σύνταξις | IV | syntaxis

Geschrieben von Uwe Jochum am 18.7.2023

Vom selben Autor:


Habeck, der Formlose


Uwe Jochum

Wissenschaftlicher Bibliothekar

Auch interessant:


Frau Weisband und die Twitter-Sezession


Es geht wieder los

»Ein Volk ist immer nur Eine Ausprägung der göttlichen Allseitigkeit; sowie es unter sich bleibt, auf sich selbst angewiesen, würde es sich nach einer Richtung entwickeln und schließlich der Entartung durch Inzucht anheimfallen. Es soll also stets einen Zuzug von Fremden haben; aber diese sollten weder als Herren über ihm, noch als Sklaven unter und neben ihm abgesondert leben, sondern es sollte sie mit sich verschmelzen, denn nur dadurch können sie seine Art erweitern und frisch erhalten. Ein Volk sollte also nicht mehr Fremde aufnehmen, als es sich assimilieren kann, und nur solche, die sich assimilieren lassen, damit seine Volkseinheit gegliedert, aber nicht zerstört werde.«
(Ricarda Huch: Der Sinn der Heiligen Schrift. Leipzig: Insel, 1919, S. 249.)

ξ

»Der Kitt der Macht ist, mein Lieber, daß niemand nichts weiß. Aber es traut sich keiner was, weil er glaubt, daß der Nächsthöhere etwas wisse. Einer schreibt immer dem Nächsthöheren mystische Wissenschaft zu. Aber im Gegenteil: Je höher hinauf, desto weniger weiß einer, und wer ganz innen in der Maschinerie sitzt, der hat den Verstand verloren. Besiehst du es recht, so braucht in der Mitte nicht einmal etwas zu sitzen. Die Maschine läuft, ein Teil nimmt den andern mit. Denken Sie einmal technisch, denken Sie in solchen Fachausdrücken wie ›Nockenwelle‹ oder ›Mitnehmerscheibe‹. Das ist doch gut, wie? Das läuft, wissen Sie auch zu welchem Zweck? Das läuft ganz allein deshalb, damit es nicht aufhört. In der Mitte aber ist schon lange nichts mehr oder nie gewesen.«
(Gerd Gaiser: Das Schiff im Berg. Schnellroda: Antaios, 2022, S. 170 f.)

ξ

Darum geht schröcklich über
Der Erde Diana
Die Jägerin und zornig erhebt
Unendlicher Deutung voll
Sein Antlitz über uns
Der Herr. Indes das Meer seufzt, wenn
Er kommt

O wär es möglich,
Zu schonen mein Vaterland

(Hölderlin: Hymnische Entwürfe, Sonst nämlich, Vater Zeus)

ξ

Die Altparteien sind ganz versessen darauf, Jugendliche, die keine Erfahrung haben und kaum etwas von der Komplexität der Welt wissen, Jugendliche, die wenig erst gelernt haben, aber ein großes moralisches Ego haben, von dem sie meinen, die Welt müsse ihm folgen, und sei es eben mit Zwang — die Altparteien also sind ganz heiß darauf, diesen Jugendlichen das Stimmrecht zu geben. Das Kalkül dahinter ist trivial: Die Altparteien meinen, die Jugend werde sie dafür bei der nächsten Wahl belohnen und ihnen ihre Stimme geben. Das ist nun aber selbst erfahrungsloser Unfug und daher ein dummes Kalkül. Wahrscheinlich aber einfach böse Tat, die um des vermeintlichen Vorteils willen den Staat ruiniert. Denn ein Staat kann nicht von Jugendlichen geführt werden.

Hören wir dazu:

»Die Lehre von der Selbständigkeit der Jugend ist eins von den besonders gefährlichen modernen Dogmen; ihre Untugend, ihr Übermaß, ihr Ausschweifen soll man ihr lassen, zum Befehlen und Regieren ist sie aber nicht berufen.«
(Ricarda Huch: Der Sinn der Heiligen Schrift, S. 307.)

ξ

»Allerspätestens seit dem Frühjahr des vergangenen Jahres [2020, U.J.] bemerken immer mehr Leute, daß es politisch auf der ganzen Welt offenkundig mit dem Teufel zugeht.«
(Caroline Sommerfeld: Versuch über den Riß. Schnellroda: Antaios, 2021, S. 44.)

