Aufheben

Teil 9 — Zweite Austreibung. Bücher von Heimatvertriebenen aus Böhmen

Geschrieben von Jürgen Schmid am 9.10.2024

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Ein 101. Geburtstag

Hommage an den Volkskundler Georg R. Schroubek

Süß ist es, in den Behausungen
der Ahnen herumzustöbern und in der Erinnerung
die Worte und Taten der Alten durchzugehen.
(Hegesippus1)


In der Bibliothek des Sudetendeutschen Hauses in München steht direkt am Eingang ein Bücherregal, aus dem sich der Gast gegen eine kleine Spende bedienen kann. Dort geben die Enkel und Urenkel heimatvertriebener Sudetendeutscher, der soge­nannten »Erlebnisgeneration«2, jene Erbstücke in Buchform ab, die für sie keinen Wert mehr besitzen. Immerhin: Sie werfen die Bücher, die sie im Nachlass ihrer Vorfahren finden, nicht auf den Müll. Sie haben dafür aber auch keine Verwendung mehr — nicht für ihren Inhalt als solchen, offensichtlich nicht einmal mehr für das Familienerbstück, mit dem existentielle Erinnerungen seines Besitzers verbunden sind. (Wenn ein Wissen um die historischen Zusammenhänge überhaupt noch vorhanden ist.)

Offensichtlich sind sogar Bücher zur Weggabe aus Familienbesitz gekommen, welche auf Grund ihres Erscheinungsjahrs im Gepäck ihrer heimatvertriebenen Besitzer den bitteren Weg aus der Heimat begleitet haben könnten, etwa ein Städtebuch über Eger von 1939.3 Nach dem Besitzervermerk auf dem fliegenden Blatt gehörte dieses Exemplar Emil Janka (1894–1952), als Jurist von 1941 bis 1945 letzter deutscher Bürgermeister in Eger, der am Kriegsende die Stadt kampf­los an die Amerikaner übergab und damit — so Wikipedia — ihre Zerstörung verhinderte. Der Verfasser des Städtebuchs, Wilhelm Turnwald, wurde in der Nachkriegszeit als Herausgeber der »Dokumente zur Austreibung der Sudetendeutschen«4 zum Anwalt des Schicksals von dreieinhalb Millionen aus Böhmen vertriebener Landsleute.

Ebenfalls in diesem Fundus des Aussortierten: Besitztümer von Personen der Zeitgeschichte wie das wunderbar ausgestattete »Volksbuch sudetendeutscher Mundartdichtung«, das einen grünen Besitzerstempel »Dr. Josef Mattauch« trägt.5 Mattauch (1895–1976), gebürtig in Mährisch-Ostrau, als Physiker im Bereich der Radioaktivität und Kernspaltung forschend und 1947 zum Nachfolger von Otto Hahn in Berlin berufen, unterzeichnete 1957 als einer der Göttinger Achtzehn zusammen mit Werner Heisenberg und Carl Friedrich von Weizsäcker das »Göttinger Manifest«, das sich gegen die geplante Aufrüstung der jungen Bundeswehr mit Atomwaffen wandte.

Böhmische Sagengestalten bei Preußler Vater und Sohn

Eines der Bücher, die man jüngst im Sudetendeutschen Haus am Münchner Isar­hochufer aufheben konnte, sind Josef Preußlers (1891-1967) »Wanderungen um Reichenberg« aus dem Jahr 1931, in einem Nachdruck von 1960.6 Der Autor, ein Lehrer, ist Vater des Schriftstellers Otfried Preußler. Beide verloren 1945 ihre böh­mische Heimat durch Vertreibung; beide lebten nach dem Krieg im oberbayerischen Landkreis Rosenheim, Vater Josef erst nach Verbüßung einer fünfjährigen Lagerhaft in der Tschechoslowakei wegen Zugehörigkeit zu NSDAP und SA.

Preußlers Wanderführer erschien im Nachkriegs-Neudruck in Augsburg, wohin es viele Sudetendeutsche verschlagen hatte, so auch den Verleger Adam Kraft (1898–1976). Sein Karlsbader Verlag, gegründet 1927, übersiedelte mit ihm an den Lech, wo er böhmischen Autoren zwischen 1950 und 1973 eine publizistische Heimat bot.

Das Exemplar, das im Sudetendeutschen Haus feilgeboten wurde, trägt eine hand­schriftliche Widmung: »Die Wege vergrast, die Felder verwachsen, die Menschen, die sie einst betreuten, ruhen sanft in fremder Erde« — als ein Weihnachtsgeschenk anno 1992 an den Ingenieur Erwin Schöler, Jahrgang 1922, einer aus der »Erlebnisgene­ration« deutscher Heimatvertriebener.

Entgegen den Erwartungen dessen, der weiß, daß Josef Preußler ein großer Sagensammler war, findet sich dieses Genre im Wanderführer recht stiefmütterlich behandelt — und wenn, dann nur in vagen Andeutungen, wenn bei einer Wanderrast jemand »die Sage von der nahen Eduardsbuche [erzählt], bei der vorzeiten ein Zweikampf zwischen einem Grafen Gallas und einem adeligen Offizier stattgefunden habe. Wohl um ein Mädelherz! — ›Altverbrauchte Romantik!‹ kichert die Jüngste.«7 Vielmehr schwelgt Preußler in historischen Erläuterungen, als stete Leitmotive begleiten den Leser auch Naturbetrachtung und Pflanzenkunde.

Wenn Vater Preußler von einem Teich erzählt, in dem »der Wassermann seine Braut, eine wunderliebliche Bauerntochter, ertränkte«8 — eine Ortssage, welche dem »stim­mungsvoll-ländliche[n] Bilde« der beschriebenen Gegend doch einen Abbruch täte —, scheint die grausame Seite der böhmisch-schlesischen Wassermann-Sagen auf, auf die auch Will-Erich Peuckert im »Volksglaube des Spätmittelalters« hinweist — und die Sohn Preußler im Kleinen Wassermann ins Menschenfreundliche wenden sollte.

In der Nähe dieses Wassermann-Teichs lebt der Lehrer und Mundartforscher Hans Dittrich, den wir mit Preußler in seiner Studierklause besuchen.9 Verloren dessen »reichhaltige Bibliothek« und »seine selbst erarbeiteten wissenschaftlichen Schätze«; überliefert immerhin das Buch, aus dessen Manuskript der Besucher Kostproben vorgelesen bekommt — über die Mundart des Bezirks Reichenberg.10 In Zeiten, wo immer mehr dialektale Eigenheiten in einem Einheitsbrei untergehen und die UNESCO meint, diesem Verlust mittels bürokratischer Eintragung des Gefährdeten in Listen eines »Immateriellen Weltkulturerbes« entgegenwirken zu können — eine lächerliche Vorstellung —, wiegt es umso schwerer, daß die Dialekte der Heimat­vertriebenen unwiederbringlich aussterben.

