Aus dem Tagebuch eines Bibliotheksbenutzers.

Teil III — Die Austreibung des Volkes aus der Volkskunde

Geschrieben von Jürgen Schmid am 25.11.2022

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Digitale Ohnehosen

Lieber Herr Jochum,

jetzt habe ich noch mal in meinen volkskundlichen Erinnerungen und meinem Bücherregal gestöbert — und mich dabei über die Zerstörung dieses Fachs durch die woke Sekte so erregt, daß ich eine Art Chronik der feindlichen Übernahme des Münchner Instituts erstellt habe, einer Okkupation, der ich bis 2013 beiwohnen durfte/mußte. Am Ende war ich in jeder Besprechung, in jedem Kolloquium, in jeder Vortragsveranstaltung der einzige, der dem Zeitgeist widersprochen hat — irgendwann war das mühselig, aushöhlend und ernüchternd.

Es war die Zeit, als das epochale Zerstörungswerk in Szene gesetzt wurde, »die alteuropäische Wissenschaft unterhalb der Wahrnehmungsschwelle der meisten Menschen in ein ideologisches Herrschaftssystem umzumodeln«.1 Und das Ende des Großen Sprungs nach vorne (»an den Hochschulen das für gesellschaftliche Transformation notwendige Orientierungswissen bereitstellen«) scheint noch lange nicht erreicht.

Man konnte den anderen nicht einmal mehr erklären, daß Aktivismus (für was auch immer) nicht an die Universität gehört. Als einer, der auch journalistisch schreibt, hatte ich dazu immer eine klare Faustregel: Ich schreibe nicht für etwas/jemanden, sondern über etwas/jemanden. Wie viele dutzende Male ich diese Mahnung bei den LMU-Volkskundlern ausgesprochen habe, kann ich nicht zählen. Ignoriert oder belächelt bis befehdet wurde es allemal. Immerhin konnte eine grundsätzliche Kritik an dieser Praxis im Bayerischen Jahrbuch für Volkskunde 2017 erscheinen:

Und schließlich fühlt sich der Rezensent [von Marcus Andreas’ Dissertation »Vom neuen guten Leben. Ethnographie eines Ökodorfes«] sehr unwohl mit den aktionistischen Tendenzen in Andreas’ Sprachgestus: »Generell plädiere ich […] dafür, potentielle Allianzen stärker wahrzunehmen und bewusst zu verstärken.« Ein solcher Satz klingt nach dem Debattenbeitrag eines Bundestagsabgeordneten oder dem Statement eines Politikers in einer Talkshow, hat in einer wissenschaftlichen Studie aber nichts verloren. Eigentlicher Sinn und Zweck der Gesellschaftswissenschaften ist es nun einmal, Lebenswirklichkeiten einer kritischen Analyse zu unterziehen. Wer verlautbaren möchte: »Die Unverhältnismäßigkeit der Förderung von Forschungsschiffen und Zukunftsautos gegenüber sozialen Initiativen kritisiere ich«, sollte sich zu seiner Berufung als Politiker und/oder Lobbyist bekennen — und nicht mit einem diffusen Zwitterwesen als Textgattung unter der Flagge »ethnologische Dissertation« segeln.

Und so habe ich die Durchsicht meiner volkskundlichen Buchbestände zum Anlaß eines Requiems auf eine Wissenschaft genommen.

Es grüßt Sie aus München, Jürgen Schmid


Platz schaffen…

»Das kann weg!« Im April 2019 erregt sich der Bibliothekar Uwe Jochum über den »laxen Umgang der Bibliotheken mit der ihnen anvertrauten Druckgeschichte«.