ξ

Warum aber geht es mit dem Teufel zu? Weil der Teufel, der diabolos, einer ist, der alles durcheinanderwirft – das griechische Verb, das zu diabolos gehört, ist diaballein, »durcheinanderwerfen«. Im Durcheinanderwerfen stört der Teufel die Ordnung, bis sie endlich ganz zerstört ist. Wie aber gelingt ihm das? Es gelingt ihm, indem er die Menschen dazu bringt, die Gemeinschaft, der sie immer schon zugehören — sei es die Gemeinschaft der Familie, der Stadt, der Landschaft, in der sie aufwuchsen, des Staates, der sie beschützt —, aufzukündigen, und das geschieht in dem Moment, da sie sich auf sich selbst beziehen und sich selbst nur noch selbst bestimmen wollen. Aber wollen wir das nicht alle? Natürlich wollen wir das. Aber es gibt zwei Formen, sich selbst zu bestimmen, eine vollumfängliche und eine defizitäre. Vollumfänglich wird unsere Selbstbestimmung, wenn wir darauf achten, wer wir sind, wer wir geworden sind und wer wir werden wollen. Dann stellen wir fest, wie sehr wir auf andere Menschen angewiesen waren und angewiesen sein werden, auf eine Gemeinschaft, die uns vorausliegt und die wir zugleich durch unser Dasein, unser Denken und Handeln, verändern; wir leben immer in einer Welt, die bestimmt ist und offen zugleich, in der wir im Alltag vieles mit vielem vermitteln müssen, indem wir miteinander sprechen und miteinander Dinge anpacken oder unterlassen.

Defizitär aber wird unsere Selbstbestimmung, wenn wir unsere Subjektivität rein so, wie sie uns erscheint, zum Maßstab unserer Selbst- und Fremdbeurteilung nehmen, ohne uns noch die Mühe zu machen, unser Selbstbild mit den vielen Fremdbildern abzugleichen, mit anderen über Gott und die Welt und die anderen und uns selbst zu reden. Kurz: Indem wir uns auf unser Selbstgefühl berufen und dieses zum Maßstab für alles machen, was uns in der Welt widerfährt. Es gibt dann keine Gründe mehr, mit denen wir unser Handeln und Denken zu rechtfertigen hätten, es gibt nur noch das einfache Gefühl in uns. Das ist die teuflische Lage, in die wir gekommen sind, es ist die Lage einer zunehmenden Desintegration, die dadurch zuwege gebracht wird, daß unsere woken Mitbürger ihr wokes Gefühl über alles andere und über alle anderen setzen und allen Ernstes meinen, es genüge, um die Welt gut einzurichten, sich selbst als etwas zu fühlen und mit dem Recht dieses Selbstgefühls die bisherige gemeinsame Welt aus den Angeln zu heben, um sie durch eine bessere Welt zu ersetzen. Aber wie Hegel schon warnte: »Solch einen Menschen muß man stehen lassen; denn er zieht sich in die Eins seiner Besonderheit zurück, die unantastbar ist. Mit dem Appellieren an das eigene Gefühl ist die Gemeinschaft zwischen uns abgerissen.« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion, hrsg. von Georg Lasson, Bd. 1. Hamburg: Meiner, 1974, S. 102.)

ξ

An dieser Stelle ist eine Digression angesagt: Haben nicht Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey in ihrem von vielen Kartellmedien gelobten Buch über die Gekränkte Freiheit genau dies gesagt: daß unter anderen die Querdenker und Coronamaßnahmen-Protestler vom Staat mit seinen freiheitseinschränkenden Maßnahmen in ihrem Selbstbestimmungsrecht und ihrer Freiheit gekränkt wurden und aus dieser Kränkung heraus die Solidaritätsverpflichtung gegenüber den »vulnerablen Gruppen« nicht sehen konnten, sondern bei ihrem mit den gesellschaftlichen Bedürfnissen und Pflichten unvermittelten Selbstgefühl stehenblieben, so daß daraus ein »libertäres Freiheitsverständnis« folgte, das der Komplexität der modernen Gesellschaft völlig unangemessen sei?

Das ist natürlich eine völlige Verzeichnung der Vorgänge, die im Frühjahr 2020 einsetzten und immer noch nicht überwunden sind. Denn die Maßnahmengegner waren und sind keineswegs die beleidigten Leberwürste, als die sie Amlinger und Nachtwey zeichnen, sondern kritische Zeitgenossen aus vorwiegend linksgrünem und liberalem Milieu, die darüber entsetzt waren und sind, daß alles das, was bislang in unserer Gesellschaft galt und als demokratische Verfahrensweise Bestand zu haben schien, innerhalb weniger Wochen über Bord geworfen wurde. Es ging daher niemals um eine Kränkung, sondern um die Frage der Wirklichkeit: Konnte der Staat mit Recht sagen, er habe ein angemessenes Verständnis der viralen Wirklichkeit und daher auch das Recht, freiheitseinschränkende Maßnahmen als wirklichkeitsangemessene Maßnahmen zu verfügen? Oder hatten die Maßnahmengegner Recht, als sie die medial in die Wohnstuben projizierte Wirklichkeit für ein statistisches Artefakt und eine emotionale Manipulation der Mitbürger hielten, so daß folglich auch die staatlichen Maßnahmen illegitim und schädlich waren (und sind), weil in jedem Zug verstärkt ins Totalitäre spielend?