Chronik der verlorenen Heimat

Im Münchner Verschenkregal stand unter vielen kleinen bunten Heftchen der Reihe »Sudetendeutscher Novellenring« eines mit dem Titel »Der Bauerntreck«, das mit den Worten beginnt: »Das Dorf muss geräumt werden«.11 Sein Autor Erwin Ott (1892–1947), ein schreibender Lehrer, geboren in der »fast rein deutsch besiedelten Stadt Jägerndorf in Österreichisch-Schlesien« (Jörg Krappmann), führt den Leser an Weih­nachten 1944 in eine Bauernstube irgendwo im von der Roten Armee bedrohten Osten. Es sind die letzten Tage vor der Flucht.

Erwin Ott kannte als Heimatvertriebener aus eigenem Erleben, was er erzählte. Daß er ein »aufrechter Verfechter des Deutschtums« im Sudetenland war, steht außer Frage.12 Seine weltanschaulich-politische Einstellung kann aus seinen Romanen erschlossen werden, nicht ohne zu konstatierende Widersprüchlichkeiten: Für den Germanisten Jörg Krappmann, Mitarbeiter der Forschungsstelle für deutsch-böhmi­sche Literatur, ist Otts Dystopie »Das Drama der sieben Tage« (1932) ein »Muster­beispiel des konservativen Kulturpessimismus«, worin in einer Einpeitscherfigur ein Porträt Hitlers als deutlich erkennbare »Kritik am Nationalsozialismus« aufscheine. Umso erstaunter registriert Krappmann eine »Verherrlichung des Nationalsozialismus und seines ‚Führers’« in »Die Gejagten« (1942), hält es aber für möglich, daß ein Autor, der sich »dermaßen schamlos der propagandistischen Elemente des Natio­nalsozialismus« bedient, »eine satirische Wirkung« beabsichtigt haben könnte. »Die Gefesselten«, postum erschienen 1949, zeichnen das Drama der Vertreibung der Sudetendeutschen aus Böhmen, woran Krappmann eine »antitschechische Haltung« mißfällt — bei einem Mann, den eine mehrmonatige tschechische Internierungshaft so zeichnete, daß er bald darauf im Alter von nur 55 Jahren starb.

Otts »Bauerntreck« setzt ein, wo die Tage in der Heimat gezählt scheinen und der Bauer über Grundsätzliches nachsinnt: Heimat ist für ihn da, »wo ihm sein Acker bereitet ist zu Saat und Frucht und Ernte. An diesen Acker denkt man zuerst, wenn man von ihm fortmuß. Er bleibt nicht nur an den Sohlen hängen, wenn die Hand den Pflug über ihn führt […]. Der Acker hängt am Herzen«. Der Hof ist Menschenwerk, er kann vergehen und wieder aufgebaut werden — der Acker aber »ist das Ewige«. So ist es schwerer, von ihm zu scheiden als von allem anderen, was man zurücklassen muss.13

Schließlich nimmt der Bauer ein Buch zur Hand, »schlägt Seite um Seite zurück […]. ›So lange das Dorf steht, steht unser Hof.‹ Eine Seite knistert und knittert unter einem zähen Krampf in seiner Hand. ›So lange —.‹ Das hat der Bauer in vielen Wintern und aus mancherlei Büchern und Urkunden sich zusammengesucht […]. Weiter blättert der Bauer in dem Buche zurück. Seite um Seite. Die große Ruhe scheint wieder in ihm zu sein. Und der Stolz, wie damals, als er an dem Buche schrieb. ›Zweihundert Jahre sitzt unser Geschlecht auf dem Hof.‹ Die Hand blättert nicht mehr.«14

Was soll mit der Chronik geschehen, wenn sie wegmüssen von Zuhause? »›Wir wollen das Buch mitnehmen, Frau.‹ Er klappt es leise zu. ›Weißt du, ich meine, das Buch ist unser Dorf‹. […] ›Ja, Mann, das Buch soll den Kindern erhalten bleiben, damit sie es vererben und jeder auf dem Hofe weiß, was er tun muß!‹ antwortet die Bäuerin.«15

Das Erstellen der Chronik des Eigenen ist dem Bauern keine Freizeitbeschäftigung zur Füllung leerer Zeit. Es ist Vergewisserung der Heimat, die für den Bauern nichts anderes ist als sein Acker und Hof.16 Und das Buch ist — die Bäuerin spricht es aus — ein Stammbuch der Familie, weiterzugeben von Generation zu Generation, ein Nachweis des Herkommens. Aber der Hof, den die Chronik beschreibt, geht verloren — nur im Buch, das die Flucht begleitet, bleibt das Verlorene aufgehoben.

Die nächste Generation im Westen, wo die ihrer Äcker und Höfe Beraubten nun siedelten, gab ihre neuen Höfe auf — die einen früher, die anderen später; manche streiften ihr Bauersein gleich mit der Umsiedlung ab —, nicht wenige mit Stolz auf den »Aufstieg«, den ihnen ihr Ausstieg aus der Landwirtschaft ermöglichte. Manch einen mag später die Nostalgie angekommen sein; man stöberte dann etwas in der Fami­lien-Genealogie herum, zum Zeitvertreib — ohne daß eine konkrete »Heimat« existiert hätte, deren Geschichte und Geschicke festzuhalten und weiterzugeben gewesen wäre.

Die Enkelgeneration schließlich, Heimat und Bauerntum längst komplett entfremdet, kann mit den Chroniken der heimatvertriebenen Vorväter nichts mehr anfangen: nichts mit Otts Bauerntreck; nichts mit einem Bilderbuch über das Jeschken, Iser-, Riesengebirge;17 nichts mit Dichterstimmen aus dem Sudetenland;18 nichts mit einer Dokumentation der sudetendeutsche[n] Tragödie,19 in der man hätte lernen können, daß nicht alle Sudetendeutschen, die für ihr Deutschtum eintraten, Hitleristen waren, sondern viele — wie der Verfasser, Walter Brand (1907–1980)20 — jahrelang im Konzentrationslager saßen, weil sie den Anschluß an das Reich abgelehnt hatten — all das und vieles mehr nimmt die Endstation Bücherflohmarkt.

Unaufhaltsam verblassen die Schicksale der »Erlebnisgeneration« in den Familien­erinnerungen, die von Erwin Ott beschworenen Chroniken der Vorfahren werden zu materiellem Ballast. Niemand lebt mehr als Bauer und bezeichnet Acker und Hof als seine Heimat. Eine Ersatzhandlung aber gemahnt unablässig an das verschüttete Erbe im Städter und Pendler: Man hält sich einen Blumengarten, um etwas zum »Bestellen« zu haben. Man entkommt einer jahrtausendealten Mentalitätsprägung zum Landbesteller nicht über Nacht durch einen Willensakt. Oder in der Mahnung Hanns Cibulkas, der wie Erwin Ott aus Jägerndorf stammt: »Dort, wo der Gärtner in uns stirbt, stirbt das Leben«.

