Sechs große Denker stehen im Fokus dieser und der nächsten Folge von Aufheben: zunächst Arnold Gehlen, Konrad Lorenz und Irenäus Eibl-Eibesfeldt; sodann Rolf Peter Sieferle, Günter Maschke und Hans-Dietrich Sander. Es kann hier nicht der — ohnehin zum Scheitern verurteilte — Versuch unternommen werden, einen Überblick über deren geistige Universen zu geben; hierfür mögen Hinweise und Verlinkungen auf Weiterführendes und Tiefschürfendes genügen. Wie in der letzten Folge über vergessene beziehungsweise ins Vergessen beförderte Schriftsteller sollen die Gründe und Mechanismen beleuchtet werden, die diese Denker ins Abseits manövrierten — sowie aufgezeigt werden, wer die Leerstelle besetzt, die der publizistische Hauptstrom mit seinen Ausgrenzungsstrategien entstehen lassen möchte, und was eine Abwanderung gesellschaftspolitisch nach wie vor relevanter Denkwege in »alternative« Kreise für die Diskussionskultur im Land bedeutet. Alle diese Denker sind im deutschen Wissenschaftssystem schon insofern Außenseiter, als sie mehr (Gehlen, Sieferle) oder weniger (Lorenz, Eibl-Eibesfeldt) Einzelgänger waren und nicht Teil des »Großbetriebs« (oder gar kein Teil der akademischen Welt wie Maschke und Sander).
»Dieser Ausdruck ›sich erfinden‹
ist doch von höchster Komik.
Wir sind in so vielen Richtungen determiniert.«
(Martin
Mosebach)
Der Mensch
Wenn die Bücher eines Nobelpreisträgers, der uns heute immer noch etwas zu sagen hat, von Antiquaren als »unverkäuflich« eingestuft werden; wenn das Werk eines Forschers, dessen Erkenntnisse vor einer Schülergeneration im Unterricht als Goldstandard galten, heute aus dem Buchhandel spurlos verschwunden ist; wenn sich niemand, der etwas zu verlieren hat, mehr traut, die Ansichten eines Gelehrten zustimmend zu zitieren, der in den 1960er Jahren in der medialen Resonanz auf einer Stufe mit Theodor Adorno stand; und wenn alle diese aus dem kollektiven Gedächtnis fast verschwundenen Denkwege um nichts weniger als den Menschen und seine Bedingtheit kreisen — dann müß(t)en alle Alarmglocken schrillen. Daß sie es in den hauptströmenden Medien nicht tun, ist Grund genug, sich mit den Verfemten zu beschäftigen. Nicht zuletzt lohnt ein Blick auf die Multiplikatoren, vulgo: Verlage, die sich des Erbes dieser Größen annehmen — und ihrem Denken eine Kontinuität zu verschaffen versuchen, die interessierte Kreise abschneiden wollen.
Arnold Gehlen (1904-1976) — Institutionen sollen nicht mehr entlasten
»Ist die Soziologie eine Wissenschaft vom Menschen?« Über diese Frage — brisant in Zeiten, wo die Universitätssoziologie den Menschen längst zum »Subjekt« degradiert hat und ihn bestenfalls noch als »Individuum« gelten läßt, und es keine Gemeinschaft mehr gibt, sondern nur noch eine vielfach gespaltene »Gesellschaft« — debattierten Theodor W. Adorno und Arnold Gehlen 1965 im Südwestfunk vor den Ohren des bundesdeutschen Publikums. An diesem Punkt der öffentlichen Wahrnehmung steht Gehlen, führender Vertreter der Philosophischen Anthropologie,1 in mehreren ebenso gehalt- wie respektvollen Streitgesprächen zwischen einem konservativem Denker und einem Vertreter der marxistischen Frankfurter Schule.
Gehlen gehört im 20. Jahrhundert zu jenen wenigen Philosophen — Max Scheler (Die Stellung des Menschen im Kosmos, 1928); Helmuth Plessner (Die Stufen des Organischen und der Mensch, 1928), Adolf Portmann (Zoologie und das neue Bild des Menschen, 1956) —, welche die anthropologische Wende ihres Faches mit Verve betreiben; Portmann aus dem Blickwinkel des Biologen.
In drei Schritten entwickelt Gehlen seine Menschenlehre und die Konsequenzen, die daraus folgen — was dem Menschen eigen ist und wo seine Grenzen liegen:
Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt (1940) erklärt den Handlungsdruck des Menschen aus seiner Stellung als »Mängelwesen« (ein von Herder übernommener Begriff, auf den sich Gehlen erklärtermaßen bezieht). Weil dem Menschen im Gegensatz zum Tier Instinktsicherheit fehlt, braucht er zur Entlastung überindividuelle Stützen, die er sich schaffen muß: Kultur, Technik, Institutionen. Dieses Buch sei — so der Soziologe Wolf Lepenies 2006 in der WELT — »eine Anthropologie, die beinahe das Gegenteil einer Rassenlehre darstellte«.
Urmensch und Spätkultur (1956) entwickelt die Lehre von den Institutionen, angefangen vom Kern der Familie bis hin zum Staat, was Gehlen den — auf progressiver Seite mißtrauisch beäugten, am Gegenufer2 zustimmend aufgenommenen — Ruf als »konservativer Ordnungstheoretiker« eingebracht hat.