Zu diesem grundlegenden Konflikt haben Nachtwey/Amlinger nichts zu sagen, denn sie teilen von vorneherein die staatliche Position und verrechnen daher den Widerstand gegen die Maßnahmen nicht als möglicherweise angemessene Wirklichkeitswahrnehmung, sondern als unangemessenen Effekt einer persönlichen Kränkung. Statt der geforderten Vermittlung divergierender Positionen, statt der Debatte über unterschiedliche Geltungsansprüche liefern Nachtwey/Amlinger daher eine staatskonforme Interpretation der viralen Wirklichkeit plus eine Legitimationserzählung zur Entlastung der Maßnahmenbefürworter, zu denen sie selbst ganz offensichtlich zählen. Denn die Gekränkten haben nach Ansicht von Amlinger/Nachtwey aufgrund ihrer Kränkungserfahrung schlicht und einfach eine verzerrte Wirklichkeitswahrnehmung, die sie auf autoritäre Weise an ihrer individuell gesetzten Freiheit festhalten lasse, zum Schaden aller anderen. Diese einseitig von den Gekränkten behauptete Freiheit, die die Bedürfnisse aller anderen geringschätze, sei nun aber genau deshalb »autoritär«, weil sie unvermittelt sei und sich in dieser Unvermittelheit gegen die Gesellschaft insgesamt stelle. Das alles sei »autoritär«, und weil es »autoritär« sei, ist es für Amlinger/Nachtwey auch nicht »progressiv«. Und damit ist das abschließende Urteil gesprochen: Der analysierte Gegner ist rechts und folglich intellektuell zur Strecke gebracht.

Die Pointe ist natürlich die, daß sich Amlingers und Nachtweys als Sozialwissenschaft getarnte Invektive gegen die Maßnahmenkritiker als spiegelverkehrte Wirklichkeitswahrnehmung lesen läßt und damit als einfache Seitenverkehrung der realen Verhältnisse. Nimmt man nämlich die Wahrnehmungen und Analysen der Maßnahmengegner ernst und erkennt sie als wirklichkeitsadäquat, wird umgekehrt aus Amlingers und Nachtweys vermeintlicher Analyse die Verarbeitung einer ungeheuren Kränkungserfahrung während der Corona-Maßnahmenzeit (und seit Pegida): Die Staatskritik, auf die die Linke abonniert schien, kommt seit Jahren nicht mehr von links, sondern von rechts, und maßgebliche Gruppen und immer mehr Menschen wenden sich von den linken und längst staatsgedeckten und -geförderten Ideologemen ab, um tatsächlich mit ihrer Freiheit die Freiheit aller anderen zu verteidigen, während die Linke, die die Freiheit im herrschenden System hervorragend aufgehoben findet, ohne einen Freiheitsbegriff dasteht, der Freiheit anders denn als staatsgegebene Freiheit verstehen kann. Das alles zu verdecken, mühen sich Amlinger und Nachtwey weniger redlich als vergebens. Sie sind zusammen mit ihrer Analyse daher schlicht ein Symptom und Element der Probleme, mit denen wir es zu tun haben und die der größte österreichische Autor Heimito von Doderer einmal »Apperzeptionsverweigerung« nannte.

Kurzum, man muß sie stehen lassen; denn sie aktivieren, indem sie andere der Kränkung zeihen, letztlich bei sich und anderen, die sich als »links« noch verstehen mögen, das Gefühl der eigenen Kränkung und bringen dieses Gefühl unter dem Unbegriff des »libertären Autoritarismus« in Stellung gegen alle, die die Welt nicht so sehen wie Amlinger/Nachtwey. Nocheinmal Hegel: »Mit dem Appellieren an das eigene Gefühl ist die Gemeinschaft zwischen uns abgerissen.«

Wer eine längere Analyse zu Nachwey und Amlinger lesen möchte, sollte Ingbert Jüdts Rezension »Verstörtes Posthistoire« zur Kenntnis nehmen.

ξ

Hören wir, als Summe, Alexis de Tocqueville zu (Über die Demokratie in Amerika, dtv-Ausgabe S. 15):

»Die religiösen Menschen bekämpfen die Freiheit, und die Freunde der Freiheit greifen die Religion an; edle und großmütige Geister rühmen die Sklaverei, und niedrige und knechtische Seelen preisen die Unabhängigkeit; ehrenhafte und gebildete Bürger sind Feinde allen Fortschritts, während Menschen ohne Vaterlandsliebe und ohne gute Sitten sich als Apostel der Kultur und der Aufklärung gebärden.«