Rekonstruktion verlorener Heimat — Stifter-Nachkriegsausgaben

Am schwersten wog wohl für die »im Westen« angelangten Heimatvertriebenen, daß Menschen, die sich in der Heimat täglich sahen, nun oft in alle Winde zerstreut waren. Das galt für Familienangehörige und Freunde, aber auch für Institutionen wie die deutsche Prager Universität und ihren Lehrkörper. Im Jahr 1950 versuchte sich in München ein aus Prag vertriebener Buchhändlerlehrling namens Georg Schroubek, später Volkskundler an der LMU, an einer Rekonstruktion: Er erfand die Prager Nachrichten, die er als Herausgeber, Chefredakteur, Korrespondent, Schriftsetzer, Korrektor und Auslieferer in Personalunion verantwortete.21 Die Zeitschrift verstand sich als Sammelbecken für das Kollegium der zerschlagenen »Alma Mater Pragen­sis«. Doch Schroubek wollte mehr: eine Wiederbelebung im »Exil«. Seine Vision einer »Ostuniversität« in Regensburg wurde allerdings nie verwirklicht.

Neben dem Wiederverweben menschlicher Verbindungen, die zerrissen waren, mutete anderes zweitrangig an, aber eben doch als Problem, das zu lösen stand. Was für die gesamte Kriegsgeneration gilt — der Verlust an materieller Habe, auch an Buchbeständen —, trifft in verstärktem Maße auf die Heimatvertriebenen zu. Der schlesische Volkskundler Will-Erich Peuckert macht 1949 im Vorwort seines Buches Wiedergeburt darauf aufmerksam, wie viele private Bibliotheken verloren gingen und welche Anstrengungen nötig sein würden, diese Verluste zu ersetzen.22

Was den Heimatvertriebenen der »Erlebnisgeneration« bei der Wiederbeschaffung schlaflose Nächte bereitet haben dürfte, manchmal vielleicht auch den schmalen Geldbeutel über Gebühr strapazierte, scheint manchen Nachkommen irrelevant. Ins »Kann-weg«-Regal wanderten mehrere Stifter-Ausgaben und biographische Literatur über den Dichter aus den Jahren 1946 bis 1949. Adalbert Stifters Werk bot sich an als Identifikationsanker für die allüberall in Westzonesien gestrandeten Sudetendeut­schen. Wer sollte sich besser eignen, den Schmerzen der »Amputationswunde«, so der ausgetriebene Deutsch-Prager Georg Schroubek, etwas Linderndes entgegen­zusetzen als der böhmische Nationaldichter? Und da die Flüchtlinge kaum etwas von ihrem Buchbesitz aus der Heimat hatten retten können, musste in größerem Stil nachgedruckt werden.

Als für den basso continuo von Aufheben geradezu paradigmatisch erweist sich unter den Stifter-Büchern Die Mappe meines Urgroßvaters, im Sudetendeutschen Haus in einer Bremer Ausgabe des Jahres 1947 gefunden; gedruckt mit US-Lizenz auf — für diese Zeit der Mangelbewirtschaftung — ordentliches Papier.23 Das Nachwort verfaßte mit dem Germanisten Franz Hüller (1885–1967) ein profunder Kenner, in Zwischenkriegszeiten Mitarbeiter der »Prager Ausgabe« der Werke Adalbert Stifters.

Das einleitende Kapitel der Mappe trägt den Titel: »Die Altertümer«. Diese findet der Ich-Erzähler allüberall in seinem Elternhaus; als Höhepunkt eben jene »Mappe«, die sich als Lebensgeschichte des Urgroßvaters, des Doktor Augustinus, erweist — und die der Nachfahre ehrfürchtig und gewissenhafter als mancher professionelle Archivar begutachtet, zur Aufbewahrung aufbereitet, transkribiert und seiner Familie (und damit uns als Lesern) darbietet. Die Arbeit an diesem Buch hat Stifter lebens­lang begleitet; das Buch dürfte in seiner hier vorliegenden Nachkriegsausgabe wiederum seinen heimatvertriebenen Besitzer lange begleitet haben — gerade seine wenig ehrfürchtige Verklappung in einem Mitnahmeregal zeugt entweder von purer Nichtkenntnis seines Inhalts bei denen, die es entsorgten oder von mangelnder Ehr­furcht den Ahnen gegenüber. Denn das Motto, das Stifter der Mappe beigegeben hat, ist justament das Zitat, mit dem diese Folge von Aufheben beginnt.

Stifter selbst wird nicht selten als »Dichter der Ehrfurcht« besungen — einer Ehrfurcht vor der Schöpfung vor allem, die in allen seinen Werken Generalthema ist: »Stifter weiss nichts von einem zum abstrakten Geist verflüchtigten Gott; er fühlt, wie er andringt aus Busch und Baum, aus Gluten des Sommers, aus herbstlichem Licht und majestätischer Winternacht.«24 Der Dichter versteht zu lesen in Gottes Buch der Natur — und erscheint damit als Seelenverwandter eines zweiten Österreichers, des­sen Ruhm wie sein eigener »am Ende des ersten Weltkrieges begründet« wurde25: Anton Bruckner. Merkwürdig nur, wie ungeschoren Stifter in wachen Zeiten davon­kommt, während der Komponist im Bruckner-Jahr beinahe diabolisiert wird. Wo SZ-Journalist Heribert Prantl im Gefolge eines Münchner Germanisten den Dichter des Bergkristall als »therapeutischen Entschleuniger« preist, dessen weitausholende handlungsarme Erzählweise Not täte »im Zeitalter einer rasanten Beschleunigung aller Lebensvollzüge«, gilt für zeitgerechte Bruckner-Interpretationen das genaue Gegenteil: Beschleunigung durch »forsche Tempi« ist im Sinne eines »demokratischen Musizierens« geboten — je schneller man Bruckner’sche Symphonien dirigiere, desto mehr ziehe man diesen »Klangkathedralen« den faschistoiden Zahn des Pathos.26

Wer nun also meint, Stifter als »Dichter der Ehrfurcht« sehen zu müssen, wandelt auf dünnem Eis. Denn »Ehrfurcht vor einem Genie, das solch überwältigende Werke schuf, und vielleicht vor Gott, der diesem Mann seine Ideen eingab« (und Ehrfurcht vor Gott empfand nicht nur Bruckner, sondern auch Stifter) — das gilt heutzutage als »verdächtig«, so Georg Etscheit in seiner Kritik der Ehrfurchts-Verächter und Pathos-Kritiker.27 »Adalbert Stifter als Dichter der Ehrfurcht« – genau diese Position bezog Emil Staiger (1908–1987), ein heideggerianisch geprägter Schweizer Germanist, in einer brillant geschriebenen Hommage, die ebenfalls als Teil einer Abwurfmasse im Sudetendeutschen Haus landete28 — zusammen mit einer Nachkriegsdünndruck­ausgabe des Witiko,29 in dem Staiger Gott »überall sichtbar« walten spürt, »am wunderbarsten in Kirche und Staat, in Böhmen, sofern es als Glied der universalen Ordnung erscheint, die Stifter im Mittelalter verehrt. Das Heilige ist das Öffentliche; das Unheilige aber muß sich verbergen und ängstigen in einsamer Not. Dies war es, was den Dichter zwang, das Mittelalter zu preisen als Gegenbild seiner verkehrten eigenen Zeit, wo sich das Heilige scheu verbirgt und die Öffentlichkeit unheilig ist. Im Böhmen des 12. Jahrhunderts fand sein Geist die langentbehrte Gemeinschaft.«30

Das Mittelalter, darin ist es sich mit Stifter einig, kennt nicht nur keinen abstrakten Gott, sondern auch keinen abstrakten Staat, sondern — und dies bildet den Kern des Witiko — konkrete Personenverbände, in einer überschaubaren, geordneten und hierarchisch gegliederten Gemeinschaft.