Im Rahmen einer entfesselten Digitalisierung tendierten viele Bibliotheken dazu, sich vom materiell angreifbaren (im Wortsinn) Buch zu trennen, sobald sein Inhalt online verfügbar sei. Jochum zeigt sich irritiert ob solcher Praxis: »Daß diese Bücher durch ihre einstige Übernahme in den Bibliotheksbestand dort zu einem Teil der Sammlung wurden […], daß sich in ihnen Randnotizen mehr oder weniger intelligenter Leser finden, die Rückschlüsse auf den Zeitgeist zulassen, daß es Provenienzvermerke gibt, die Aufschluß über das Woher der Bücher geben — daß aus alldem sich Perspektiven auf unser kulturelles Ensemble ergeben können«, all das interessiere die Digitalisten nicht bei ihren Aussonderungsorgien. Ein kleines Beispiel für Jochums Conclusio, daß »das Alte und vermeintlich Abgetane nicht abgestorben ist, sondern sich nur eingekapselt hat, um vom neugierigen Blick aus seiner Zeitkapsel befreit zu werden«, sei im Folgenden erzählt.

Alte Bibliothek [Netzfund.]

Im Herbst 2008 wurden am Institut für Volkskunde / Europäische Ethnologie der LMU München die Bibliotheksbestände durchkämmt und ein Lastabwurf vorgenommen. Es kam zur »Aussonderung« — natürlich ein Euphemismus für Vernichtung. (Der Ausdruck »Kassation« aus dem Archivwesen macht die Sache auch nicht besser.) Bei der LMU-Volkskunde kam es nicht ganz so schlimm, die Bücher landeten nicht im Müll, sondern wurden auf einem Bücherflohmarkt ans Volk verkauft. Eine feilbietende Dok­torandin, befragt nach dem Warum und Weshalb, antwortete ebenso unverblümt wie freudig erregt, die ollen Kamellen müßten raus, »um Platz zu schaffen für Neues«.

Der Erzähler, seinerzeit Lehrbeauftragter besagten Instituts, konnte sich nicht genug wundern (um nicht zu sagen: ärgern) über diese unbibliothekarische Aktion. Er griff zu, erwarb dies und das, was ihn interessierte — und sein Zorn wuchs beim näheren Blick in das Ausgesonderte. Er hätte ja noch verstanden, wenn der Lastabwurf nur Dubletten betroffen hätte, die sich als zerlesene Bücherlappen entpuppt hätten, ohne Sinn und Verstand vollgeschmiert von undisziplinierten Studenten.

Aber daß zum Beispiel Ernst Klusens Volkslied. Fund und Erfindung (Köln: Gerig, 1969), ein Klassiker und Meilenstein moderner Volksliedforschung, den Bibliotheksstempel »gelöscht« erhielt (heißt: kann weg) — verwunderlich. Zumal der Band eine solide Bibliotheksbindung aufweist, gut erhalten und kaum durch Anstreichungen verunziert ist. Bevor er den Stempel »Seminar für deutsche und vergleichende Volkskunde / Bücherei« bekam, stand er in der Bibliothek der »Pädagogische[n] Hochschule München« — eine Spur, auf die zurückzukommen sein wird.

Spätestens mit der Entdeckung des Besitzervermerks »Karlinger« verlor der Berichterstatter die Contenance. Ausgesondert wurde in diesem Fall erneut ein Klassiker (diesmal der Märchenforschung), Max Lüthis Es war einmal… Vom Wesen des Volksmärchens (Göttingen: Vandenhoeck & Rupprecht, 1962), erschienen in dem Jahr, als das aussondernde Institut gegründet wurde. (Ein Gelehrter, der den renommierten Zürcher Lehrstuhl für Europäische Volksliteratur aufbaute, den er an Rudolf Schenda, Autor von Volk ohne Buch, weitergab. Heute lamentiert dort eine Professorin für Populäre Kulturen ohne Renommee darüber, daß »Rechtspopulisten« wie Giorgia Meloni den »Herrn der Ringe« mögen, wohingegen sie »afrofuturistische Autorinnen« empfiehlt, »die antirassistische, diverse Fantasy schreiben«. Auch eine Fallhöhe.) Was aber ist an dem Namen Karlinger so erregend?

