Die Welt der Wissenschaft vor 100 Jahren

Als Wissenschaft noch nach Wahrheit strebte

Geschrieben von Uwe Jochum am 23.6.2023

Vom selben Autor:


Habeck, der Formlose


Uwe Jochum

Wissenschaftlicher Bibliothekar

Auch interessant:


Heimatkunde

Teil fünf


Aufheben VI

Göttinger Rekonstruktionen. Peuckerts Lehrerjahre

In der Coronazeit wurde einem breiteren Publikum bewußt, daß die Wissenschaft, die wir haben, nicht die Wissenschaft ist, die wir haben sollten. Längst hat sich der Staat überall in die Wissenschaft hineingearbeitet wie der Schimmelpilz in die Hauswand, und das Resultat ist hier wie dort ein unaufhaltsames Vermodern der ganzen Konstruktion. Am Ende wird es auf einen Abriß hinauslaufen müssen, und das heißt: auf neue Wissenschaftsstrukturen mit neuen Wissenschaftlern, die nicht auf Geld und Karriere und öffentlichen Einfluß schielen, sondern an der Wahrheit interessiert sind.

Wer das für eine unerreichbare Utopie hält, muß sich wenigstens einmal mit der Geschichte der Wissenschaft in Deutschland beschäftigen, um festzustellen, daß diese vermeintliche Utopie einmal Realität war. Und zwar zuförderst in jenem vielverschrieenen Land, das die Alliierten nach dem Zweiten Weltkrieg von der Landkarte tilgten: Preußen. Was sich dort zwischen 1870/71, dem Deutsch-Französischen Krieg, und den 1920er Jahren tat, sollte jedem Preußenverächter die Sprache verschlagen. Es mag hier genügen, auf die Liste der deutschen Nobelpreisträger zu verweisen, die bis in die 1920er Jahre einen dichten Strom von Preisträgern zeigt — und danach nur noch ein Tröpfeln.

Das hat viele Gründe, aber die Persistenz des Nobelpreisstromes bis in die 1920er Jahre hinein belegt, daß diese vielen Gründe nicht auf den einen Grund des Geldes reduziert werden können, das im reichen Preußen der Gründerzeit reichlicher vorhanden war als im krisen- und inflationsgeschüttelten Preußen und Deutschland der Weimarer Republik. Zu schauen hätte man vielmehr auf das wissenschaftliche Personal, das damals die Wissenschaft in Preußen-Deutschland trug und voranbrachte. Und zwar eben nicht — man muß das wiederholen — aus pekuniären Interessen (die hatte der preußisch geprägte Staat als Realist natürlich auch, weshalb er die Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft zur Finanzierung der Großforschung durch die Industrie ins Leben rief), sondern aus dem in den Augen der heutigen Wissenschaftsopportunisten ganz lächerlichen Grund, daß man die Lösung wissenschaftlicher Fragen für eminent wichtig hielt und sich daher sein Wissenschaftlerleben lang solchen Fragen verschrieb. Offenbar gab es das damals: einen wissenschaftlichen Eros, der die Gelehrten zur Bearbeitung von wissenschaftlichen Fragen um dieser Fragen selbst trieb.

Das wurde, wenn man Glück hatte, mit einer Professur belohnt, und wenn man noch mehr Glück hatte mit einem Nobelpreis. Darüber hinaus bestand der eigentliche Lohn im Tun, also im freien Forschen, das damals schon ein Forschen in einem Netzwerk von interessierten Kollegen war, gleich in welchem Land diese wohnten, denn man verstand sich von der Sache her und konnte Deutsch miteinander reden — denn die Weltgeltung der deutschen Wissenschaft machte natürlich, daß jeder Fachwissenschaftler, der etwas werden wollte, die deutsche Sprache beherrschte. Und es gab den Lohn der öffentlichen Resonanz, der allmählichen Veränderung der Weltbilder durch das, was aus der Wissenschaft nach außen drang und aus guten Gründen für Wahrheit gehalten werden konnte — und nicht für das politisch gewünschte Resultat einer projektfinanzierten Auftragsforschung. Kurzum: Das alles setzte auf die Kontinuität eines Wahrheitsdrangs, den der Wissenschaftler ausleben durfte und mit dem er selbst dann wieder den Wahrheitsdrang des interessierten Publikums erreichte.

Dazu bedurfte es natürlich der Überzeugungen, denn wer von einer Wahrheit nicht überzeugt ist, ist von nichts überzeugt. Aber man war abendländischer Wissenschaftler und damit Philosoph genug, um zu wissen, was seit Sokrates das Wesentliche allen Wissens war und ist: daß es nur im Austausch mit anderen zu wirklichem Wissen werden kann, und daß dieser Austausch nicht nur als wissenschaftsinterner Austausch von Experten zu gestalten war, sondern eben auch als Austausch mit im Prinzip allen Interessierten. Wissenschaftliche Objektivität hat genau hier ihren Ort: daß es in Fragen des Wissens immer ein Pro und Contra gibt und man nicht par ordre du moufti entscheiden kann, sondern sich auf einen Prozeß einlassen muß, bei dem sich aus einem schwankenden Für und Wider ab und an auch so etwas wie ein »Stand der Forschung« einstellt, der morgen schon durch einen ganz anderen Stand ersetzt sein kann. Also kam es darauf an, das immer notwendige Pro und Contra nicht durch ein autoritatives Expertenurteil abzubrechen, sondern das Pro und Contra sich selbst als Wissenschaftler und eben auch dem interessierten Publikum so deutlich wie möglich zu machen.