Moral und Hypermoral (1969) versucht zu verdeutlichen, was es bedeutet, wenn Institutionen wie die Familie an Bedeutung verlieren und warum Familienmoral im Namen eines »Humanitarismus«, der die »Hausmoral« beziehungsweise das Sippenethos überdehne,3 nicht übertragbar ist auf die staatliche Ebene. In der Konsequenz dieser Überdehnung habe sich die Institution Staat in ihrer Realform als Wohlfahrtsstaat BRD »vom Seeungeheuer zur Milchkuh« geschrumpft.4
Es klingt fast wie ein Hohn auf die mundwerkenden Zusammenfasser, was Wikipedia unter »Gehlens Intellektuellenkritik« zusammenfaßt, die er in Moral und Hypermoral entwickelt: »Gehlen kritisiert die Intellektuellen, deren gesinnungsethische Ansprüche nicht einlösbar und verantwortlich überprüfbar seien und denen es an Realitätsbezug mangele. Sie seien Propagandisten des Humanitarismus. Die Moralhypertrophie sei die Herrschaftsideologie der ›Mundwerksburschen‹ [...]. Er sprach der Publizistik das Recht ab, ihre aus der ›Intellektuellenmoral‹ folgenden Äußerungen als Wahrheiten auszugeben; letztlich würden sie nur gruppenspezifische Interessen ausdrücken.«
Wie von Gehlen bestellt, liefert Volker Ullrich, Historiker und langjähriger Redakteur der ZEIT, auf t-online (!) zu Trump-Wahl und Zerbrechen der Ampel-Koalition am selben Tag eine bemerkenswert moralingesättigte Realitätsverdrehung: »Nicht zuletzt alarmiert mich die Flucht signifikanter Bevölkerungsteile in alternative Realitäten und eine neue Lust an der politischen Unvernunft, wobei die Entwicklung hierzulande noch nicht so fortgeschritten ist wie in den USA«. Wer diesen Satz mit Bedacht liest, wird das Lachen unterdrücken müssen, um nüchtern zu konstatieren, daß die spätestbundesrepublikanische Intellektuellenelite inzwischen in jenem Stadium von Realitätsverlust angekommen ist, in dem sie — sich selbst perfekt porträtierend — mit dem Finger auf den politischen Gegner zeigt, nicht ohne das unbotmäßig ihr nicht folgende Volk als bar an »Anstand« und »Vernunft« (Olaf Scholz) zu maßregeln.5 Aberhunderte solcher Beispiele ließen sich anführen, die belegen, wie messerscharf Gehlen den Intellektuellentyp unserer Zeit in dessen status nascendi porträtiert hat. Seinerzeit schmähte der Intellektuelle, der sich getroffen fühlte, Gehlens Analyse als »Stammtisch eines aus dem Tritt geratenen Rechtsintellektuellen, der den lebensgeschichtlichen Aporien seiner Rolle nicht mehr gewachsen ist«.6
Warum, so die zentrale Frage dieses Textes, ist Gehlen nicht mehr präsent in den Debatten der Gegenwart, warum ist seine Anthropologie so merkwürdig verschüttet gegangen unter den Geröllhalden einer postmodernen Soziologie,7 die sich in nicht unwesentlichen Teilen als »Verunsicherungswissenschaft« gefällt? Im Wunsch, den Menschen zu verunsichern, ihm die ihn stützenden Institutionen zu nehmen, um ihn zu befreien zu seinem eigentlichen Selbst, steckt ein Kern der Antwort. Geäußert wurde dieser Wunsch im eingangs verlinkten Radioduell zwischen Gehlen und Adorno von Letzterem, mit folgender Argumentation: Die Autorität der Institutionen und deren Formierungsmacht verhinderten die Bildung eines freien Subjekts. Der Kern einer konservativen (im Wortsinn) Anthropologie aber, wie sie Gehlen vertritt und der fundamentale Unterschied zu einer marxistischen Sicht, wie sie im Disput Adorno hochhält, ist nicht die Forderung nach einer Schleifung der Institutionen, sondern ihre konsequente »Hochwertung« (Portmann), weil ohne eine Entlastungsleistung, wie sie Familie und Staat bieten können, der Einzelne — atomisiert wie alles im Jahrhundert der Physik — in seiner Isolation zusammenbräche.
Die marxistisch inspirierte, von Vordenkern wie Adorno moralisch unterfütterte Geringachtung und Demontierung hat der Institution Familie erheblichen Renomeeverlust zugefügt. Martin Rhonheimer bilanzierte diesen heute im Wertewesten katastrophal zutage tretenden Schaden 1977, in einer Phase der Schädigungszunahme: Wer als »überindividuelle Instanz nur noch die Gesellschaft [aner]kennt«, dem werde es verunmöglicht, »die Größe der menschlichen Berufung zu Ehe und Familie zu sehen«;8 stattdessen ist den Familiendekonstrukteuren Familie mit Freud nur noch etwas, das »Mann und Weib auf Grund ihrer genitalen Bedürfnisse gegründet haben«.9 Eine »grundlegende Reformierung der Gesellschaft«, so paraphrasiert Rhonheimer die Reformatoren, könne nur gelingen, »wenn die Familie als die Vermittlerin antiquierter Wertvorstellungen wie ›Autorität‹, ›Gehorsam‹ und dergleichen aufhöre, den potentiellen Träger der gesellschaftlichen Umwälzung [den ›neuen Menschen‹, den Great Reset und Transformation benötigen] von Anfang an vorzuprogrammieren«.10 (Was den Menschen wirklich vorprogrammiert, werden wir von Konrad Lorenz und Irenäus Eibl-Eibesfeldt erfahren.) Und Nikolaus Lobkowicz konstatiert, ebenfalls 1977: »Die westeuropäischen Staaten leben vom Pathos der Befreiung«.11 Der Drang, sich Freiheit von etwas zu verschaffen, gibt sich selten Rechenschaft darüber, wozu Freiheit genutzt werden soll und stellt zumeist die Frage gar nicht, ob der Mensch von seinen natürlichen Anlagen her ohne stabilisierende Autoritäten überhaupt lebensfähig ist.
Vorläufig vollendet wird die Abkehr von der entlastenden Wirkung funktionsfähiger tradierter Institutionen hin zu einer Umkehr in verunsichernde Taktiken der Machtausübung in der »Konvergenz der Krisen« — Finanzkrise, Migrationskrise, Coronakrise, Ukrainekrise, Energiekrise, Inflationskrise, Regierungskrise (ff.). Damit hat sich der Staat die staatsgemachte Belastung des Menschen als neues Herrschaftsmittel kultiviert, um sich und seine Vasallen in der »Zivilgesellschaft« als Löser von Problemen anzubieten, die ohne sein und deren Zutun gar nicht entstanden oder zumindest nicht in krisenhafter Form eskaliert wären — wie die völlig überzogene Klimapanik, die Corona-Hysterie oder die medial hochgezüchtete Angst vor Trump.
Welche Konsequenz es hat, wenn eine Anthropologie wie jene von Arnold Gehlen ad acta gelegt ist, kann ermessen werden an der Erosion der Familie als gemeinschaftsbildender Institution, »der es gelingen könnte, einen Traditionszusammenhang zu bewahren, sittliche Verhaltensweisen weiterzuvermitteln, Überzeugungen zu tradieren«, so erneut Lobkowicz.12 Institutionen, die für »Stabilisierung« (Gehlen) sorgen, stören Umprogrammierung — instabile bereiten ihr den Weg (und machen junge Menschen krank). Eine Menschheitsfamilie läßt sich nur »denken« (lebbar ist solch ein Kopfgeburt ohnehin nicht), wenn die Erdenker das Individuum isolieren und ihm als einzig verbliebene Entität über ihm das Abstraktum »die Menschheit« anbieten. Alle existenz- und tragfähigen Institutionen dazwischen — Familie, Kirche, Staat/Nation/Volk — werden wegen ihres »unterdrückenden Charakters« (Adorno) ausgeschaltet, zuerst sprachlich, sodann — das ist der Plan des universalistischen Great Reset — auch faktisch. Es gibt in diesem Konstrukt keine handhabbare Gemeinschaft (nach Gehlen »Sippe«), sondern nur eine »Gesellschaft«,13 die inzwischen zur »Zivilgesellschaft« verkommen ist — ein Konglomerat aus Medien,14 Parteien, Verbänden und NGOs, das unter Auflösung aller Dinge ein völlig amorphes Gespinst namens »Weltgesellschaft« (Habermas) propagiert.