Das unscheinbarste aller aufgefundenen Druckwerke schließlich ist die früheste Stif­ter-Biographie aus der Feder des heute vergessenen Apothekers und Schriftstellers Heinrich Reitzenbeck aus dem Jahr 1853, deren Entstehen der Dichter noch selbst miterlebt und deren Gültigkeit er gebilligt hat31 — eine Wiederentdeckung durch Max Stefl (1888–1973), Bibliothekar an der Münchner Staatsbibliothek. Im »Dritten Reich« aus politischen Gründen dienstenthoben, gründete der frisch Rehabilitierte 1946 die Adalbert-Stifter-Gesellschaft. Im Amt des ersten Vorsitzenden kam er naturgemäß in Kontakt mit literarisch ambitionierten Heimatvertriebenen aus Stifters böhmischer Heimat — darunter offenbar auch ein sudetendeutscher »Volkstumskämpfer« namens Johannes Stauda (1887–1972), dem Stefl sein Stifter-Büchlein aus dem Jahr 1948 mit einer persönlichen Widmung versehen überreichte und aus dessen Nachlass es ins Ramschregal gekommen sein muss. Welche Lebensgeschichte Stauda prägte und warum die Invektive »Volkstumskämpfer« mit Vorsicht gebraucht werden sollte, dazu muss ein etwas größerer historischer Bogen aufgespannt werden.

»Volkstumskampf« der Deutschböhmen

Josef Preußler, Erwin Ott, Franz Hüller und Johannes Stauda — diese Sudetendeut­schen, deren Lebenslinien in unserem Münchner Bücherfund greifbar werden, waren gebürtige »Habsburger«, die in der K&K-Monarchie ihre Kindheit erlebten, aufwuch­sen und ihre Berufe ergriffen, wie in Hüllers Fall — »geboren in Graslitz, Österreich-Ungarn« — sogar Wikipedia richtig vermerkt. 1919, als sie plötzlich Tschechoslowaken wurden, waren sie zwischen 27 und 34 Jahre alt, standen zumeist als Lehrer mitten im Berufsleben. Was derartige Staatsangehörigkeitsverschiebungen am grünen Tisch konkret bedeuten, formuliert der Banater Schwabe Richard Wagner: »Meine Großeltern waren in ihrer Jugend österreich-ungarische Staatsbürger. Sie wurden nach dem Ersten Weltkrieg über Nacht zu rumänischen Staatsbürgern, ohne das Dorf, in dem sie lebten, verlassen zu haben.«32

Johannes Stauda, Fahrtenleiter des Wandervogel, schildert das Trauma seiner Generation so: »Die überlebenden Wandervogelsoldaten des Gaues kamen in die von den Tschechen besetzte deutschböhmische Heimat zurück.«33 Dort, in der neu­gegründeten Tschechoslowakei, durfte fortan die deutsche Minderheit ihre Herkunft nicht einmal benennen: »Das Novemberheft von ›Burschen heraus!‹ [»Fahrtenblatt der Deutschböhmen’ von 1919] wurde wegen des Wortes ›Deutschböhmen‹ beschlag­nahmt. Nach den neuen Herren in Böhmen durfte es kein Deutschböhmen geben, sie hatten ja das geschlossene deutsche Sprachgebiet bei den Friedensverhand­lungen in Paris weggelogen.«34 Diese Überrumpelten aus Sicht der Nachgeborenen anklägerisch des »Volkstumskampfes« zu bezichtigen, ohne diese Tatsache zu berücksichtigen, ist ahistorisch, unsensibel und beschämend unterkomplex.

Welche Doppelmoral inzwischen in jenen Kreisen der Bundesrepublik, die sich selbst »linksliberal« nennen, unhinterfragt herrscht, zeigt die unterschiedliche Bewertung von »Volkstumskämpfen«: Wenn die Ukrainer auf ihr Recht pochen, ihren »genetischen Code weiterzugeben«, wird dieses Ansinnen vom deutschen Medien-Establishment begrüßt, während dasselbe Milieu nicht müde wird, den Sudetendeutschen der Zwischenkriegszeit ihr Ringen um ihre Sprache und Kultur als verdammenswert anzukreiden.

In der Neuen Deutschen Biographie referiert Peter Becher 2013 Staudas Beharren auf der deutschen Kultur der »Deutschböhmen« immerhin erfreulich sachlich: Dort heißt es, er hätte mit weiteren Wandervogelführern 1919 den »Böhmerlandbund« gegründet, der »für die ›Erneuerung des Deutschtums‹ in der Tschechoslowakei eintrat«, mit dem von Stauda im selben Jahr gegründeten »Böhmerland-Verlag« in Eger als publizistisches Sprachrohr. Repressionen blieben nicht aus: »1924 führte S.[tauda]s politische Tätigkeit zur Entziehung seiner Verlagslizenz durch die tsche­choslowakische Regierung und zu seiner vorzeitigen Pensionierung als Lehrer. […] S.[tauda] setzte sein Engagement für den Volkstumskampf durch die Gründung des Johannes-Stauda-Verlags in Augsburg fort.«

Eben diesen Verlag übernahm 1934 Karl Vötterle, Gründer des Bärenreiter-Musi­kalienverlags. So ist zu erklären, warum sich im Fundus des sudetendeutschen Mitnahmeregals ein weiteres Buch aus dem Nachlaß von Johannes Stauda fand: Haus unterm Stern, der Privatdruck einer in Teilen märchenhaft berührenden Bärenreiter-Verlagsgeschichte mit einer Widmung des Autors Karl Vötterle (1903–1975) für Johannes Stauda.35 Zusammengefunden haben die beiden Verleger, weil Bärenreiter, gegründet 1923 in Vötterles Heimatstadt Augsburg, seit 1927 mit Sitz in Kassel, sein frühes Verlagsprogramm auf die Herausgabe von Liederheften für die Jugendbewegung ausgerichtet hatte — Vötterle gehörte dem Wandervogel an —, und Stauda als Lehrer und Jugendführer von diesem Angebot Gebrauch machen konnte.

Nur allzu gerne wüßte man, wie die beiden Büchlein aus Staudas Nachlaß ins Ramschregal kamen. Es sind immerhin Widmungsexemplare prominenter Autoren, die mit Johannes Stauda persönlich bekannt waren. Jedenfalls zeugt es nicht von Wertschätzung gegenüber den Vorfahren, solch persönlichen Dinge wegzugeben wie man alte Socken entsorgt. Ob es zu weit gegriffen ist, von einer zweiten Vertrei­bung der Heimatvertriebenen aus den Erinnerungen der Nachfahren zu sprechen?