Wer weiß, wer Karlinger war, erkennt, wie geschichtsvergessen und eigene Traditionen verachtend die Platzschaffer vorgingen. Im Stenogramm: Felix Karlinger (1920–2000), Münchner Romanist und Volkskundler mit Schwerpunkt auf iberoromanischer, sardischer und rumänischer Literatur, 1948 Promotion bei Rudolf Kriß mit Beiträge[n] zu einer Volkskunde der Pyrenäen und ihrer Umwelt im Spiegel des Volkslieds. Titel seiner Habilitationsschrift: Das sardische Volkslied. Versuch einer Bestimmung seiner histo­rischen und geographischen Situation als Beitrag zur westmediterranen Volkskunde.

In der Enzyklopädie des Märchens (Dieter Messner, EM VII, 1994, Sp. 1003) ist zu lesen: »Er [Karlinger] durchwanderte, mit einem Tondbandgerät beschwert, Sardinien und Korsika, auch Teile des Balkans und der Iberischen Halbinsel auf der Suche nach oral tradierten Texten der Volksliteratur […]. Oft stieß er dabei auf bis dahin unbekanntes Material in den Bereichen des Volksliedes und der Volkserzählung. Mit dieser Arbeit, die heute aufgrund der Verdrängung oraler Texttradierung durch die Massenmedien nur mehr wenig Anreiz bietet, ist K. einer der letzten wandernden Feldforscher.« Muß nicht interessieren an einem Institut, das mit Leopold Kretzenbacher den wohl größten wandernden volkskundlichen Feldforscher des späten 20. Jahrhunderts auf dem Lehrstuhl sah, ein Hochschullehrer, der bei seinem Münchner Amtsantritt 1966 als erste Amtshandlung Zelte kaufte, um mit den Studenten auf Exkursionen »Bräuche zu erwandern« (Ethnologia Europaea. Studienwanderungen und Erlebnisse auf volkskundlicher Feldforschung im Alleingang. München 1986).

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Die Erinnerung an »so jemanden« (der nichts Geringeres repräsentierte als die besten Traditionen vergleichender europäischer Volkskunde) kann sich ein Institut für Europäische Ethnologie nicht leisten. Dabei steckt im unscheinbaren Besitzereintrag »Karlinger« fast so etwas wie eine kleine Kulturgeschichte der Volkskunde und ihres Endes in nuce — für den jedenfalls, der willens und fähig ist, diese Spur zu entschlüsseln. — Auch andere ausgesonderte Bücher hätten (!) viel erzählen können über die Wege der (nicht nur) Münchner Volkskunde:

Paul E. Rattelmüller: Festliches Jahr. Brauchtum im bayerischen Alpengebiet. München: Callwey, 1953. — Laut Bibliotheksstempel aus der »Pädagogische[n] Hochschule München-Pasing der Universität München« übernommen, mit einer Widmung des Autors: »Kiem Pauli in herzlicher Dankbarkeit zugeeignet«. Wie soll man einem Studenten des Jahres 2022 erklären, wer Paul Kiem war? (Ein Faktotum der Volksmusikszene, der zusammen mit Kurt Huber Liedersammlungen herausgab wie die Oberbayrische[n] Volkslieder von 1930. Huber wiederum war jener LMU-Professor, der als Mitglied der »Weißen Rosen« hingerichtet wurde.) — Wer ahnt noch, daß Volkskunde einmal obligatorischer Bestandteil der Lehrerausbildung war, die in den 1970er Jahren auf Betreiben des Bayerischen Lehrerverbandes vollakademisiert und an die Universität angegliedert wurde, woraufhin die Pasinger Bibliotheksbestände vom LMU-Volkskunde-Institut übernommen wurden, mitsamt der Aufgabe, Volkskunde als Wahlpflichtfach für Lehramtskandidaten zu unterrichten, was zuletzt Rainer Wehse geleistet hat? Wie einem FFF-Mädchen erklären, wer Wehse ist? (Bestseller-Autor von Seineb die Spitzbübin. Märchen und Geschichten vom Lügen, erschienen 1987 im Frankfurter Fischer-Taschenbuch-Verlag; damit einer der wenigen deutschen Volkskundler, die in bedeutenden Publikumsverlagen — mit Erfolg beim Publikum! — veröffentlicht haben.)