Arnold Gehlens Werk liegt heute als Gesamtausgabe bei Vittorio Klostermann in einem renommierten Verlag vor, seine anthropologischen Forschungen sind als Taschenbuchausgaben bei Rowohlt erhältlich — und doch haben seine Einsichten und Warnrufe außerhalb neurechter Kreise15 nirgendwo überlebt, wo über »unsere Demokratie« diskutiert wird. Mit Gehlen scheint ein genuiner Denker abgemeldet, obwohl er nie gecancelt wurde; nicht einmal Oberintrigant Habermas konnte mit seiner billigen Polemik Gehlen aus dem Buchhandel nehmen, wie es heute ein Leichtes wäre. Gehlens Denken hat sich so gründlich in den postmodernen Zeitläuften verflüchtigt wie ein positives Familienbild; wie diese Zeiten auch den Ton und die Ernsthaftigkeit, mit der vor einem halben Jahrhundert Adorno und Gehlen um existentielle Fragen öffentlich gerungen haben, unmöglich gemacht haben. Vom Respekt weltanschaulicher Gegner füreinander ganz zu schweigen.
Zur gegenwärtigen Resonanz Gehlens muß man konstatieren: Sein Werk ist verlegerisch im Mainstream präsent, rezipiert wird es dort nicht. Und wo es rezipiert wird, will es der Hauptstrom nicht rezipiert sehen — zumindest nicht im Sinne des Autors.
Konrad Lorenz (1903-1989) — Todsünden werden nicht mehr angemahnt
[Konrad Lorenz. Quelle: Max Planck Gesellschaft (Eurobas), CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons.]
»Wir sollten uns immer wieder prüfen, ob wir auch heute bereit wären, für einen jungen Albert Einstein […] oder einen jungen Konrad Lorenz ein eigenes Max-Planck-Institut zu gründen.«16 Als der damalige Präsident der Max-Planck-Institute dies sagte, 1981, stand der Stern des Biologen und Verhaltensforschers Konrad Lorenz im Zenit. Umso bemerkenswerter ist sein Sturz vom Sitz neben Einstein auf dem höchsten Thron des Gelehrtenolymps, vom hochgeachteten Nobelpreisträger des Jahres 1973 und beim breiten Lesepublikum populären »Wissenschaftsstar«17 in die Tiefen antiquarischer Unverkäuflichkeit und ins fast totale Vergessen im akademischen Betrieb — von der vollständigen Abwesenheit seiner Thesen und Theorien im gesellschaftspolitischen Diskurs unserer Tage gar nicht zu reden.
Dabei sind einzelne Werke von Konrad Lorenz — anders als bei Gehlen nicht das Gesamtwerk — in Neuausgaben lieferbar, international mehr als in Deutschland, aber eben auch hierzulande: Das sogenannte Böse (1963) bei dtv, dort ebenso die populären Texte Wie der Mensch auf den Hund kam und Er redete mit dem Vieh, den Vögeln und den Fischen; die Acht Todsünden der zivilisierten Menschheit (1971) sind verfügbar bei Piper.
Wenn Karlheinz Weißmann in der Zeitschrift Sezession (Nr. 3, 2003) unter dem Titel »Das rechte Prinzip« über Konrad Lorenz schreibt, dieser habe »sich nicht gescheut, die Gefährdung jeder Organisation durch ›Dekadenz‹ aufzuzeigen«, worunter der Biologe »die ›Störung der Systemganzheit‹« verstanden und »auf den menschlichen Bereich bezogen vor allem im Abbruch der Tradition18 eine Ursache für diese Art von Störung gesehen« habe, dann kann man schon erahnen, warum Lorenz seinen Nimbus ab den 1990er Jahren sukzessive verlor in einer Gesellschaft, die nichts mehr bekämpft als Traditionen und nichts mehr fürchtet als die Übernahme von Denktraditionen durch die »Neue Rechte«, der Weißmann als ein Vordenker angehört(e).
Auch der Umstand, daß Lorenz’ Karriere im Nationalsozialismus begann und er Begriffe wie »Zucht« oder »Selektion« verwendet, die Nähe zum System vermuten lassen, hat bundesrepublikanische Keimdetekteure auf den Plan gerufen. Zunächst konnten diese Tugendwächter den guten Ruf des Wissenschaftlers nicht nachhaltig schädigen, weil Lorenz’ konservativer Kulturpessimismus virulenten zeitgeistigen Strömungen (»Grenzen des Wachstums«) entgegenkam — vor allem aber, weil ihr Einfluß auf die öffentliche Meinung in den 1970er Jahren noch nicht hegemonial war. Nach seinem Tod 1989 begann aber eine anbräunende Verurteilung, die den Nobelpreisträger zum nahezu Unberührbaren machte.
Die allgemeine Abwendung von Lorenz ist gerade im Fall seines Warnrufes Acht Todsünden der zivilisierten Menschheit19 besonders gravierend, haben doch seine Mahnungen nichts an ihrer Aktualität verloren, ihre Dringlichkeit ist akuter geworden:
1. Übervölkerung der Erde
2. Verwüstung des natürlichen Lebensraums
3. Wettlauf der Menschheit mit sich selbst im Zugzwang technologischer
Entwicklung
4. Wärmetod des Gefühls
5. Genetischer Verfall durch nachlassende Selektion
6. Abreißen der Tradition
7. Zunehmende Indoktrinierbarkeit der Menschen
8. Aufrüstung mit Kernwaffen
Drei Verlängerungen dieser Befunde in die Gegenwart beleuchten ihre Relevanz, ohne daß Lorenz Argumente auch nur in Spurenelementen im politmedialen Diskurs aufgenommen würden:
Im Wir-haben-Platz-Land zeigt sich heute auf fast makabere Weise die Richtigkeit von Lorenz’ Annahmen zur »Überbevölkerung« – »Menschenmassenhaltung«, »das Zusammengepferchtsein vieler Menschen auf engstem Raum«, führt zur Steigerung »innerartlicher Aggression«. Würden solche Überlegungen ins Kalkül gezogen, dürften nicht beinahe euphorisch immer neue Zahlen vermeldet werden, wie hoch über 50 Prozent bereits der Anteil der Menschen gestiegen ist, die in Städten leben. Und offene Grenzen würde es auch nicht geben.