Manche hundertfünfzigprozentigen Vergangenheitsbewältiger haben ja durchaus ihre eigenen Probleme: Der Sohn eines heimatvertriebenen Sudetendeutschen erzählte mir, als er in den 1980er Jahren erstmals in die Tschechoslowakei fuhr, um sich ein Bild von der Heimat seines Vaters zu machen, sei er dafür von seinem Bruder als »Revisionist« beschimpft worden. Wenn solch ein Betonkopf Bücher aus der Hinter­lassenschaft seines Vaters vererbt bekommt, die dessen verlorene Heimat dokumen­tieren – was wird der wohl mit diesem Erbe anzufangen wissen?

Kein Opferstatus, keine Geschichte — fortwährende Entrechtung von Heimatvertriebenen

An Vertreibungen von Deutschen aus ihrer Heimat im Gefolge des Zweiten Welt­krieges zu erinnern, ist beinahe ein Tabu im Schuldkultland Deutschland. Deutsche haben Täter zu sein, nicht Opfer.

Nirgendwo trat dieses Diktum klarer hervor, als beim Versuch von Psychologen, die Traumata deutscher Kriegskinder Ernst zu nehmen — ein Versuch, der 2005, also sechzig Jahre nach Kriegsende, erstmals gewagt wurde. Seinerzeit »verwahrte sich Dieter Graumann von der jüdischen Gemeinde Frankfurt am Main gegen ein ›Ein­ebnen der Unterschiede‹, vor allem dürfe die ›Frage der Schuld nicht ausgeblendet werden, wenn Deutsche als Opfer des Krieges thematisiert werden‹.« Welche indi­viduelle Schuld aber sollte ein Kind des Jahrgangs 1940 haben, das in den Armen seiner Mutter 1944 durch das brennende Dresden getragen wird? Welche Schuld sollte an einem Gleichaltrigen haften, der brutal aus seiner böhmischen Heimat vertrieben wurde?

Kann man das Bauchgrimmen von Holocaust-Überlebenden in dieser Frage noch verstehen, entzieht sich der selbstgemachte deutsche Vorbehalts-Komplex gegen die Anerkennung der Tatsache, daß Deutsche Opfer von Unrecht waren, jeglichem Nachvollzug. Ein Kriegskinder-Forscher berichtet, daß um die Jahrtausendwende ernsthaft darüber diskutiert wurde, »ob eine Forschung zu deutschen Kriegskindern ›erlaubt‹ sei«. Eine andere Protagonistin erzählt, sie hätte sich wegen ihrer Beschäf­tigung mit dem Thema »gegenüber ihren 68er Gesinnungsgenossen« »rechtfertigen« müssen.

Ähnlich erging es Alfred de Zayas, einem auf Kuba geborenen us-amerikanischen Völkerrechtler, UN-Diplomat und historischen Außenseiter, der 1977 am Göttinger Institut für Völkerrecht mit seiner Studie Die Anglo-Amerikaner und die Vertreibung der Deutschen den Doktorgrad erwarb. Das Thema Vertreibung ließ ihn nicht mehr los und als einer, der die deutschen Tabuisierungen aus eigener Anschauung kannte, bürstete er es kräftig gegen den hierzulande erwünschten Strich. 1994 erschien A Terrible Revenge. The Ethnic Cleansing of the East European Germans, 1944-1950, 2006 in deutscher Übersetzung noch pointierter betitelt als: Die deutschen Vertriebenen. Keine Täter, sondern Opfer.36

Stellvertretend für viele »Linksliberale«, die um ihre Deutungshoheit als Schuldver­walter der deutschen Nation fürchteten, sprach Rainer Ohliger in seiner Rezension das Urteil: Eine »Geschichtsschreibung aus der Perspektive der Opfer«, wie sie de Zayas präsentiere, werde »von der Mehrzahl der seriösen Historiker abgelehnt«.37 Es ist das hartherzige Urteil eines Migrationsbefürworters seinen eigenen Landsleuten gegenüber, der »Migrationsbrücken« bauen will, dabei kein Problem hat, sogenannte »Klimaflüchtlinge« als Opfer zu sehen und der Bundesregierung in einer »Expertise« allen Ernstes empfiehlt, »Klimamigrationspolitik [zu] stärken« sowie »Klimamigration als wichtiges Themenfeld in die werdende Klimaaußenpolitik ein[zu]flechten«.38

Um den Heimatvertriebenen einen Opferstatus absprechen zu können, suchen anti­deutsche »Linksliberale« händeringend nach »Narrativen«, wie sie deren traumatische Fluchterfahrungen in ihrem Sinne umschreiben können. Eine der perfidesten Volten gelang dabei jüngst dem Historiker Andreas W. Daum in seiner Besprechung von David Blackbourns Monumentalepos »Germany in the world«. Darin steht der kaum glaubliche Satz, Blackbourn stelle »den Zusammenbruch der Naziherrschaft und die auf ihn folgende, erzwungene Mobilität von Millionen von Flüchtlingen, Vertriebenen und Displaced Persons als Gründungsmonument einer neuen Phase der globalen Welt vor, in der politisches Asyl und Flucht auf fast allen Kontinenten zur Alltags­realität wurde«.39 Müssen sich die deutschen Heimatvertriebenen also damit begnügen, zu Pionieren wider Willen einer unter One-World-Auspizien erwünschten weltweiten Mobilität im Zeichen des UN-Migrationspaktes degradiert zu werden?

Ihre ganze Schärfe gewinnt diese zynische geschichtspolitische Verdrehungsrabulistik im Kontext von Blackbourns respektive Daums antisouveränistischer Wunschvorstellung. Beinahe begeistert nimmt Letzterer die globalhistorische Perspektive von »Germany in the world« auf, denn man müsse sich fragen: »Kann (und will) die Globalgeschichte eines Landes [eigentlich ein Widerspruch in sich selbst, den Globalhistoriker offenbar souverän ignorieren; J.S.] noch Nationalgeschichte sein« oder »verflüchtigt sich das Nationale als Deutungs- und Identifikationsmuster?« Wohlgemerkt: Es geht hier nicht um die Frage, ob sich nationale Identifikationen aus der Sicht gegenwärtiger Histo­riker wie Daum, der offenbar der »No-Nation-No-Border«-Bewegung zugeneigt ist, »verflüchtigen« (denn das versteht sich für diese Blase von selbst), sondern es ist ihm wichtig, zu suggerieren, daß derartige Deutungsmuster auch für die Zeitgenossen von Ernst Moritz Arndt oder Johann Gottlieb Fichte quasi rückwirkend für obsolet erklärt werden könnten. Die erwünschte Konsequenz einer derartigen geschichts­revisionistischen Operation: Wenn es nur eine globale Menschheitsfamilie ohne nationale Identifikationen gibt, können alle Menschen auch beliebig frei über den Erdball »reisen« und sich ihren Aufenthalt gerade dort nehmen, wo immer es ihnen beliebt — so muß man die entsprechenden Gedankengänge zu Ende denken.

