Zu den interessanten Dingen in unserem Staatswesen gehört ja seit einigen woken Jahren die Frage, worüber öffentlich gesprochen wird und worüber nicht. Die Regel ist dabei überraschend einfach: Das meiste, worüber gesprochen wird, ist irrelevant; relevant ist vielmehr das, worüber auf keinen Fall gesprochen wird.
Das gilt natürlich auch für das eigenartige Biotop der Bibliotheken. Daß man dort die Digitalisierung mit aller auf Karriere hoffenden Kraft vorantreibt, ist das eine. Daß die Digitalisierung ohne günstigen Strom aber nicht zu haben ist, ist das andere. Das erste ist das (karriererelevante) Dauerthema; das zweite interessiert keine Bibliothekssau. Es ist ja auch viel einfacher, die Frage nach dem Zusammenhang von Digitalisierung und Energieverbrauch nicht zu stellen, denn nur in der Nichtstellung dieser Frage, die ein Sich-selber-dieser-Frage-nicht-stellen-Wollen ist, kann man das zweite Ding in den Bibliotheken vorantreiben, das nicht erst seit der Heiligen Greta das Ding zu sein verspricht: die »Energiewende«. Auf Bibliothekarisch heißt das, in Arbeitsgruppe um Arbeitsgruppe und in Strategiepapier um Strategiepapier darüber zu sinnieren, wie es denn zugehen könnte, die Bibliotheken irgendwie »grün« zu machen.
Damit ist natürlich nicht die Durchsetzung des Personals mit vorzugsweise grün ideologisierten Menschen gemeint – dieser Prozeß ist längst abgeschlossen und darf als erfolgreich abgehakt werden. Vielmehr ist gemeint, möglichst vieles von dem, was in den Bibliotheken so getrieben wird, irgendwie »umweltfreundlich« und »ressourcenschonend« zu treiben. Also Umweltpapier durch die Kopiergeräte zu jagen, verbrauchsarme Bildschirme einzusetzen, das Licht in den Buchbereichen sensorgesteuert an- und auszuschalten und am besten gleich das ganze Bibliotheksgebäude nach den allerneuesten Umweltnormen so zu bauen, daß die Bibliothek zum »leader in environmental sustainability« werden kann. Hätte ich das alles nicht längst schon gesagt und analysiert, ich könnte es noch einmal sagen und analysieren.
Neu ist indessen, was passiert, wenn es denn einmal ernst wird mit der Energiefrage. Also Energie nicht aus grünen Spaßgründen gespart werden soll, und zwar so, daß man anderen beim Sparen dann noch naseweis etwas vormachen kann; sondern Energie so gespart werden muß, daß es weh tut, weil der Druck der Wirklichkeit jede Naseweisheit verbietet und schnelle Reaktionen erfordert, die auf den Druck der Wirklichkeit sachgerecht und nicht ausweichend anworten. Kurzum: Man müßte sich der Wirklichkeit in aller Schonungslosigkeit stellen, wenn man in einer Situation von höchstem Wirklichkeitsdruck nicht den grünen Kopf verlieren und das Schiff der Bibliothek durch die Krise steuern will.
Eine solche Situation von höchstem Wirklichkeitsdruck aber haben wir nun. Das ist eine unschöne Erkenntnis, aber sie ist nichtsdestotrotz wahr: Was runde dreißig Jahre grüne Energiewende erhofft haben, hat die besten Chancen, bald einzutreffen. Nämlich die aus Umweltschutzgründen geplante Reduzierung der verbrauchten Energie, die aber, wie sich jetzt herausstellt, dank einer illusionsgetriebenen Energiepolitik nicht in einer geplanten Reduktion des Energieverbrauchs ihr glückliches Ende findet, sondern auf einen ungeplanten Energienotstand hinausläuft, der die Lebensgrundlagen in unserem Land unmittelbar angreift. Der menschliche, durch Arbeit vermittelte »Stoffwechsel mit der Natur«, von dem Karl Marx gesprochen hat, ist eben noch nie einer gewesen, der sich alleine auf die leiblichen Kräfte des Menschen verlassen konnte, sondern war von Beginn des Menschen an ohne Technik gar nicht zu denken und erst recht nicht zu tun. Das hat natürlich auch Marx gewußt. Aber die im Marxismus und seinen woke-modernsten Ablegern nicht totzukriegende Überzeugung, man könne und müsse alles nur irgendwie richtig und vernünftig planen, hat zusammen mit der sich von Rousseau herschreibenden Überzeugung, es müsse eine möglichst natürliche Natur wiederhergestellt werden, dazu geführt, daß man die vom Menschen und seiner Arbeit und damit auch seiner Technik unbefleckte Natur als Planungsmatrix über alles andere gestellt hat. Das Ergebnis haben wir nun: Es funktioniert immer weniger, und bald funktioniert womöglich gar nichts mehr. Erstens weil immer weniger Ingenieure übers Funktionieren unserer technischem Umwelt nachdenken und dann auch das Richtige tun; und zweitens weil schlicht und einfach der Strom weg ist.
[Quelle: Pixabay.]
Das ist die Lage, und es ist die Lage der Bibliotheken. Diese sind nämlich als volldigitale Einrichtungen, deren Funktionsmittel »Strom« heißt, im Moment eines Blackouts innerhalb kürzester Zeit vollkommen funktionslos. Nichts geht mehr. Tot. Mausetot.