Unter »Wärmetod des Gefühls« subsumierte Lorenz Abstumpfungsphänomene durch Gewöhnung an schnelle Bedürfnisbefriedigung, die einer Konsumgesellschaft eigen ist. Heute dürfte es kaum einen Lehrer geben, der nicht über eine nahezu minimierte Anstrengungsbereitschaft und Frustrationstoleranz bei Schülern berichten kann.
Besonders beklemmend in der »Zeitenwende«: die Aktualität von Lorenz’ Feststellung, Technik habe das Potential, biologisch und kulturell im Menschen angelegte Faktoren wie die natürliche Tötungshemmung (Beißhemmung bei Tieren!) durch moderne Fernwaffen, deren Zerstörungswucht man nicht direkt miterlebt, sondern nur — wenn überhaupt — am Bildschirm sieht, außer Kraft zu setzen. Fast gespenstisch, wie sehr das eintrat, was Lorenz prophezeite: Der Krieg ist nicht mehr real, sondern kann als virtuelles Computerspiel beworben werden.
Es ist eine Ironie besonderer Art, daß Lorenz’ Warnruf in den 1970er Jahren zwar in die Zeit einer erstarkenden Umweltschutzbewegung fiel (und diese nicht unerheblich inspirierte und befeuerte), aber im damals vorherrschenden Machbarkeits-Paradigma (noch) nicht hegemonial werden konnte, während er heute im hegemonialen, ersatzreligiösen Klimarettungsdiskurs, auf den sich »progressives« Umweltbewußtsein reduziert hat, keinerlei Verwendung mehr findet.
Neben dem Nachweis einer angeborenen Lerndisposition, der »Prägung«, welche dem »Gänsevater« ikonische Bilder in Medien auf der ganzen Welt bescherte, bot eine zweite Lorenz’sche Forschungsthese massiven Anlaß zum Widerspruch. Im Bayerischen Rundfunk spricht Konrad Lorenz über das, was er Das sogenannte Böse nennt — einen angeborenen Aggressionstrieb als einen »auf den Artgenossen gerichteten Kampftrieb von Tier und Mensch«. Damit stellte er sich quer zur herrschenden Wissenschaftsmeinung, die dekretierte, »daß Destruktivität und Feindseligkeit im menschlichen Verhalten« das Ergebnis »erzieherische[r] und kulturelle[r] Deformation« seien. Primärer Sinn dieses Triebes: Eine arterhaltende Verteilung auf die zur Verfügung stehende Nahrungsfläche zu gewährleisten. Der Volksmund, so Lorenz, habe ein gutes Gespür dafür, wie natürlich der Aggressionstrieb ist, wenn er sagt, man habe sich »zusammengerauft«.
Lorenz weiß sehr genau, daß es eine diametral gegenläufige Auffassung vom Menschen gibt: »Wenn man an die Allmacht des Erworbenen, des Erlernten, glaubt, und meint daß der Mensch als tabula rasa geboren wird und sein ganzes Verhalten nur davon abhängt, was er in seiner Jugendentwicklung gelernt hat — das redet denen zu Gesicht, die den Menschen als etwas gänzlich anderes als andere Lebewesen auffassen und damit das Instinktive nur den Tieren zuschreiben.« (ab Minute 4:50) Und erteilt dieser Auffassung eine scharfe Absage: »Der Irrglaube, daß man dem Menschen, richtige ›Konditionierung‹ vorausgesetzt, schlechterdings alles zumuten, schlechterdings alles aus ihm machen kann, liegt den vielen Todsünden zugrunde, welche die zivilisierte Menschheit gegen die Natur, auch gegen die Natur des Menschen begeht.«
Lorenz’ Schüler Irenäus Eibl-Eibesfeldt verteidigt den Nobelpreisträger gegen Kritiker, die unterstellen, er würde Aggression verharmlosen, indem er eine Art »Raubtiermensch« mit »Killerinstinkt« als natürlich gegebenen Zustand postuliert — gipfelnd in die Anklage, diese Sicht auf den Menschen würde all jene exkulpieren, »die sich an den Massenverbrechen der letzten Jahrzehnte beteiligt haben«. Eibl-Eibesfeldt weist darauf hin, daß all das, was man Lorenz vorwirft, in seinem Buch weder geschrieben steht noch intendiert wird — ganz im Gegenteil habe man dieses Werk vielmehr als ein »Bemühen um Aggressionskontrolle« zu verstehen.20 Der Schüler sollte das heftig umstrittene Problem der Aggressivität zu einem Schwerpunkt seiner eigenen Forschungen machen — ergänzt um einen weiteres heißes Eisen: die Frage, ob Territorialität dem Menschen ebenfalls wesenseigen ist.
Irenäus Eibl-Eibesfeldt (1928-2018) — Vorprogrammierung gibt es nicht
[Irenäus Eibl-Eibesfeld. Quelle: Peter Korneffel, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons.]
Jahrzehntelang war Irenäus Eibl-Eibesfeldts Grundriß der vergleichenden Verhaltensforschung das maßgebliche Lehrbuch im gymnasialen Biologie-Unterricht der Oberstufe21 — heute ist nicht nur dieses Werk aus dem Buchhandel verschwunden, sondern alle Schriften des Gründers der Humanethologie. Vergangen und vergessen auch der Ruhm des »Popstar« (Süddeutsche Zeitung), der die »Bibel« der Verhaltensforschung schrieb (Focus), als »Vermittler zwischen Pflanzen-, Tier- und Menschenwelten« (taz) gefeiert wurde und als »Titan der Beobachtung« (Spiegel) galt.
Entlang der wesentlichen Buchpublikationen des Forschers läßt sich der Weg seines Erkenntnisinteresses verfolgen: 1949 befaßt sich die Wiener Dissertation des 21jährigen mit der Paarungsbiologie der Erdkröte, die 1963 vorgelegte Habilitation differenziert in Angeborenes und Erworbenes im Verhalten einiger Säuger,22 nun als Mitarbeiter von Konrad Lorenz. Es folgen populärwissenschaftliche Sachbücher wie Galápagos. Die Arche Noah im Pazifik (1960) und Im Reich der tausend Atolle. Als Tierpsychologe in den Korallenriffen der Malediven und Nikobaren (1964), wie das gesamte spätere wissenschaftliche Werk erschienen bei Piper. Dort vermerkt die recht kurze Verlagsgeschichte auf der Homepage, daß in den 1960er Jahren »im Bereich der Naturwissenschaften der Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt gewonnen werden konnte.« Sicher nicht zum Schaden des Verlags, denn seine Bücher waren keine Ladenhüter. Auch die Grundlagenwerke nicht, die ins schulische Curriculum eingingen: Grundriß der vergleichenden Verhaltensforschung (1967) und Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Grundriß der Humanethologie (1984). Umso erstaunlicher, daß unter den Piper-Autoren des Jahres 2024 der Name Eibl-Eibesfeldt nicht mehr gelistet ist.