Vorstehende Deutung »linksliberaler« Migrationsförderungsgelüste stellt keineswegs eine Unterstellung dar, sondern ist vielfach belegbar. Denn antideutsche »Linkslibe­rale« sehen Migration als einen uneingeschränkt positiv zu bewertenden Vorgang. Dazu müssen aber zuerst die Begriffe umcodiert werden. Die Bundeszentrale für politische Bildung geht hierbei voran, indem nicht mehr von Flucht die Rede ist, sondern von »Reisen«, folglich von »Reisenden« statt »Flüchtlingen« oder »Migranten«. In der Logik dieser Sichtweise gibt es keine »Schlepper«, sondern nur jene Demo­kratiegefährder, welche diesen Begriff verwenden, um damit »die Idee [zu erzeugen], daß diejenigen, die ihre [der Migranten] Reisen erleichtern, von Natur aus kriminell seien«. Die Wirklichkeit aber sehe ganz anders aus: Die »Arbeit von Akteur/-innen, die Bewegungen von Migrant/-innen erleichtern«, umfaßt in dieser Vorstellungswelt vielfältige Dienstleistungen, sei es als »Reiseführer/-in«, als Beförderer auf bestimmten Reiseabschnitten oder als Agenten, die »potenzielle Migrant/-innen rekrutieren«.40 (Originalschreibweise der Bundeszentrale für politische Bildung [Hervorhebung J.S.] beibehalten.)

Was die Umcodierer offenbar nicht bemerken: wie sehr sie mit ihren Reise- und Dienstleistungsmetaphern die Sichtweise von Massenmigrationskritikern bestätigen, die eine Differenzierung in asyltaugliche Fluchtgründe und Wanderbewegungen aus nicht asylwürdigen Motiven wie die Verbesserung der individuellen wirtschaftlichen Situation des »Reisenden« anmahnen. Und was den Umcodierern entweder gar nicht bewußt ist oder — horribile dictu — von ihnen vielleicht sogar willentlich intendiert wird: wie sehr sie damit wirkliche Flüchtlinge wie die heimatvertriebenen Deutschen am Ende des Zweiten Weltkrieges verhöhnen.

Den vorläufigen Tief- und Endpunkt unter die fortwährende Entrechtung der Heimat­vertriebenen setzt niemand anders als die deutsche Kulturstaatsministerin Claudia Roth. Sie verfügte die Streichung des entscheidenden Bestandteils im »Bundesinsti­tut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa« — »der Deutschen«. Für den Bund der Vertriebenen ein Skandal, denn diese Streichung bedeute ein »Unsichtbar-Machen eines originären Teils deutscher Geschichte«.

Eine Lücke bleibt damit lediglich in Namen und Tätigkeitsfeld des seines Gründungs­sinns beraubten Instituts. In der Welt grüner Geschichtspolitik wird diese selbst erzeugte Fehlstelle sofort ersetzt: Nicht mehr die jahrhundertelange Geschichte der Deutschen im Osten soll zukünftig für die Bürger des Landes von Interesse sein, sondern die Geschichten der im Zuge der Masseneinwanderung seit 2015 zu uns gekommenen Menschen aus aller Herren Länder, womit der Terminus »Global­geschichte« einen ganz neuen Stellenwert bekommen dürfte.

Ihre geschichtspolitische Wunschvorstellung offenbart die Ministerin in einem Gast­beitrag im Tagesspiegel vom 15. Februar 2024 — »eine Erinnerungspolitik für die Einwanderungsgesellschaft zu gestalten«. Roth will »die Augen öffnen für die Traumata, die viele Eingewanderte in ihren Herkunftsländern, auf dem Weg nach Deutschland oder hier erfahren haben«. Kein Wort zu den Traumata deutscher Heimatvertriebener, ja nicht einmal eine Kenntnisnahme von deren Existenz.

Noch offensichtlicher wird die antideutsche Absicht im kultusstaatsministeriellen »Rahmenkonzept Erinnerungskultur«. Während sich die Heimatvertriebenen — immerhin 12 Millionen Einzelschicksale — unter der wolkigen Formel »Mobilität und Migration« so gut wie verflüchtigen, soll der Rahmen für diejenigen, die noch nicht so lange hier sind, beinahe unbegrenzt aufgespannt werden, wenn die spezifisch Roth’sche Erinnerungskultur »auch die Geschichte der Vorfahren derjenigen, die zu uns gekommen sind«, beinhaltet. Damit ist — so faßt es Sandro Serafin zusammen — »deutsche Geschichte zugleich alles und nichts«, jedenfalls »nicht [mehr] die Geschichte der Deutschen«.

Es ist der ultimative Affront gegen die noch lebende »Erlebnisgeneration« der Heimatvertriebenen, der denkbar ist: die Auslöschung ihrer historischen Existenz.

Und es geht nahezu täglich weiter im Bemühen des wohlgesinnten Moralapostolats, die Unterschiede zwischen Flucht und Migration immer weiter zu verwischen. Merkt jemand wie der kommende Grünen-Vorsitzende Felix Banaszak eigentlich, was er an Hohn für die Heimatvertriebenen mittransportiert, wenn er sich gegen Grenzkontrol­len wendet, weil Deutschland offen bleiben müsse für Menschen, die hier ihr »Glück suchen«? Welcher 1945er Flüchtling hätte Glückssuche als Motiv seiner Flucht ge­nannt? So eine frivole Offenbarung leitet überdies in der Tat Wasser auf die Mühlen derjenigen, die nur Flüchtlinge aufnehmen wollen, die wirkliche Asylgründe anführen können, nicht aber Glücksritter, die in ein Schlaraffenland einreisen wollen.

Süß erscheint es antideutschen »Linksliberalen«, die in Wort und Tat hinterlassenen Bestände der Alten zu durchmustern, solange diese Menschen nur keine Deutschen sind. Deren immer weiter unsichtbar gemachte Geschichte zu bewahren, wird zusehends zu einer prekären Aufgabe.

Anmerkungen

  1. Übersetzung von: »Dulce est, inter majorum versari habitacula, et veterum dicta factaque recensere memoria.« Als Motto zitiert bei: Adalbert Stifter: Die Mappe meines Urgroßvaters. Letzte Fassung. Bremen: Storm, 1947, S. 5. — Hegesippus gilt als frühchristlicher Vordenker der Sukzessionslehre. Zu ihm: Yonatan Bourgel: Jewish Christians and other religious Groups in Judea from the Great Revolt to the Bar-Kokhba War. Dissertation, Tel Aviv 2009, S. 75–79: »His lost work the Hypomnemata, aimed at defending the ›genuine tradition‹ as taught by the Apostles«, ebd., S. 75f. 

  2. Beim Münchner Oktoberfestumzug 2024 nahm eine Gruppe des Riesengebirgsvereins teil. Einen älteren Herrn haben wir befragt, woher er komme. »Aus Breslau«, war die Antwort, die uns zur Nach­frage bewegte, ob er denn in Schlesien geboren sei. Und ob, sagte er, Jahrgang 1936: »Ich gehöre ja noch zur Erlebnisgeneration — wie man so sagt«. Wir zuckten zusammen ob unserer Gedanken, was diese Generation 1945 an »Erlebnissen« gehabt haben mag. 