Karl von Spiess: Bauernkunst. Ihre Art und ihr Sinn. Grundlinien einer Geschichte der unpersönlichen Kunst. 3. Aufl. Berlin: Stubenrauch, 1943. — Mit einer Widmung des Autors: »Der Erneuerung Europas aus den arteigenen Kräften seiner Völker« und einem Ex Libris »Dr. Kretzenbacher«. Die Aussondererin wird sich gedacht haben (wenn sie den Vermerk überhaupt bemerkt hat): »Who the hell is Kretzenbacher?« Und sie wird froh gewesen zu sein, den Tenor der Widmung gleich mitentsorgen zu können, anstatt sich Gedanken über das historische Umfeld dieser Publikation machen zu müssen.

Wilhelm Heinrich Riehl: Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Sozialpolitik. Erster Band: Land und Leute. 12. Aufl. Stuttgart / Berlin: Cotta, 1925. — Mit einer bestens im Buch dokumentierten Dingbiographie: Stempel »Adolf Hitler-Schule Landstuhl«, »Lehrerinnenbildungsanstalt Pasing«, »Pädagogische Hochschule München«, schließlich »Pädagogische Hochschule München-Pasing der Universität München«. Was soll eine feministische Diskursanalytikerin (häh?) mit einer solchen Geschichte eines Buches anfangen, das 71 Jahre nach seinem Erscheinen mit der 12. Auflage immer noch auf dem Markt war? Und überhaupt mit einem der Väter moderner Volkskunde?

Hans Schuhladen: So ein Theater?! Zum gegenwärtigen Spiel von Amateur­bühnen in München. München: Institut für Volkskunde, 1986. — Wer mag noch wissen, daß Hans Schuhladen wissen­­schaftlicher Mitarbeiter am Münchner Institut war — und eines allzu frühen Todes starb? Daß das schmale Bändchen Frucht eines volkskundlichen Seminars war?

Elisabeth Roth: Heimat. Beiträge zur Neubesinnung. Bamberg: Sekretariat des Lehrstuhls Heimat- u. Volkskunde der Otto-Friedrich-Universität, 1990. — Mit handschriftlicher Widmung der Autorin: »Herrn Kollegen Dietz-Rüdiger Moser mit herzlichem Glück­wunsch zu ›5 Jahre Literatur in Bayern‹ / Juni 1990 / E.R.« und Stempel »Institut für Bayerische Literaturgeschichte Universität München«. Um diese Informationen wür­digen zu könne, müßte man wissen, daß die Autorin 1971 als erste Professorin für Heimat- [sic] und Volkskunde an die Universität Bamberg berufen wurde; daß D.-R. Moser (1939-2010) ein LMU-Volkskundler war, der nicht am Volkskunde-Institut lehrte, sondern an seinem eigenen Institut (siehe Stempel), angesiedelt bei der Mathematik neben der Pinakothek der Moderne, wohin es ihn, einen Ururenkel von Clara und Robert Schu­mann, verschlug, nachdem er als Musikwissen­schaftler begonnen hatte und über seine Habilitation am Deutschen Volksliedarchiv Freiburg (Verkündigung durch Volksgesang. Studien zur Liedpropaganda und -kate­chese der Gegenrefor­mation) zum philologischen Volkskundler und Herausgeber erwähnter Literatur-Zeit­schrift wurde, dessen volkskundliches Hauptwerk Fastnacht — Fasching — Karneval. Das Fest der ›Verkehrten Welt‹ (1986) eine neue Sicht auf den Karneval bietet. (Nach seinem Tod wurden Institut und Bibliothek abgewickelt — und somit auch dieser fruchtbare Strang einer Volkskunde abgewürgt, die aus der Musikwissenschaft erwuchs und in die Literatur der Gegenwart hinein ausstrahlte.)