Wir wundern uns daher nicht, daß die Hochzeit der deutschen Wissenschaft in den Geisteswissenschaften auch die Hochzeit der Quellenwerke ist, in denen die renommiertesten Wissenschaftler der Forschung und dem Publikum das Material bereitstellten, durch das sie einen Blick auch auf sich selbst werfen konnten: dank dem Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm begann man, den Reichtum der deutschen Sprache zu sehen, dank der Monumenta Germaniae Historica begann man, die eigene Geschichte besser zu begreifen. Und in den Naturwissenschaften ist diese Zeit die Hochzeit der »Zentralblätter«, d.h. der zentralen Fachzeitschriften, in denen man der Intention nach die gesamte einschlägige Fachdebatte fand (das Chemische Zentralblatt, die Annalen der Physik, das Archiv für Hygiene u.a.m.). Das alles in deutscher Sprache und unter Vermeidung eines Fachjargons, also mit der Intention, nicht nur unter Fachgenossen zu debattieren, sondern die Debatte auch mit dem interessierten internationalen Publikum zu führen, ganz so, wie es Kant in seiner Schrift Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? gefordert hatte: Soll Wissenschaft Aufklärung sein, muß sie sich an »das ganze Publikum der Leserwelt« richten und damit an das »eigentliche Publikum, nämlich die Welt«.

Wie weit dieses Ethos trug, zeigt sich an einem Vorwort, das der Alttestamentler — auch die alttestamentliche Theologie war damals fest in deutscher Hand — Hugo Gressmann seinem im Jahre 1909 in Tübingen im Verlag J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) erschienenen Buch über Altorientalische Texte und Bilder zum Alten Testament voranstellte. Der Abstand zu dem, was heute in den Kartellmedien als »Wissenschaft« gehandelt wird und wie dort ein gänzlich verdrostetes Wissenschaftspersonal auftritt, spricht allerdings Bände. Lassen wir Gressmann zu Wort kommen:

Eine Hauptaufgabe der alttestamentlichen Forschung ist gegenwärtig die Vergleichung der Religion und Literatur Israels mit den Religionen und Literaturen des vorderen Orients. Die Schranken, durch die das Alte Testament einst von der es umgebenden Welt isoliert wurde, sind längst niedergerissen. Nachdem zunächst die Überlieferungen des arabischen und syrischen Heidentums durch Julius Wellhausen und W. Robertson Smith herangezogen und in mustergültiger Weise verwertet sind, hat sich jetzt der Horizont erweitert und der Blick vornehmlich auf die beiden alten Kulturen der Babylonier und Ägypter gelenkt, die dank den Ausgrabungen und Entzifferungen der letzten Jahrzehnte in immer helleres Licht gerückt sind. Neue Probleme über den Zusammenhang und die Verwandtschaft der Literaturformen und Religionsanschauungen im vorderen Orient, über ihren Ursprung und ihre Wanderung, über Umbildung und Neuprägung, über Originalität und Parallelentwicklung sind aufgetaucht und harren einer befriedigenden Lösung. Wer nicht in unwissenschaftlichem Autoritätsglauben die Behauptungen der Forscher unbesehen hinnehmen, sondern selbst nachprüfen und sich ein kritisches Urteil verschaffen will, der muß das zur Entscheidung notwendige Material in zuverlässiger Form benutzen können. Bei den zahlreichen Hypothesen, die gerade auf diesem eben urbar gemachten Boden üppig ins Kraut schießen, ist völlige Objektivität und tiefe Versenkung in den Stoff unerläßlich für den, der die Gründe für und wider besonnen abwägen will. Er darf ferner nicht einseitig orientiert werden, sondern muß einen gewissen Überblick über das gesamte zur Verfügung stehende Material oder wenigstens über seine charakteristischen Erscheinungen gewinnen.

Der Herausgeber und seine Mitarbeiter haben sich daher bemüht, die Gesichtspunkte der Objektivität und der Zuverlässigkeit in erster Linie walten zu lassen. Alle Hypothesen und Konstruktionen sind nach Möglichkeit, oft zu eigenem Bedauern, unterdrückt worden, um das rein sachliche Interesse nicht zu verletzen. Die beigefügten Erklärungen sollen lediglich dem Verständnis des Dargebotenen dienen. Wenn hin und wieder eine Übersetzung unklar ist und eine Erläuterung in den Anmerkungen vermißt wird, so darf daraus im allgemeinen auf eine Unklarheit des Urtextes selbst geschlossen werden, die zu überwinden bisher nicht gelungen ist. Auch für den Spezialforscher sind leider noch viele Rätsel der Wortbedeutung und des Zusammenhanges ungelöst, worauf hier ein für alle Male aufmerksam gemacht sei.


Erstpublikation am 21. Juni 2023 auf Achgut.com. Hier mit einigen kleinen Korrekturen und in klassischer deutscher Orthographie.