  3. Wilhelm Turnwald: Eger. Sudetendeutsche Städte- und Kulturbilder, Band 1. Herausgegeben von Franz Höller. Reichenberg: Sudetendeutscher Verlag / Franz Kraus, 1939. 

  4. Dokumente zur Austreibung der Sudetendeutschen — Überlebende kommen zu Wort. Einleitung und Bearbeitung von Wilhelm Turnwald. Selbstverlag der Arbeitsgemeinschaft zur Wahrung Sudeten­deutscher Interessen, 1951. 

  5. Volksbuch sudetendeutscher Mundartdichtung. Zusammengestellt und herausgegeben von Albert Zirkler. Leipzig: Dürr, 1938. 

  6. Josef Preußler: Wanderungen um Reichenberg. Erinnerungen an eine unvergessene Landschaft [auf dem Titel: Ein Buch des Erinnerns an die unvergessene Landschaft der Heimat]. Neubearbeitete Auflage [Erstausgabe in der Reihe »Heimatkunde des Kreises Reichenberg«, 1931]. Augsburg: Kraft, ohne Jahr [1960]. 

  7. Ebd., S. 92. 

  8. Ebd., S. 46. 

  9. Ebd. 

  10. Hans Dittrich: Heimatkunde des Bezirkes Reichenberg in Böhmen. Teil 2,1 / 2,2: Unsere heimische Mundart. Neue Ausgabe. Reichenberg: Verlag der drei Lehrervereine des Reichen­berger Bezirks und des Vereines für Heimatkunde des Jeschken-Iser-Gaues, 1931. 

  11. Erwin Ott: Der Bauerntreck. Sudetendeutscher Novellenring 40. Leimen / Heidelberg: Verlag für heimatliches Schrifttum, 1967, S. 5. 

  12. Der Sudetendeutsche Erwin Ott. In: Erwin Ott: Die Entscheidung. Sudetendeutscher Novellenring 27. Leimen / Heidelberg: Verlag für heimatliches Schrifttum, ohne Jahr [um 1960], S. 5. 

  13. Ott: Bauerntreck (1967), wie Anm. 11, S. 6. 

  14. Ebd., S. 9. 

  15. Ebd., S. 10. 

  16. Im bayerisch-schwäbischen Sprachraum versteht die Mundart unter »Heimat« nichts anderes als das Bauernhaus: »›Heim‹, ›Heimat‹ nennt der Bauer mit Stolz sein Haus.« Georg Mader, Bauernhaus und Bauernbrauch in Schwaben. In: Das Bayerland. Illustrierte Halb­monatsschrift für Bayerns Land und Volk 31, 1920, Heft 2, S. 139–154 

  17. Adam Kraft / Josef Mühlberger: Jeschken, Iser-, Riesengebirge. Ein Bilderbuch mit 65 Aufnahmen. Augsburg: Kraft, ohne Jahr.
    Wie es der Zufall will, fiel mir kurz nach Abfassung dieser Folge von Aufheben die Erstausgabe von Josef Mühlbergers (1903–1985) meistgelesenem Werk in die Hände, bei seinem Erscheinen hochgepriesen von Hermann Hesse, vielleicht lange im Besitz eines heimatvertriebenen Sudetendeutschen, nun jedenfalls aussortiert und abgestellt in einem Bücherschrank in Haidhausen: Die Knaben und der Fluß. Erzählung. Leipzig: Insel, 1934. — Mühlberger, Jahrgang 1903, stammt aus dem böhmischen Trautenau, wächst laut Geburtsurkunde als Staatsbürger der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie auf, um sich im Alter von 16 Jahren eines Morgens auf Geheiß aus dem Pariser Vorort Saint-Germain zum Tschechoslowaken umgemeldet vorzufinden, ohne etwas dazu getan zu haben und ohne dabei das „Selbstbestimmungsrecht“ (Woodrow Wilson) der Deutschböhmen und Deutschmähren berücksichtigt zu finden, welche von Stund’ an mit einem Anteil von fast einem Viertel an der Gesamtbevölkerung der neugegründeten Tschechoslowakischen Republik das Schicksal der größten Minderheit im Land zu tragen haben. Sohn eines deutschen Vaters, die Mutter Tschechin, ist Mühlberger hineingeboren in eine Konstellation, die ihn zeitlebens beschäftigt — in einem Alterswerk wird er 1973 Zwei Völker in Böhmen porträtieren. Als promovierter Germanist (Die Dichtung der Sudetendeutschen in den letzten fünfzig Jahren, 1929) und Gymnasiallehrer gibt er zusammen mit Johannes Stauda (zu ihm siehe unten das Kapitel »›Volkstumskampf‹ der Deutschböhmen«) die Kunst- und Literaturzeitschrift Witiko heraus. Darin werden Neuerscheinungen sudetendeutscher und tschechischsprachiger Literatur einträchtig nebeneinander vorgestellt — lange nach Krieg und Vertreibung legt Mühlberger, der auch als Übersetzer aus dem Tschechischen hervortritt, eine Tschechische Literaturgeschichte (1970) vor. Die Erzählung Die Knaben und der Fluß schließlich, entstanden 1934, hat zwei tschechische Jungs zu Protagonisten, wenn sie anhebt: »Eine Freundschaft wie die der beiden Knaben Waschek und Jenjik ist selten im Dorf, selten in der Landschaft. Der mährische Bauer kennt nur die Arbeit.« In dieser Welt gehört ein Bauernjunge »mit zehn Jahren aufs Feld, in den Hof, in die Scheune; mit vierzehn Jahren gehört er in den Stall.« Jedoch: »Seit ihrer frühen Kindheit war kein Tag vergangen, an dem sie [Waschek und Jenjik] sich nicht getroffen hätten. […] Sie verbrachten alle freie Zeit gemeinsam.« (S. 5f.) Diese Unzertrennlichkeit und Intimität wird tragisch enden, für die Knaben in der Erzählung, aber auch für den Erzähler selbst, dem nationalsozialistische Kreise diesen — wie sie es nennen — »Knabenakt« übel nehmen, das Buch als »schwül« und »verdächtig« markieren, zuletzt als »widerlich« und »pervers« verdammen. Das Jahr 1938, der Anschluß seiner böhmischen Heimat an das Reich, wird Mühlberger somit zum ersten großen Verhängnis seines Lebens: Denunziert als »intimer Freund Prager jüdisch-literarischer Kreise« (allen voran Max Brod), wird er von deutschen Behörden, die die Macht übernommen haben, verhaftet — Anklagepunkt Homosexualität. Und am Ende des Krieges vom wiederum neu gegründeten tschechoslowakischen Staat aus seiner Heimat ausgetrieben. — Zum hundertsten Geburtstag des Dichters im Jahr 2003 brachte der Insel-Verlag die Erzählung Die Knaben und der Fluß neu heraus, mit einem Nachwort von Peter Härtling, Autor des deutsch-tschechischen Dramas Božena. Diese Ausgabe ist bei Insel bis heute lieferbar. — Den Eintrag zu Josef Mühlberger in der Neuen Deutschen Biographie besorgte — wie auch jenen weiter unten zitierten zu Johannes Stauda — Peter Becher, Sohn des sudetendeutschen Vertriebenenpolitikers (verschiedenster Parteizugehörigkeiten) Walter Becher, promovierter Germanist (Der Untergang Kakaniens, 1982), langjähriger Geschäftsführer und seit 2019 Vorsitzender des Adalbert Stifter Vereins in München. 