Aber warum sollen ausgerechnet woke Bibliothekare und Universitätsinsassen dem Zeitgeist anders begegnen als all jene privaten Entsorger, die Tradition zentnerweise auf die Straße werfen — wer etwas aussortiert aus seinem Bücherbestand und keine Lust hat, es auf dem Flohmarkt zu ver­kaufen, schmeißt es einfach vor seine Haustüre. Jüngst etwa konnte man in Haidhausen die Storm-Gesamtausgabe in sechs Bänden mit einer Geschenkwidmung aus dem Jahr 1923 auflesen. Und vor nicht allzu langer Zeit lagen vor dem Hauseingang gegenüber Thomas Manns Josephsroman und der Doktor Faustus in der Stockholmer Ausgabe. Man könnte sich in einer Großstadt wie München gratis eine Bibliothek deutscher Literatur zusammenstellen aus dem, was alles so entsorgt wird in dieser unserer Zeit.

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… für Neues. Oder: Ein Putsch in der Volkskunde

2006 besetzte der Diskurstheoretiker und Netzwerker Johannes Moser den Lehrstuhl für Volkskunde in München in feindlicher Absicht. Was dann geschah — eine kleine Bilanz zum Großen Sprung nach vorne…

Man politisiere die Forschung

In jenem Sommersemester 2007, als »der Hannes« seine Antrittsvorlesung »Volks­kundliche Perspektiven« betitelte, worin er viel vom Habitus der Stadt sprach und gar nicht von Volkskunde, in jenem Semester, als die neue Assistentin Sabine Hess, alles duzend von einem grünen Think Tank namens Humboldt Universität aus Berlin eingeflogen, zum ersten Mal Unverständliches vortrug (»Wenn politische Tagungen zu ›Prozessen‹ werden. Erste Überlegungen zu einer Ethnographie der neuen Formen des Regierens in und von Europa«), das ein sehr bekannter Volkskundler als »Unfug« bezeichnete, bekam man ansonsten noch solide Volks­kundliches geboten: Peter Haller führte zur »Wallfahrt zum Heiligen Berg in Tschechien«. Und Ingo Schneider beschäftigte sich mit »Erzählen im Internet«.

Machen wir den großen Sprung nach vorne: Zu einem Zeitpunkt, als das Münchner Stadtmuseum stadtweit plakatierte: »Check Deine Privilegien!«, im Winter 2019/20, wurde man am Institut aufgeklärt: »PRIVILEGIEN: reflektieren — sichern — teilen«, etwa bei »Intersektionalität und Hegemonie(selbst-)kritik« oder »Die Inversion der Rassismuskritik. Der Diskurs um Privilegien, das neoliberale Subjekt und seine Schuld(gefühle)«. In einem solchen Umfeld wirkte Eva Gajeks »Vermessen von Vermögen« über die historische Erforschung von Reichtum bereits ungeheuer old fashioned, ja deplaziert. Frau Gajek hatte nicht verstanden, was nun gefordert war: »Totalherrschaft der Gegenwart« (Botho Strauß) statt historische Tiefensondierung, linker Aktivismus statt objektive Forschung, Haltung statt Analyse.

Man benenne um

Zur korrekten Haltung gehört natürlich, mit zwielichtigen »Konzepten« wie Volk oder gar Deutschland nichts zu tun haben zu wollen. Begann die Geschichte der institutio­nalisierten akademischen Volkskunde in München 1962 mit dem »Seminar für deut­sche und vergleichende Volkskunde« (ein treffender Name), so endete sie mit zwei Umbenennungen, von »Institut für Volkskunde / Europäische Ethnologie« (bereits ohne Deutschland) zu »Institut für Empirische Kulturwissenschaften und Europäische Ethnologie« (EKW*EE), nun auch ohne Volk und ohne Kunde, aber mit wachem Stern.