In Eibl-Eibesfeldts Person kulminiert der Streit über die Frage, ob es eine prägende Natur des Menschen gibt oder ob der Mensch ein reines Kulturwesen ist. Alle linken Ideologien haben der Biologie den Kampf angesagt, sie hegen und pflegen die Vorstellung, »der Mensch würde als unbeschriebenes Blatt zur Welt kommen und erst über Lernprozesse die für ihn typischen Verhaltensweisen erwerben«.23 Eibl-Eibesfeldt hielt — in Fortsetzung der Forschungen seines Lehrers Konrad Lorenz — mit seinem Buch Der vorprogrammierte Mensch dagegen, Untertitel: »Das Ererbte als bestimmender Faktor im menschlichen Verhalten«.
Bezeichnend für die divergierenden Ansichten ist ein Streit zwischen dem Verhaltensforscher und dem Psychoanalytiker Werner Schmidbauer in den 1970er Jahren. Letzterer behauptete, bei Naturvölkern würde sichtbar, daß der Mensch im Urzustand, ohne sozial negativ überformt zu sein wie der weiße Imperialist, friedliebend und nicht staatenbildend sei. Eibl-Eibesfeldt konnte mit Filmaufnahmen bei den Ko!-Buschmännern diese Ansicht als Wunschvorstellung entzaubern: der Mensch ist auf Aggressivität und Territorialität gepolt; diese Eigenschaften müssen nicht eigens hervorgerufen werden, wie linke Ideologen insinuieren, sie müssen im Gegenteil als natürlich vorhanden eingehegt werden.
Schmidbauer versus Eibl-Eibesfeldt: Es war die Zeit, als Völkerkundler begannen, sich Ethnologen zu nennen und marxistisch grundiert weniger daran interessiert waren, Erkenntnisse über die von ihnen erforschten Völker zu gewinnen als diese vielmehr als Rohstofflager für ihre Ideologie zu instrumentalisieren,24 wie sie sich eine Ideal-Gesellschaft vorstellen25 — als »regulierte Anarchie«, jedenfalls als »Gesellschaften ohne Staat«.26 Es war auch die Zeit, als der Ethnologe Hans Peter Duerr die damals geltende Lesart, triebregulierende menschliche Verhaltensweisen wären in einem »Prozess der Zivilisation« (Norbert Elias) erworben worden, mit einem fünfbändigen Monumentalwerk als Mythos vom Zivilisationsprozeß (1988–2002) zurückwies. Schamgefühle etwa sind Duerr zu Folge keineswegs in der Neuzeit entstanden, sondern in allen antiken und archaischen Kulturen nachzuweisen — mithin sei Scham eine transkulturelle Universalie, also etwas, das »zum Wesen des Menschen gehört«. Und in ebendieser Zeit versetzte Irenäus Eibl-Eibesfeldt linken Umprogrammierungsphantasien, die den Menschen als »unbeschriebenes Blatt« benötigen, um ihn als Anywhere nomadenhaft an jeden beliebigen Ort dieser Welt verschieben zu können, einen herben Schlag mit der Feststellung: »Territorialität scheint ein universeller Zug des Menschen zu sein.«27
Man muß nicht um den heißen Brei herumreden: Den Bannstrahl eines zunehmend linksdrehenden Mainstreams hat Eibl-Eibesfeldt als reichweitenstarker Zuwanderungskritiker auf sich gezogen. Schon in den 1980er und 1990er Jahren stieß man damit auf starken Gegenwind, inzwischen wurde die Politik der uneingeschränkten Migration nach Deutschland zur quasireligiösen Tabuzone erklärt.
Dezidiert kritisiert Eibl-Eibesfeldt die Zuwanderung erstmals 1988, als »Übertreibung der Nächstenliebe« im Zeichen einer »Tugendsucht«, die »Zuviel des Guten« sei, womit er bereits wesentliche Ingredienzien dessen benennt, was sich im Laufe der Zeit zum gegenwärtigen Milieu der Wokeness ausgewachsen hat.28 Im Gespräch mit Michael Klonovsky vom Focus geißelt er 1996 Immigration von »Kulturfernen« als »Ethnosuizid« der Deutschen. Damals war noch ein offenes Wort im Mainstream möglich, auch im Spiegel konnte nicht nur Hans Peter Duerr zur selben Zeit (1994) eine gepfefferte Kritik an der Political Correctness äußern (»ein Lügengespinst«), er durfte sagen, Idealisten fühlten sich »von der Realität beleidigt« (heute sind Politiker von ihr »umzingelt«), alles unter Zustimmung des Interviewers — das Hamburger Blatt ließ 1982 einen »linken Sozialdemokraten« (Spiegel) dafür »plädieren«, »die Einwanderung von Türken in die Bundesrepublik ›scharf‹ zu drosseln und das Asylrecht ›drastisch‹ auf Europäer zu beschränken«, der SPD-Politiker (»Die Landnahme hat begonnen«) konnte eine »Verlagerung des türkischen Bevölkerungswachstums in die Bundesrepublik« als »gemeingefährlichen Unfug« bezeichnen, er durfte das Wort »Rückwanderung« verwenden und das »Recht« der Deutschen herausstreichen, »in einem deutschen und nicht in einem Vielvölkerstaat zu leben« — alles unter heutigen Vorzeichen verfassungsschutzrelevante Unsagbarkeiten.29 2016 hat dann Peter Sloterdijk ähnliches zur Massenimmigration gesagt (»Es gibt keine moralische Pflicht zur Selbstzerstörung«) wie zwanzig Jahre vor ihm Eibl-Eibesfeldt (»Man muß nicht notwendigerweise seine eigene Verdrängung begrüßen«). Nur hat dieser seine Ansichten nie zurückgezogen; Sloterdijk schon. Denn nun konnte man Sätze wie »Die deutsche Regierung hat sich in einem Akt des Souveränitätsverzichts der Überrollung preisgegeben« nicht mehr äußern, ohne Exkommunikationsandrohungen des Establishments zu ernten. Sloterdijk hatte es versucht, er hat sogar den Eibesfeldt’schen Begriff der Territorialität in seine Kritik von Merkels Willkommenskultur der offenen Grenzen eingebracht (»Auf Dauer setzt der territoriale Imperativ sich durch«) — aber der Wunsch, vom nunmehr politisch korrekt agierenden Spiegel weiterhin als Gesprächspartner akzeptiert zu werden, übertrumpfte die Überzeugung.