  18. Heimat meine Erde. Dichterstimmen aus dem Sudetenland. Im Auftrag des Adalbert-Stifter-Vereins gesammelt von Otto Zerlik. Augsburg: Verlag Cassianeum, 1949. — Mit Signatur des Verfassers vom 22. Oktober 1969, dazu Widmung: »Heimat ist Seelenland!«. 

  19. Walter Brand: Die sudetendeutsche Tragödie. Lauf bei Nürnberg: Rudolf Zitzmann Verlag, 1949 (Ackermann-Schriften für Kultur, Wirtschaft und Politik; 1). 

  20. Ludwig Weichselbaumer: Walter Brand (1907–1980). Ein sudetendeutscher Politiker im Spannungs­feld zwischen Autonomie und Anschluss. Quellen und Studien zur Geschichte und Kultur der Sudeten­deutschen, Band 3. München: Sudetendeutsches Archiv, 2008. 

  21. Georg R. Schroubek: Eine Palme, ein Mord und ein Fahrrad. Nicht sehr wehmütige Erinnerungen an die Frühzeit der »Prager Nachrichten«. Prager Nachrichten 26, Mai/Juni 1975, Nr. 5/6 (Jubiläums­ausgabe »25 Jahre Prager Nachrichten«), S. 5–7. 

  22. Will-Erich Peuckert: Wiedergeburt. Gespräche in Hörsälen und unterwegs. Berlin / Frankfurt am Main: Weidmann, 1949. 

  23. Adalbert Stifter: Die Mappe meines Urgroßvaters. Letzte Fassung. Bremen: Storm, 1947. 

  24. Emil Staiger: Adalbert Stifter als Dichter der Ehrfurcht. Zürich: Arche, 1952, S. 22f. 

  25. Ebd., S. 7. 

  26. Georg Etscheit: Bruckner-Jahr: Pathos unerwünscht. Tichys Einblick 05/2024, S. 78–80. 

  27. Ebd. S. 78. 

  28. Staiger, Ehrfurcht (1952), wie Anm. 24. 

  29. Adalbert Stifter: Witiko. München: Winkler, 1949. — Mit einem Nachwort von Fritz Krökel und Bemerkungen zu Stifters Zeichensetzung von Magda Gerken. 

  30. Staiger: Ehrfurcht (1952), wie Anm. 24, S. 56f. 

  31. Heinrich Reitzenbeck: Adalbert Stifter. Biographische Skizze [1853]. Herausgegeben von Max Stefl. München: Alber, 1948. — Widmung des Autors: »Herrn Prof. Joh.[annes] Stauda mit herz­lichen Grüssen / 13.II.[19]49 / Max Stefl«. 

  32. Richard Wagner; Miss Bukarest. Berlin: Aufbau, 2001, S. 105. 

  33. Johannes Stauda: Der Wandervogel in Böhmen 1911–1920. Teil 1: Darstellung. Herausgegeben von Kurt Oberdorfer. Reutlingen: Harwalik, 1978, S. 73. 

  34. Ebd., S. 77. 

  35. Karl Vötterle: Haus unterm Stern. Aus einem Erinnerungsbuch über das Entstehen, die Zerstörung und den Wiederaufbau des Bärenreiter-Werkes. Privatdruck, Kassel 1949. — Eine Neuausgabe von Haus unterm Stern mit dem Text dieses Privatdrucks, ergänzt um umfangreiche Kapitel zur Geschichte des Bärenreiter-Verlags bis 1973, verfasst von Verlagsgründer Karl Vötterle, ist beim Verlag bestellbar

  36. Alfred de Zayas: A Terrible Revenge. The Ethnic Cleansing of the East European Germans, 1944-1950. St. Martin’s Press, 1994. — Überarbeitete und ergänzte Neuausgabe: New York: Palgrave/Macmillan, 2006. — Deutsche Ausgabe: Die deutschen Vertriebenen. Keine Täter, sondern Opfer. Hinter­gründe, Tatsachen, Folgen. Graz: Leopold Stocker Verlag (Ares), 2006.
    22 Jahre lang hat es kein deutscher Verlag für nötig befunden, de Zayas’ Studie über eine der größten deutschen Tragödien in deutscher Übersetzung herauszugeben — bis A Terrible Revenge schließlich im Grazer Ares-Verlag landete, der von den Wikipedia-Moralisten vorsorglich als »rechtsextremistisch« gebrandmarkt wurde. Es handelt sich um ein fast schon perfides Spiel, etwas, was man im Mainstream nicht haben will, solange außen vor zu halten, bis es der »Falsche« für sich entdeckt, um dem außen Vorgehaltenen (in diesem Fall de Zayas) sodann vorwerfen zu können, er lasse sich von den »Falschen« instrumentalisieren. 

  37. Rainer Ohliger: Rezension zu: Alfred-Maurice de Zayas, A Terrible Revenge. The Ethnic Cleansing of the East European Germans, 1944-1950. New York 1994, In: H-Soz-Kult, 19. Februar 1997, www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-2333

  38. Rainer Ohliger: Klimamigrationspolitik national und global: Deutsche politische Positionen / Posi­tionierungen in multilateralen Verhandlungen und Dokumenten. Oder: Der klimamigrationspolitische Kaiser ist nackt. Expertise im Auftrag des Sachverständigenrats für Integration und Migration für das SVR-Jahresgutachten 2023, S. 44f., https://www.svr-migration.de/wp-content/uploads/2023/05/SVR_Expertise_Jahresgutachten-2023_Ohliger.pdf

  39. Andreas W. Daum: Rezension zu: David Blackbourn, Germany in the world. A global history 1500-2000. Norton, New York 2023. In: Historische Zeitschrift 318, Heft 1, Februar 2024, S. 109. 

  40. Diese Art der Umcodierung hat Methode im Milieu der Wohlgesinnten. Das FHXB Museum im grün­dominierten Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg wollte — laut Ausstellungsankündigung — gar »Verständnis für afrikanische Drogendealer wecken«: »Vor dem Hintergrund vielfältige[r] Widerstände arbeiten Drogenverkäufer unerschrocken und tapfer im öffentlichen Raum«, im konkreten Fall dem damals schon berüchtigten Drogenumschlagplatz Görlitzer Park. https://www.welt.de/vermischtes/article170037114/Drogendealer-arbeiten-tapfer-im-oeffentlichen-Raum.html