Wo man eben noch im elektronischen Katalog im Nu nach Büchern und Aufsätzen suchen konnte, gähnt einen nun ein schwarzes und sich minütlich ausdehnendes Nichts an. Und wo man eben noch Zugriff auf allerlei digitales Material hatte, das die Bibliothekare per »Open Access« in Mengen, die sich nach Giga- und Terabyte bemessen, zum Lesen und Herunterladen bereitgestellt hatten, greift man nun ins Leere. Da ist nichts mehr: Der »digitale Bestand«, der immer schon ein Euphemismus für den realen Nichtbesitz der Daten war, zeigt sich als Phantom einer digitalen Bibliotheksoper, in der jeder ein Star sein wollte, aber keiner damit rechnete, daß jemand den Stecker zieht und die Inszenierung zu Ende ist.
Es gibt daher in den Bibliotheken keinen »Plan B«. Es gibt nur den »Plan A«, also eine möglichst umfassende Digitalisierung (ohne Notausgang) und irgendwie (man weiß halt nicht wie) die Vorstellung, man könne das zugleich als grünes Projekt durchziehen. Das aber kann man nicht. Eine moderne Bibliothek ist ohne Strom nichts. Punkt.
Schaut man nun auf der Website des Deutschen Bibliotheksverbandes (dbv) nach, was dort zur »Energiekrise« zu lesen steht, wird man dies finden:
[Quelle: dbv.]
Daß das ernst gemeint ist, ergibt sich aus dem, was der dbv auf seiner Website so alles an Handreichungen zum Thema zusammenstellt. Das läuft, wie es der Pressemitteilung vom 24. August 2022 und der ebenfalls am 24. August veröffentlichten Stellungnahme zur »Rolle der Bibliotheken in der Energiekrise« zu entnehmen ist, darauf hinaus, die Bibliotheken zu Wärmestuben zu erklären »für den hohen Anteil der Bevölkerung, der möglicherweise nicht in der Lage sein wird, die eigenen Heizkosten finanziell zu erbringen«:
[Quelle: dbv.]
Natürlich: Eine Krise erfordert bisweilen ungewöhnliche Maßnahmen, und so mögen denn die Bibliotheken, falls es ihnen gelingt, sich den Unterhaltsträgern gegenüber als »Wärmestuben« zu empfehlen, als Wärmestuben durchaus einen Zweck erfüllen. Nur: Bibliotheken sind sie dann eben nicht mehr.
Und das ist der springende Bibliothekspunkt, um den es hier geht: Wer über Jahrzehnte einer Digitalisierung das Wort redet, die in merkelistischer Manier als »alternativlos« durchgepeitscht wird; wer keine Kataloge auf einer medial-alternativen Basis bereitstellt und diese nicht einmal zu denken wagt, um sie bei Bedarf auch rasch als Microfiche- oder Zettelkatalog zur Hand haben zu können; wer die gedruckten Bücher und Fachzeitschriften, die stromlos in den Regalen auf interessierte Leser warten, über Jahrzehnte hin als einstaubenden Ballast madig macht und sich lieber mit einer feschen »Access«-Semantik umgibt, so, als müsse man nichts wirklich besitzen, sondern könne alles »übers Netz« jederzeit schnell zugänglich machen — der erlebt gerade den Supergau seiner bibliothekarischen Illusionen.
Daß man über diesen drohenden Supergau nicht spricht, wundert natürlich nicht im geringsten. Denn die Debatte, die über diese Dinge geführt werden müßte, hätte eine Debatte nicht nur über das zu sein, was die Wirklichkeit von den Illusionen trennt, sondern vor allem darüber, wie es kam, daß soviele Illusionisten in den Bibliotheken unterkamen und leitende Stellen erreichen konnten. Es wäre eine Debatte über die Dominanz der Politik über die Verwaltungs- und Bildungseinrichtungen, zu denen auch die Bibliotheken zählen, über personelle Vernetzungen, bei denen die Kompetenz der Personen in viel zu vielen Fällen keine Rolle spielt, wohl aber ihre politische Anstelligkeit verbunden mit der Fähigkeit, das politisch Gewünschte im eigenen Haus von oben nach unten durchzutreten und dadurch die Vielfalt der Bibliotheken samt der in ihnen schlummernden divergierenden Entwicklungsmöglichkeiten auf die Einfalt einer Politik zu reduzieren, die, wie wir nun alle erfahren müssen, seit Jahrzehnten nicht weiß, was sie tut.
Und so endet die Chose ebendort, wo sie bei technisch und politisch komplizierten Sachverhalten zu enden pflegt: bei der Moral, die jeder sofort versteht. Was auf bibliothekarisch eben das heißt, was der dbv nun verkündet: Sind wir schon keine Bibliotheken mehr (technisch und organisatorisch kompliziert, voller Traditionen und Strom verbrauchend), so sind wir als Wärmestuben wenigstens noch eine Einrichtung der Nächstenliebe (warm, gefühlvoll und solidarisch). Darin erfüllt sich das Telos der Bibliotheken als einem »dritten Ort«, in dem es im Grunde längst nicht mehr um Bücher und auch nicht um die mit den Büchern konnotierte »Bildung« geht, sondern nur noch um eine »Aufenthaltsqualität« — die Bibliothek folglich zuletzt als Einrichtung der modernen Sozialarbeit. Der lange Traum, dank richtiger bibliothekarischer »Aufenthaltsqualität« einen »inklusiven« Sozialraum schaffen zu können, in dem in gelöster Atmosphäre ein Dauergespräch von allen mit allen stattfinden könne — dieser Traum kollabiert nun zum Minimum des Sozialen, das angesichts der aufziehenden energetischen, ökonomischen und politischen Krise sich als soziale »Wärme« entpuppt.