™ hat aus der zeitweisen Sperrung eine dauerhafte Löschung gemacht: Trump und seine fast 90 Millionen Follower — sind futsch. Daß es dabei nicht um eine einzelne mißliebige Person, sondern um die mediale Ausschaltung einer ganzen politischen Richtung geht, haben die auf die Präsidentenlöschung folgenden Stunden und Tage gezeigt: Amazon™ hat dem in den Amazon Web Services™ gehosteten, bei Trump-Anhängern beliebten Messenger-Dienst Parler™ fristlos gekündigt, Google™ und Apple™ entfernten den Dienst aus ihren App-Stores. Hardvard-Absolventen, die in Verbindung mit Trump gebracht werden, sollen die akademischen Titel entzogen werden. Facebook™ schloß die Website von »Walkaway«, einer Plattform, auf der sich ehemalige Mitglieder der Demokratischen Partei organisiert und über ihre Gründe zum Verlassen der Partei öffentlich Auskunft gegeben hatten. Die Anwaltskammer von New York prüft derzeit, Rudy Giuliani, ehemaligen New Yorker Bürgermeister und Anwalt von Donald Trump, aus der Kammer auszuschließen. Und das sind nur jene Aktionen einer heißlaufenden »Cancel Culture«, die die Öffentlichkeit wahrnehmen konnte. Was daneben im Dunkelfeld derzeit geschieht, läßt sich nur vermuten.

Drawing[Peter Paul Rubens, Public domain, via Wikimedia Commons.]

Für das alles gibt es kein anderes Wort als »Internet-Putsch«. In ihm wenden sich die digitalkommunikativen Teilsysteme, die allesamt über keine demokratische Legitimation verfügen, direkt gegen das ihnen übergeordnete und durch demokratische Wahlen legitimierte politische System und setzen dort die von ihnen vertretene Agenda durch. Sie können das, weil das politische System für sein Funktionieren längst vom digitalkommunikativen Teilsystem abhängig ist, ohne das keine Stimmen mehr ausgezählt, kein Parteikandidat durchgesetzt und kein politisches Thema mehr »gemacht« werden kann. Und alles andere auch nicht: Telephonieren, Radio-Hören, Fernsehen, Briefe schreiben, Photographieren, einen Urlaub buchen, ein Buch lesen, einen Fachaufsatz veröffentlichen — nichts geht mehr ohne die genannten Trademark-Akteure, die das Volk mit immer mehr Bequemlichkeiten dazu verführen, immer unselbständiger zu werden. Wer sich in die digitale Blase begibt, den saugt die digitale Blase aus.

Das gilt auch für die Wissenschaft als gesellschaftliches Teilsystem, das unter dem Banner von »Open Access« zu einem volldigitalen Subsystem des planetaren Netzes werden soll. Dem von Klaus Schwab herbeigeredeten »Great Reset« entspricht in der kleinen Welt von Wissenschaft und Bibliotheken die »large-scale transformation to open access«, wie sie in Deutschland vor allem von der Max Planck Digital Library vorangetrieben wird. Beidemale, beim »Great Reset« wie bei der »large-scale transformation«, geht es als zentraler Punkt um die »Nullstellung« (reset) der bisherigen Systeme, seien es die wissenschaftlichen oder die ökonomischen oder die politischen, um danach noch einmal ganz neu und unbefleckt von den bisherigen Problemen anfangen zu können. Der Innovationstreiber dieses ganz Neuen soll dabei die Schaffung einer weltweiten digitalen Infrastruktur sein. Von ihr glaubt man, sie sei der Demokratie und der wirtschaftlichen Wohlfahrt förderlich, vor allem, wenn sie unter dem Aspekt einer Art globalen Auf- oder Wiederaufbaus betrachtet werde, bei dem es schlicht und ergreifend irgendwie »um alles« geht, wie ein unter restriktiven Lizenzbedingungen ansehbares Schaubild des »World Economic Forum« zeigt (auf das daher nur verlinkt sei).

Drawing[Adam Elsheimer, Public domain, via Wikimedia Commons.]

Während also die einen von einer Art digitaler Weltheilung träumen und herzige Bibliothekare zusammen mit naiven Wissenschaftlern (von denen manche nicht herzig und manche nicht naiv sind) nicht zuletzt dank großzügig fließender Fördermittel bereitwillig mitmachen, haben die anderen schon längst die digitalen Claims abgesteckt, um mit ihrer Ausbeute Geld zu verdienen und Macht auszuüben. Man kann nicht sagen, daß man das alles nicht sehen könnte, denn es findet vor aller Augen statt. Sehen freilich will man es nicht. Denn es würde das eigene Weltbild, wonach Trump ein übler Schurke und Biden ein strahlender Held, alles Konservative schlichtweg rechts oder »Nazi« und alles Digital-Disruptorische ebenso schlichtweg links ist, das eine also in den zivilisatorischen Untergang und das andere in das zukünftige Heil führt — es würde das eigene Weltbild als hochgradig dysfunktional entlarven, denn man müßte erkennen, daß das, was man zu sehen meint, nicht das ist, was wirklich zu sehen ist.

Man merkt das spätestens daran, wenn man schaut, was die Bibliothekare in diesen digitalen Putschzeiten untereinander zu besprechen haben, um sich und ihrem Umfeld Zeugnis zu geben von ihrem Standort in der Wirklichkeit. Man wird dann schnell bemerken, daß von dieser Wirklichkeit in all ihrer Komplexität keine Rede ist, wohl aber von all dem, was zum ideologischen Vorfeld von »Cancel Culture« und »Deplatforming«, von bibliothekarischer Diskuption und planetarer »Nullstellung« gehört. Als da sind die auch von den Bibliotheken zu betreibenden »nachhaltigen Entwicklungen« und natürlich die »Dekolonialisierung der Bibliotheken«, wobei man sich nun auch in diesen Einrichtungen dem »strukturellen Rassismus« zu stellen habe. Wenn man dann noch von »Demokratiearbeit« in den Bibliotheken liest, darf man sich nicht wundern, wenn das auf die Bearbeitung von Themen wie »Sexismus«, »Homophobie«, »Rassismus«, »Muslimfeindlichkeit«, »Antisemitismus«, »Querdenker * innen begegnen«, »Fake News« und »Hate Speech« zielt. Alles das ist möglicherweise gut gemeint, mit Sicherheit aber schlecht gedacht, und daher wird es genau dorthin führen, auch in Deutschland, wo man in den USA bereits ist: zu einer Durchsetzung digitaloligarchischer Superstrukturen. Die einzig offene Frage ist dann nicht mehr die, ob sich dank so vieler naiver und williger Mitmacher diese digitaloligarchischen Strukuren und Herren durchsetzen, sondern nur noch die, wie lange es dauert, bis die vermeintlich linken Bibliotheksrevolutionäre von den Digitaloligarchen gefressen werden. Und keine Frage mehr ist, welche Funktion »Open Access« bei all dem hat. Es ist das Trojanische Pferd, das man in unsere Wissenschaft geschoben hat. Dort steht es bei Anbruch der Nacht vor dem Tempel der Athene.

Drawing[Federico Barocci, Public domain, via Wikimedia Commons.]

Nachtrag

Die Zensur hat sich in den wenigen Tagen, seitdem ich das Vorstehende schrieb, enorm ausgeweitet. Hier nur als kleiner Nachtrag einige Artikel, die das, was in den letzten Tagen auf den Gebieten der Meinungs- und Wissenschaftszensur besonders auffällig war, zusammenfassen: