»Zivilcourage«

Geschrieben von Uwe Jochum am 15.1.2017

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Uwe Jochum

Wissenschaftlicher Bibliothekar

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Die Dreisten

Die von einem Urheber hervorgebrachten Werke sind gesetzlich geschützt. Das heißt zunächst einmal, daß nur der Urheber darüber bestimmt, ob und wie sein Werk veröffentlicht wird (§ 12 Urheberrechtsgesetz [UrhG]). Folglich muß man den Urheber fragen, wenn man sein Werk veröffentlichen und damit vielleicht sogar Geld verdienen will, und ohne seine Zustimmung geht da gar nichts. In bestimmten Kontexten — konkret: in Schulen und Hochschulen — geht es nun freilich nicht um eine kommerzielle Verwertung von Werken, sondern — im Idealfall — um die Heranführung an solche Werke. Und daher hat der Gesetzgeber in diesen Fällen das Urheberrecht eingeschränkt: Zu Unterrichtszwecken dürfen kleine Teile von Werken und dürfen Werke geringen Umfangs öffentlich zugänglich gemacht werden, ohne daß man zuvor den Urheber fragen muß; und für diese Verwendung ist eine angemessene Gebühr zu zahlen (§ 52a UrhG).

Das ist alles nicht sonderlich kompliziert. Es ist, wenn man so will, eine Schranke mit einer Schranke, und zwar um der Fairneß willen: Das Urheberrecht, das dem Autor die Verfügungsmacht über sein Werk einräumt, wird für Unterrichtszwecke beschränkt (man muß den Autor nicht fragen, wenn man einen Teil seines Werkes benutzen will), und diese Beschränkung des Urheberrechts wird ihrerseits beschränkt, indem man zu Unterrichtszwecken mit den Werken nicht alles machen darf, was einem so einfällt: Man darf beispielsweise nicht den ganzen »Faust« in der Fassung der »Hamburger Ausgabe« einscannen und den Studenten eines Faust-Seminars zur Verfügung stellen. Und man darf als Bibliothek einen solchen Scan auch nicht im Rahmen der Fernleihe verschicken.

Drawing[Abb. 1: Gerechtigkeistbrunnen in Frankfurt am Main. Quelle: Mylius auf der Wikipedia]

Und nun kommt das »Aktionsbündnis ›Urheberrecht für Bildung und Wissenschaft‹« und sagt in seiner »Göttinger Erklärung«: »Bildung und Wissenschaft müssen die neuen Formen der Verbreitung und des Erwerbs von Wissen und Information ohne Behinderungen nutzen können.« Gemeint scheint dies: Was technisch geht — das Scannen von Texten, das Einstellen der Scans in sog. »elektronische Semesterapparte« u.a.m. — soll im Kontext von Bildung und Wissenschaft auch jederzeit gemacht werden dürfen, und zwar ohne irgendwelche Restriktionen. Jetzt soll also der ganze »Faust« jederzeit eingescannt und Schülern/Studenten zur Verfügung gestellt werden dürfen, meinetwegen auch über die Fernleihe; und für die Bereitstellung von Werken von Wissenschaftlern im Staatsdienst (»öffentlich finanziert«) ist nach den Vorstellungen des »Aktionsbündnisses« auch keine Vergütung mehr zu bezahlen:

Aktionsbündnis

Mit anderen Worten: Der schöne § 1 des UrhG — »Die Urheber von Werken der Literatur, Wissenschaft und Kunst genießen für ihre Werke Schutz nach Maßgabe dieses Gesetzes.« — würde für die Urheber in Bildung und Wissenschaft nicht mehr gelten; sie wären hinfort recht- und schutzlos den schrankenlosen Bedürfnissen von Forschung und Lehre ausgeliefert; Fairneß im Umgang mit geistigem Eigentum war gestern. Man kann sich denken, daß die auf dieser Basis den jungen Menschen in Schule und Hochschule anerzogene Wurstigkeit im Umgang mit dem geistigen Eigentum anderer Menschen ja nicht mit dem Ende der Schulzeit oder dem Ende des Studiums aufhört, sondern munter ins weitere Leben mitgenommen und als ein »Ich darf alles mit den Texten machen, was ich will, und muß dafür nichts bezahlen« auch im Alltag gelebt werden wird.