Man ersetze Analyse durch Aktivismus

In jenem Wintersemester, in dem der privilegierte Patrick Wielowiejski vortragen durfte (»›Schwule gegen /G/ender‹: Neurechte Aushandlungen um Identität, Geschlecht und Homosexualität«), schloß sich ein Akademischer Rat dem Zeitgeist an — und präsentierte der Öffentlichkeit am Schwulen Kommunikations- und Kulturzentrum (SUB) eine EKW*EE-Veranstaltung, bei der Studenten seines Seminars »Stadtforschung relaoded« über die Frage »Wem gehört die Stadt?« diskutierten, mit: David S., Betreiber des Clubs »Harry Klein«, Stadtratskandidat Bündnis 90/Die Grünen 2020 (hups); Andreas L., Koordination Veranstaltungen am SUB; Christian G., Presse- und Öffentlichkeits­arbeiter von Bellevue di Monaco, einem »Aktionsbündnis, das das Thema Flucht und Migration von den Sammelunterkünften an den Stadt­rändern ins Herz der Stadt bringen« will. Die Zusammensetzung der Runde garantierte von Vorneherein ein überaus vielfältiges Meinungsspektrum. Und damit es noch bunter werde, brachte der Winter 2020/2021 im EKW*EE-Institut eine Ringvorlesung über »Feminismen in Europa: Positionen — Konflikte — Strategien«, wo »Anti-Gender Campaigns« und »Right-Wing Populism« beklagt wurden, »Schwarze Feminismen in Deutschland« beworben und »(Differenz-)feministische Antworten auf den Maskulinismus« gegeben.

Man lösche Erinnerung aus

Spätestens 2013 war ein Stadium der Damnatio memoriae erreicht, in dem selbst fortgeschrittene Studenten mit dem Namen Helge Gerndt nichts mehr anfangen konnten. Nach einem Vortrag, zu dem der Emeritus zehn Jahre nach seinem Ab­schied als Zuhörer gekommen war, unterhielten sich drei Studenten aus dem dritten Semester Bachelor (sprich: Halbzeit auf dem Weg zum Abschluß) über das Gehörte. Eine sagte, ihr hätte nicht gefallen, daß irgend so ein alter Mann das Wort ergreifen mußte mit so einem Schmarrn. Ein anderer meinte, im Gegenteil hätte er das als die beste aller Wortmeldungen empfunden. Und die dritte murmelte, sie hätte es sowieso nicht verstanden. Auf die Frage, ob sie denn nicht wüßten, über wen sie da diskutier­ten, zuckten alle Drei mit den Schultern. Gerndts »Studienskript Volkskunde« von 1997 fand zu diesem Zeitpunkt in den Grundkursen keine Erwähnung mehr. Volkskundler ventilierten jetzt Theorien von Soziologen und Politologen. Sollte es in München noch Studenten geben, die Gerndts Vorgänger Leopold Kretzenbacher nicht für einen angesagten DJ aus der Wiener Post-Beat-Ära halten, wäre das verwunderlich.

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Man verzeitgemäße die Bibliothek

Die Ignoranz, mit der man als Wissenschaftsrevolutionär eine Bibliothek säubern muß, wurde bereits ausführlich gewürdigt. Was aber ist überhaupt »das Neue«, für das Platz geschaffen wird durch die Aussonderung des Alten? In (ehemals) volks­kundlichen Institutsbibliotheken beispielsweise verstopfen nun über zwei Dutzend Handlungsanleitungen von und für linke Aktivismuswissenschaftler (»Anregungen für eine gender- und fluchtsensible Praxis im Umgang mit geflüchteten Frauen«) die Bücherregale, woke Baupläne von Sozialingenieur:innen zum Umbau der Wirklichkeit (statt der altbackenen und nicht mehr zeitgemäßen empirischen Analysen von Ist-Zu­ständen), wie sie seit 2006 unter der Mitherausgeberschaft der eingangs erwähnten professoralen Interventionsaktivistin Sabine Hess (»Eingreifen, Kritisieren, Verän­dern?! Interventionen ethnografisch und gendertheoretisch«) produziert werden wie warme Semmeln — und in eine Welt entsandt, in der die Sonne keine Rechnung schickt.

