»Open Access« als Scheinblüte

Geschrieben von Uwe Jochum am 22.1.2022

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Uwe Jochum

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Das Interessante bei Reformationen, religiösen und politischen, ist ja, daß sie sich in kurzer Zeit aufzulösen beginnen. Dieser Auflösungsprozeß ist eine Doppelbewegung: Zum einen zerlegt sich die Reformationbewegung, die gegen einen übermächtigen Gegner antrat und diesen ablösen wollte, selbst und zerfällt in immer kleinere und immer rechtgläubigere Gruppierungen. Und zum andern beginnt dabei parallel auch jener Vorgang, der unter dem Motto »die Revolution frißt ihre Kinder« geschichtsbuchträchtig geworden ist. Beides hält natürlich die Reformierer nicht davon ab, es bei nächster historischer Gelegenheit erneut zu versuchen, immer wieder mit demselben vorhersehbaren Ergebnis.

Bei der europäischen Reformation ist das leicht zu rekonstruieren. Es begann mit dem Mönch Martin Luther in Wittenberg, setzte sich in Zürich unter Huldrych Zwingli mit anderem Akzent fort und ging dann in eine sich territorial rasch ausbreitende Bewegung über, die in der Ausbreitung sich zunehmend in verschiedene Richtungen aufspaltete: Calvin in Genf kam dazu und mit ihm der Versuch zur Errichtung einer antipäpstlichen Theokratie auf europäischem Boden, radikale Täufer wie Thomas Müntzer verlängerten die theologischen Spekulationen direkt ins Politische und versuchten, wie in Münster, die Macht zu übernehmen. Am Ende standen und stehen sich bis heute in Europa zwei große Konfessionsblöcke gegenüber, von denen der reformierte sich in zahllose Unterblöcke gliedert, deren Verhältnis untereinander durch zahlreiche Allianzen und ebenso zahlreiche Feindschaften gekennzeichnet ist.

Drawing[Wikimedia Commons]

Man kann das als Erfolg verbuchen, wenn man sich auf einer Karte die Konfessionsverteilung in Europa anschaut und aus der über Jahrhunderte hinweg recht stabilen kartographischen Farbverteilung auf die Stabilität des jeweiligen konfessionellen Raumes schließt. Man muß es aber doch wohl eher als einen Mißerfolg verbuchen, wenn man auf die innere Zersplitterung des reformierten Religionsraumes achtet, die rasch dazu führte, daß das Überleben der reformierten Kirchen davon abhing, daß sie sich mit den weltlichen Herrschern arrangierten und mit ihnen gemeinsame Sache machten: Sie sicherten den Herrschern durch eine geeignete Theologie die Herrschaft und wurden dafür mit Pfründen und der Teilhabe an der Macht belohnt. Das Ende vom Lied sind reformierte Staatskirchen, die ihr theologisches Fähnchen nach dem politischen Wind ausrichten und in Zeitläuften, da die Herrschaft zu ihrer Legitimation keine Theologie mehr benötigt, rasch an Bedeutung verlieren.

Man muß diesen historischen Prozeß in Erinnerung rufen, wenn man sich den Stand der Dinge bei »Open Access« anschaut. Was im Jahre 2002 mit der maßgeblich von George Soros initiierten »Budapest Open Access Initiative« so fulminant begann und rasch an Fahrt gewann, weil die politischen Akteure glaubten, mit »Open Access« ein in staatlicher Regie führbares und billigeres wissenschaftliches Publikationswesen zu bekommen, zeigt sich im Jahre 2022 als ein Flickenteppich von Initiativen, in denen das reformatorische Anliegen der Bewegung zu versanden beginnt. Denn anstelle einer organisatorisch geschlossenen Struktur findet man jetzt nur noch »Projekte«, die schon in ihrer Qualifizierung als »Projekte« ihre Vorläufigkeit und das Versuchsweise anzeigen und sich wie weiland die religiöse Reformation territorial zersplittern, auch wenn sie als internationale Projekte auftreten. Es sind das unter Initialwörtern firmierende Unternehmungen wie beispielsweise »COPIM« in Großbritannien, »SciPost« in den Niederlanden, »SCOAP3« für die Hochenergiephysik, die »Open Library of the Humanities« (OLH) mit Sitz in London, »oacip Lyrasis« in den Vereinigten Staaten und neuerdings »KOALA« in Deutschland.