Zwar hat Eibl-Eibesfeldt schon wegen seiner Befunde zu Territorialität und Aggressivität einiges Naserümpfen auf sich gezogen, aber erst mit seiner offenen Migrationskritik war die Grenze überschritten — das Sturmgeschütz der Demokratie trat auf den Plan.
Im Spiegel vom 5. Februar 1989 polemisierte die Journalistin Marielouise Janssen-Jurreit, Autorin des Buches»Sexismus. Über die Abtreibung der Frauenfrage, über »das Weltbild des Verhaltensforschers Irenäus Eibl-Eibesfeldt«. Es ist ein wüstes Pamphlet gegen die gesamte Disziplin der Verhaltensforschung, das gleich eingangs mit einer unbegründeten Linienführung — Verhaltens- und Soziobiologie hätten »das Erbe der Rassehygieniker angetreten« — den Ton setzt. Und nur, weil diese Linie gefährlich sei, lohne es sich überhaupt, die »dünnen Erkenntnisse über die Universalien menschlichen Verhaltens« zu kritisieren, die Eibl-Eibesfeldt, ein »selbstzufriedener Inhaber eines behaglich-konservativen Weltbilds«, »immer wieder neu vermarktet«, mit »Biertischargumente[n]« in »platteste[r] Leitartikel-Prosa«. Nichts fehlt in diesem Anwurfszenario, weder die Anrufung der Unsympathengestalt »weißer Mann«, genauer des »weiße[n] Wissenschaftler[s]«, der sich anmaße, »intellektuelle Avantgarde des Planeten« zu sein, noch der Vorhalt, komplexe Zusammenhänge mit unterkomplexen Antworten zu versimpeln.
Was die Pamphletistin so außerordentlich erzürnt: Der Verhaltensforscher behaupte die Existenz einer dem Menschen angeborenen »Fremdenfurcht«30 — eine »chauvinistische These«. Wikipedia macht daraus sicherheitshalber »Fremdenfeindlichkeit«. Janssen-Jurreit geht noch sicherer, indem sie ergänzt, Eibl-Eibesfeldt würde eine »Neigung zum Gefolgsgehorsam gegenüber schutzversprechenden Führerfiguren« ebenfalls »zur biologischen Grundausstattung« des Menschen rechnen. Damit kann sie nun ihr eigentliches Hauptanliegen vorbringen — die Verteidigung der Zuwanderung nach Deutschland gegen Eibl-Eibesfeldts Einwand, »die Tragekapazität eines Landes« sei »begrenzt« und fortgesetzte Zuwanderung käme »einer Landnahme gleich«.
Zudem mißfallen Janssen-Jurreit die »Wunschträume« Eibl-Eibesfeldts, Kulturen könnten koexistieren »unter Wahrung der eigenen Identität«. Für Universalisten eine schreckliche Vorstellung, die allerdings an den Realitäten scheitere, denn, so frohlockt die Spiegel-Journalistin: »Die eine Weltkultur und Zivilisation ist bereits überall eingetroffen«. Eine Diagnose, die wunderbar zu ihren eigenen Wunschträumen paßt: »Ent- und Vermischung kultureller Komplexe«, »Herausbildung flexibler Identitäten«. Womit wir wieder bei der Menschheits- und Weltgesellschafts-Utopie angelangt wären, gegen die sich die Anthropologie Gehlens stemmte — und die auch in der nächsten Folge von Aufheben einen vehementen Widerspruch erleben wird.
Epilog
Im Oktober 2024 hieß es in allen Zeitungen und auf allen Kanälen: »Eibl-Eibesfeldt gibt Kulturgut an Aborigines zurück«. Nun war diese Nachricht für einen Nicht-Eingeweihten nicht zu verstehen. Man mußte zu ihrer Dechiffrierung wissen: Erstens, daß es sich nicht um den Verhaltensforscher Irenäus Eibl-Eibesfeldt handelt, der da »zurückgibt«, den einzigen Träger dieses Namens mit öffentlicher Reputation, sondern um dessen Sohn Bernolf, der — als Chefarzt gerade pensioniert — offenbar ein medial wirksames Tätigkeitsfeld für den Ruhestand sucht. Zweitens, daß die Aborigines »australische Ureinwohner« sind, wie der WDR-Bericht unter der Titelzeile vermerkt. Drittens, daß der Vater des Rückgebers in aller Herren Länder unterwegs war, um Studien über menschliche Verhaltenmuster durchzuführen, eben auch in Australien, manchmal begleitet von seinem Sohn — und daß er, viertens, dabei »Objekte« erworben hat, »Bumerangs, Messer, Schilde, eine Speerschleuder«. Nun wird sich der nicht vorinformierte Medienkonsument fragen, was diese Geschichte in den Nachrichten eines GEZ-Senders zu suchen hat.
Im Gegensatz zum ahistorischen Narrativ für die Rückgabe der Benin-Bronzen aus Berlin nach Nigeria durch die deutsche Außenministerin versuchte man sich in diesem Fall gar nicht an einer Begründung. So fragt sich der Hessen-Schau-Zuschauer, warum etwas, daß durch »Handel und Tausch«, also rechtmäßig, den Besitzer gewechselt hat, rückgeführt werden sollte an die »ursprünglichen Erschaffer« — muß man also als Autokäufer künftig damit rechnen, seinen Wagen irgendwann an die Ingenieure und Fließbandarbeiter zurückgeben zu müssen, die ihn entworfen und zusammengeschraubt haben?
Noch mehr Fragezeichen werden auftauchen, warum man für diese Rückgabe eine aufwendige, medienumrauschte »Zeremonie«, welche »per Livestream nach Australien übertragen« wurde, organisiert hat, für die nach Frankfurt reisten: »Älteste der Warlpiri«, jenes Stammes, dem der Forscher 1972 etwas abgekauft hatte; »die australische Botschafterin« in Deutschland; »ein Vertreter des Auswärtigen Amtes«.
Ganz Verwegene könnten sich sogar fragen, warum Bernolf die »Objekte« nicht einfach per Kurierdienst nach Australien geschickt hat. Die Antwort ist einfach: Weil ohne Medienresonanz die Rückgabe sinnlos gewesen wäre. Denn im bekennerhaften Tugendrausch unserer Tage zählt nur, was auch die ganze Welt sehen kann. Was Irenäus Eibl-Eibesfeldt zu diesem inzwischen peinlichen Treiben eines dauerschuldabbittenden Zeitgeistes sagen würde — eines Zeitgeistes, der selbst dann Schuld bekennt, wo keine besteht, wie in diesem Fall?