Man mache alles neu

Was ein woker Programmatiker sein will, der entwerfe sein eigenes Programm: Darin schreite man »vom Feld zur Assemblage«, theoretisiere die »Pragmatik ethnografischer Temporalisierung«, diskursanalysiere und relationalisiere, praxeografiere mit Actor-Network, man entgrenze methodisch und situationisiere munter zu globalen Regimen – eine Zusammenfassung von: Sabine Hess / Johannes Moser / Maria Schwertl (Hrsg.): Europäisch-ethnologisches Forschen. Neue Methoden und Konzepte. Berlin: Reimer, 2013.

Man indoktriniere die Studenten

Im Winter 2005/2006 gab es unter Leitung der Lehrstuhlvertreter Sabine Wienker-Pipho und Bernd Rieken, des apl. Professors Burkhart Lauterbach und des Emeritus Klaus Roth folgende Magisterthemen: Neo-Schamanismus; Ernährungsverhalten in interkulturellen Paarbezie­hungen; Phänomen Wiesntracht; Die Wallfahrt nach St. Quirin am Tegernsee; Die Donauschwaben — eine empirische Untersuchung; Rezep­tion der Polenlieder in Deutschland; Heldenlieder in Griechenland und Rumänien … ein fast repräsentativer Auszug dessen, was die Volks­kunde ihren »Kanon« nennt, wie er etwa im Handbuch Wege der Volkskunde in Bayern (1987) durchdekliniert wird: Forschungen über Volksfrömmigkeit, Nahrung, Tracht und Kleidung, Wallfahrt, Volkslied, nebst einer beispielhaften Ethnografie (Donauschwaben).

Was werden Studenten als Themen ihrer Abschlußarbeiten wählen, denen im Vor­lesungsverzeichnis für den Sommer 2020 dies geboten wird: Lokale feministische Bewegungen. Akteur*innen, Räume, Praktiken und Diskurse in München; Re:flektieren — Re:formulieren — Re:positionieren. Aktuelle Perspektiven des Instituts für EKW*EE in München; Städte lesen. Theorie und Praxis der Stadterkundung. Genau das, was im Winter 2020/2021 bei Johannes Moser an Promotionen läuft: Transformed and Transforming Neighbourhoods in Berlin; Migration Macht Schule. Schulanaloger Unterricht für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge; Verliebt in das Fremde. Xenophile Akteure als Grenzgänger zwischen den Kulturen. (Wohin diese Liebe führen kann, läßt sich in Richard Wagners Das reiche Mädchen nachlesen, worin die wahre Geschichte der Ethnologin Katrin Reemtsma erzählt wird, die 1997 von ihrem Lebensgefährten, einem jugoslawischen Rom, erstochen wurde.)

Man webe ein dichtes Spinnennetz … und gewinne

Von 2015 bis 2019 konnte der Münchner Lehrstuhlinhaber als Vorsitzender der Deut­schen Gesellschaft für Volkskunde (dgv) seine Wissenschaftspolitik deutschlandweit propagieren. — Seit 2021 ist die Volkskunde auch aus der Gesellschaft für Volkskunde verschwunden. Und mit ihr das Volk. Jetzt indoktriniert man unter dem Namen Deutsche Gesellschaft für Empirische Kulturwissenschaft (dgekw). Wie lange das »d« noch Bestand hat, ist ungewiß. Ganz klein ist es ja schon.

Drawing[Eingang zur alten Bibliothek von Cincinnati mit lesendem Jungvolk. Quelle: Cincinnati Library.]

Fußnote

  1. Caroline Sommerfeld: Versuch über den Riß. Schnellroda: Antaios, 2021, S. 44.