Drawing[Copyright by World Economic Forum. swiss-image.ch/Photo by Sebastian Derungs., CC BY-SA 2.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0, via Wikimedia Commons]

Wir müssen uns hier nicht mit den Finanzierungsmodellen dieser Projekte beschäftigen, denn diese sind in aller Regel recht einfach: Sie alle sind entweder steuersubventioniert (direkt oder indirekt über staatliche Forschungsförderungseinrichtungen) oder hängen am finanziellen Tropf einer steuerprivilegierten Wohltätigkeitsorganisation bzw. Nichtregierungsorganisation mit politischer Agenda. Daß sie nun so zahlreich auftreten, liegt daher nicht daran, daß sie ökonomisch profitabel wären; vielmehr liegt es schlicht daran, daß überall Fördergelder fließen, weil die Sache von der Politik und den mit der Politik im Gleichschritt agierenden Nichtregierungsorganisationen als zukunftsträchtig ausgemacht wurde.

Zukunftsträchtig daran ist allerdings, daß sich »Open Access« wie der »Grüne Gesundheitspaß«, das digitale Geld und anderes dieser Art in die alle gesellschaftlichen Teilsysteme übergreifende Logik einer Umstellung aufs Digitale fügt, bei welcher Umstellung es von seiten der Staaten und der internationalen Konzerne um einen Zugewinn an Steuerungskompetenz geht: Wer die digitalen Datenströme kontrolliert, seien das nun digitalisierte Geldströme oder digitlisierte Informationsströme, der kann damit auch die Gesellschaften kontrollieren, deren Funktionieren eben von der Kontrolle über die ubiquitären digitalen Datenströme abhängt. Unter »Open Access« findet daher der Übergang der Wissenschaft von einem auf den einzelnen Forscher und einzelne private Wissenschaftsverlage fokussierenden Modell hin zu einem Forschungs- und Publikationssystem statt, in dem der Staat das Monopol innehat: Er bestimmt über die Finanzierung von Projektwissenschaft, was erforscht wird, und er bestimmt über »Open-Access«-Finanzierungstöpfe, was davon veröffentlicht wird.

Drawing[Copyright World Economic Forum (www.weforum.org) swiss-image.ch/Photo by Remy Steinegger, CC BY-SA 2.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0, via Wikimedia Commons]

Trotz des Anscheins der Internationalität von »Open Access« muß man davon ausgehen, daß das damit etablierte Wissenschaftssystem keineswegs auf dem Weg zu einem katholisch-weltumspannenden System ist. Das verhindert wie weiland bei der religiösen Reformation in Europa das solide politische Interesse der einzelnen Staaten, die dafür sorgen werden, daß das »Open-Access«-System nach ihren Regeln gespielt wird; und je nach Staat werden das andere Regeln sein, wenngleich der »Regelmantel« derselbe bleiben wird: digital muß es sein.

Das wird so erfolgreich sein, wie es auf dem Feld der Religion die Reformation einst war. Aber es wird, so wie diese in eine Staatsreligion umschlug, in einer Staatswissenschaft enden, die den Wissenschaftskredit rasch aufzehren wird. Am Ende bleibt wie in den reformierten Kirchen beim à la »Open Access« reformierten Wissenschaftssystem nur noch eine leere Hülle übrig, in der man die gewohnten Riten vollzieht (also digital publiziert), aber den Glaubenskern (die Freiheit der Wissenschaft) ruiniert hat. Man kann das daran erkennen, daß im jetzigen Corona-Regime die Staaten ja überall ganz offen in die Wissenschaften hineinregieren und nicht nur die Forschungsagenden setzen und gehorsame Wissenschaftsstars kreieren, sondern im Verein mit den großen digitalen Akteuren und den wissenschaftlichen Fachzeitschriften dafür sorgen, daß die öffentliche Debatte über »Corona« und die Folgen nicht von konträren Meinungen und widrigen Fakten gestört wird. Ein Instrument, mit dem die Staaten diese Politik umsetzen, ist eben das über Fördertöpfe lenkbare »Open-Access«-System, das man überall etabliert hat.

Drawing[World Economic Forum, CC BY 3.0 https://creativecommons.org/licenses/by/3.0, via Wikimedia Commons]

Die zahlreichen »Open-Access«-Projekte sind daher kein Zeichen für eine lebendig blühende Wissenschaft, sondern Symptome eines wissenschaftlichen Zerfallsprozesses, bei dem Pilze und Schmarotzer aller Art den einst gesunden Organismus zu besiedeln beginnen und allmählich aussaugen. Das Ende vom Lied wird die völlige Bedeutungslosigkeit dieses Wissenschaftstyps sein, dessen Bedeutungslosigkeit mit der jener Staaten parallel gehen wird, die meinten, sie könnten die Wissenschaftsprozesse nach eigenem Gusto über »Open Access« steuern.