Ohne den großen Namen des fast vergessenen Popstars der Biologie hätte die überdimensional aufgeblasene Rückgabeaktion keinerlei Nachrichtenwert gehabt. Dafür also ist Irenäus Eibl-Eibesfeldt noch gut — dem Wokeismus, den er verachtet hat, Nahrung für seine Propagandamaschinerie zu liefern. Es ist absurd, daß ein großer Erforscher von Universalien medial auf derartigen Kokolores reduziert wird. Man sollte seine Schriften lesen und seine Befunde zum Wesen des Menschen in die Diskussionen unserer vielfach argumentlosen Basta-Gegenwart einbringen. Damit Eibl-Eibesfeldt aber wieder ins Gespräch kommen kann, müßte sich ein Verlag finden, der seine Schlüsselwerke wieder auf eine öffentlich sichtbare Bühne hebt.
Konrad Lorenz habe einmal gesagt, so zitiert Irenäus Eibl-Eibesfeldt seinen Lehrer, »es sei doch sehr unwahrscheinlich, daß von einer Generation auf die andere alles kulturelle Wissen auf einmal hinfällig und überholt ist«. Leider hat sich in der Zeit, nachdem dieser Satz ausgesprochen wurde (im Focus-Interview 1996), gezeigt, daß die von Lorenz angemahnte Todsünde »Abreißen der Tradition« eine nahezu durchschlagende Wirkung erzeugt hat. Das Herausgefallensein seiner eigenen Forschung aus dem Diskurs der Gegenwart bietet dafür neben der totalen Verdrängung von Eibl-Eibesfeldts Schriften ein deutliches Indiz.
Anmerkungen
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Joachim Fischer: Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts. Freiburg und München: Alber, 2009. — Als Assistent und Habilitant des Gehlen-Schülers Karl-Siegbert Rehberg ist Fischer ein akademischer Enkel von Arnold Gehlen. ↩
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Wo die »Neue Rechte« allerdings, wie der Gehlen-Schüler und Werk-Herausgeber Karl-Siegbert Rehberg meint, mit einem »institutionenstürmerischen Furor« auftritt, der Gehlen nicht gefallen hätte, dürfte sein Exklusivwissen bleiben; stützt sich die Rechte doch vielmehr deswegen auf Gehlen, weil sie mit ihm die Überzeugung teilt, daß entlastende und funktionsfähige Institutionen für den Menschen von zentraler Wichtigkeit sind. Wo »notfalllibertär« (Martin Lichtmesz) von der »Neuen Rechten« tatsächlich einmal die Institution Staat in Frage gestellt und ventiliert wird, ob man lagebedingt als Bürger nicht »dem Staat verloren gehen« müßte (Götz Kubitschek), liegt dieser Kritik eine Preisgabe seiner entlastenden Funktion von Seiten des Staates zugunsten einer enthemmten Grundgesetzaushebelung im Namen der Corona-Pandemie zugrunde. — Das Zitat bei: Karl-Siegbert Rehberg: Von den großen Herrschaftsordnungen zum Verteilungssystem. Arnold Gehlens melancholisches Staatsverständnis. In: Christine Magerski (Hrsg.): Die Macht der Institution. Zum Staatsdenken Arnold Gehlens.
Baden-Baden: Nomos, 2021, S. 17–44, hier S. 38 f. ↩ -
So zusammenfassend Uwe Jochum: Langmut. Den Widerstand üben. Kaplaken 92. Schnellroda: Antaios, 2024, S. 15. ↩
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Arnold Gehlen: Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik. Frankfurt am Main: Klostermann, 2004, S. 107. — Gehlen war pessimistisch, an der von ihm konstatierten Lage etwas ändern zu können; er belächelte und neidete gleichzeitig Adornos »hohen utopischen Schwung« und wurde seinerseits von konservativen Weggefährten wie Hans Dietrich Sander, die seine Lageanalyse teilten (zu Sander in der nächsten Folge), auf Grund dieser Preisgabe der Substanz heftig angegriffen. ↩
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Der zweite Teil der Ullrich-Alarmierung (»Entwicklung hierzulande noch nicht so fortgeschritten wie in den USA«) ist deshalb bei Lichte besehen auch keine Bestandsaufnahme eines Zustands, sondern die Angst der Elite, auch »hierzulande« könnte die Demokratie — die grundgesetzlich gemeinte, in der der Souverän bestimmt, nicht »unsere Demokratie« — die Demokratiebeschlagnahmer austauschen gegen eine Alternative, welche in Demokratien Opposition genannt wird. Allein schon Ullrichs Insinuation, demokratische Wahlen wie in Mitteldeutschland und den USA würden Anlaß geben, über »das Scheitern von Demokratien« zu sprechen, ist perfide. In einer solchen Gedanken(?)welt geht dann der Sprung von »der Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur« zu »Trump zurück im Weißen Haus«, Erstarken der AfD, Zerbrechen der Ampelkoalition schnell und übergangslos, so als wäre das die zwingende Kausalität. Bebildert wird ein Text über die Präsidentschaftswahl in den USA und das Scheitern einer Bundesregierung an sich selbst übrigens damit: »Kabinett Hitler 1933: Binnen kürzester Zeit gelang dem NSDAP-Chef die Errichtung seiner Diktatur«. ↩
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Jürgen Habermas: Nachgeahmte Substanzialität. Eine Auseinandersetzung mit Arnold Gehlens Ethik. In: Merkur Nr. 264 vom April 1970. ↩
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Im gesamten Gehege der universitär arbeitenden Gesellschaftswissenschaften ist dieses Vergessen zu beobachten. Außer Bernd Rieken, einem ostfriesisch-wiener Psychoanalytiker und Volkskundler, beruft sich seit langem kein deutscher Volkskundler (und überhaupt Ethnologe) mehr auf die Anthropologie Gehlens — und wenn er es täte, wäre seine Stellung im akademischen Betrieb akut gefährdet; er würde als »Reaktionär« verunglimpft werden. ↩
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Martin Rhonheimer: Die Entdeckung der Familie. In: Familie – Feindbild und Leitbild. Köln, ²1979, S. 11-34, hier S. 33 f. ↩
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Siegmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur (1930). In: Siegmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur. Und andere kulturtheoretische Schriften. Mit einer Einleitung von Alfred Lorenzer und Bernhard Görlich. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag, 42015, S. 67. ↩
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Rhonheimer, Entdeckung (1977/1979), wie Anm. 8, S. 11. ↩
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Nikolaus Lobkowicz: Die Familie als Bildungsinstanz. In: Familie — Feindbild und Leitbild. Köln ²1979, S. 95–113, hier S. 96 f. ↩
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Ebd. S. 100. ↩
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Wie ja auch anstelle des konkreten Volkes (entsprechend dem vom Verfassungsschutz inkriminierten »ethnischen Volksbegriff«) eine beliebig zusammensetzbare »Bevölkerung« gesetzt werden soll (verbal und de facto), an Stelle des Nationalbewußtseins eines deutsches Volkes ein abstrakter »Verfassungspatriotismus« der jeweils gerade im Geltungsgebiet des Grundgesetzes anwesenden »Bevölkerung«, und viele dergleichen Manipulationen mehr. ↩
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In seinem im Fließtext unter »instabil« verlinkten Vortrag »Die Instabilität politischer Institutionen« verlangt Gehlen bei Minute 26:48 von politischen Entscheidungsträgern, »nichts aus Furcht vor der Presse zu tun oder zu unterlassen, die ja die Tendenz hat, den Ermessenspielraum verantwortungsbelasteter Personen unter Druck zu setzen und ihre Entscheidungen vorweg zu formulieren«. ↩
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Karlheinz Weißmann: Arnold Gehlen. Vordenker eines neuen Realismus. Schnellroda: Antaios, 2004; Einträge zu Person und Schlüsselwerken in: https://wiki.staatspolitik.de/index.php?title=Hauptseite. — Literaturgespräch zu Werk und Wirken Gehlens zwischen Götz Kubitschek und Erik Lehnert auf dem Kanal Schnellroda: https://www.youtube.com/watch?v=8VGvzEEF870; Kondensat der Gehlen’schen Anthropologie zwischen Minute 10 und 20: https://www.youtube.com/watch?v=fu3pDK9mhkA. Wer sich zum Vergleich informieren will, was FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube im Deutschen Literaturarchiv Marbach unter dem Titel »-ismus. Ideologien & Literatur« über »Arnold Gehlens Konservatismus« zu sagen hat und über eine Stunde auf dem Niveau der archivleitenden Germanistin Sandra Richter (»Vorsitzende der grünen Partei scheinen Literatur und Politik in Personalunion zu verkörpern«) durchzuhalten bereit ist, klicke mutig hier: https://www.youtube.com/watch?v=KdGARBP5qBg. ↩
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Doris Kaufmann: Konrad Lorenz: Scientific persona, »Harnack-Pläncker« und Wissenschaftsstar in der Zeit des Kalten Krieges bis in die frühen 1970er Jahre. Ergebnisse des Forschungsprogramms Geschichte der Max-Planck-Gesellschaft. Preprint 6, 2018, S. 5. Siehe: https://gmpg.mpiwg-berlin.mpg.de/media/cms_page_media/2/GMPG-Preprint_06_Kaufmann_2018_aPnmOHw.pdf. ↩
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Ebd., S. 38. — Diese Beliebtheit beim breiten Publikum hat Lorenz »das deutliche Unbehagen« von Fachkollegen an der »allgemeinverständlichen Präsentationsform seiner Forschung« eingebracht. Ebd., S. 29. »Das Lesepublikum [aber] schätzte den Wissenschafter Lorenz gerade wegen seiner empathischen Nähe zu Tieren und seiner Darstellungen ihrer emotionalen und kognitiven Fähigkeiten«. Ebd., S. 30. ↩
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Ein Punkt, in dem Lorenz nahe bei Gehlen steht, der konstatierte: »Es kommt überall hinaus auf den Ersatz des Natürlichen und Gewachsenen, auf seinen Ersatz durch voraussetzungslose Machenschaften und diese Wendung zieht auch die Traditionen in ihre Gegnerschaft hinein. Denn das Traditionelle ist ja das Selbstverständliche, das als natürlich Empfundene.« ↩
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Konrad Lorenz: Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit. In: Hans Albert (Hrsg.): Sozialtheorie und soziale Praxis. Eduard Baumgarten zum 70. Geburtstag. Meisenheim am Glan: Heim, 1971, S. 281–340. ↩
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Irenäus Eibl-Eibesfeldt: Der vorprogrammierte Mensch. Das Ererbte als bestimmender Faktor im menschlichen Verhalten. München: Deutscher Taschenbuchverlag, 1976, S. 112–114. ↩
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Siehe etwa das »Literaturverzeichnis Biologie« des Gymnasiums Leichlingen mit Irenäus Eibl-Eibesfeldt: Grundriß der vergleichenden Verhaltensforschung. Ethologie, 4. Auflage, München 1974: https://www.gymnasium-leichlingen.de/wp-content/uploads/Bestandsliste_SLZ_19022014.pdf. ↩
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Irenäus Eibl-Eibesfeldt: Angeborenes und Erworbenes im Verhalten einiger Säuger. In: Zeitschrift für Tierpsychologie 20 (1963), S. 705–754. ↩
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Eibl-Eibesfeldt: Der vorprogrammierte Mensch (1976), wie Anm. 21, S. 9. ↩
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Ganz im Sinne des sozialistischen Redakteurs Conny Karrasch in Siegfried Lenz’ Heimatmuseum, für den Realität nichts weiter ist als ein Ressourcenlager für seine Propaganda. ↩
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Später sollte ein deutscher Barde dies im Brüllton vortragen: »Dann müssen wir diktieren, wie eine Gesellschaft auszusehen hat«. ↩
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Christian Sigrist: Regulierte Anarchie. Untersuchungen zum Fehlen und zur Entstehung politischer Herrschaft in segmentären Gesellschaften Afrikas. Texte und Dokumente zur Soziologie. Studien des Instituts für Soziologie. Herausgegeben von Heinrich Popitz. Olten und Freiburg im Breisgau: Walter, 1967; ders.: Gesellschaften ohne Staat und die Entdeckungen der ›social anthropology‹. In: Fritz W. Kramer / Christian Sigrist (Hrsg.): Gesellschaften ohne Staat, Band 1. Frankfurt am Main: Syndikat, 1978, S. 28 ff. ↩
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Eibl-Eibesfeldt: Der vorprogrammierte Mensch (1976), wie Anm. 21, S. 95. ↩
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Irenäus Eibl-Eibesfeldt: Der Mensch — das riskierte Wesen. Zur Naturgeschichte menschlicher Unvernunft. München: Piper, 1988 (hier: Neuausgabe 1991), S. 177–202. ↩
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Der Spiegel druckte seinerzeit Auszüge aus: Martin Neuffer: Die Erde wächst nicht mit. Neue Politik in einer überbevölkerten Welt. München: Beck, 1982. — Eibl-Eibesfeldt zitiert im Riskierten Wesen (siehe vorherige Anmerkung, dort S. 192–194) ausführlich daraus. ↩
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Irenäus Eibl-Eibesfeldt: Die Biologie des menschlichen Verhaltens. Grundriß der Humanethologie. München: Piper, 1984, S. 223 u. 476. ↩