Nun sind wir freilich noch lange nicht dort, wo das »Aktionsbündnis« uns gerne haben möchte. Immer noch haben wir ein Urheberrecht, und immer noch haben wir die entsprechenden Schrankenregelungen. Und dazu gehört eben auch, daß eine Vergütung für die Nutzung von urheberrechtlich geschütztem Material zu zahlen ist. Bis Ende 2016 galt dabei eine Vereinbarung zwischen der Kultusministerkonferenz und der Verwertungsgesellschaft Wort (VG Wort), bei der diese Vergütung in Form einer Pauschale erfolgte. Die VG Wort, die schon seit Jahren auf eine Einzelvergütung der in Schule und Studium benutzten urheberrechtlich geschützten Materialien drängt und für ihr Drängen auch auf ein Gerichtsurteil (BGH, 20. März 2013, Az. I ZR 84/11) verweisen kann, hatte sich nun im Sommer 2016 mit der Kultusministerkonferenz darauf geeinigt, daß ab Januar 2017 auf eine Einzelvergütung umgestellt wird. Nur hatte sie die Rechnung ohne den Wirt gemacht: Die Bibliothekslobbyisten stellten sich gegen diese Vereinbarung und sorgten dafür, daß die Universitäten, die jede für sich dem neuen Rahmenvertrag hätte beitreten müssen, dem Rahmenvertrag eben nicht beitraten. Das ist zweifellos ein Beispiel für erfolgreiche Lobbyarbeit, aber eben auch ein unschönes Beispiel dafür, wie eine gesellschaftliche Gruppe (die Bibliotheken) ihre Bedürfnisse zulasten einer anderen gesellschaftlichen Gruppe (der Autoren) durchdrückt.

Denn man muß das ganz klar sagen: Die VG Wort handelt ja nicht auf eigene Rechnung, sondern im Namen der Autoren, deren Rechte sie geltend macht, und dazu gehört eben auch, daß die Autoren eine faire Vergütung erhalten. Man kann das sicherlich in Form einer Pauschale machen, wie man es über Jahre gemacht hat; aber man wird eine solche Pauschale auf Dauer nicht fair nennen können, denn sie geht davon aus, daß alle von der VG Wort vertretenen Autoren »irgendwie« — man weiß bloß nicht, wie — in den Genuß von Bibliothekstantiemen kommen; fairer wäre es in der Tat, wenn die viel gelesenen — oder doch zumindest viel eingescannten — Autoren auch eine höhere Vergütung bekämen als die wenig gelesenen. Den Bibliothekslobbyisten war und ist das völlig egal, sie wollten den Boykott der Einzelabrechnung und sie bekamen ihn.

Und was tut das »Aktionsbündnis« in dieser Situation? Es wittert Morgenluft: Es rät den Bibliotheken nicht nur, dem neuen Rahmenvertrag mit seinen Einzelabrechnungen nicht beizutreten, sondern es lehnt im selben Atemzug auch ab, daß die Bibliotheken individuelle Einzelabrechnungsverfahren mit der VG Wort vereinbaren — was darauf hinausläuft, daß dann eben überhaupt keine Vergütung mehr erfolgt. Und weil man schon einmal dabei ist, alles Recht und alle Fairneß hinter sich zu lassen, meint man in einer »Empfehlung« gar, es sei ein Akt von »Zivilcourage«, wenn man die elektronischen Semesterapparate mit den nun nicht mehr vergüteten Werken nicht lösche, sondern schlicht und einfach weiterführe:

Drawing

Nun ist es eine Sache, sich politisch für das Ende des geltenden Urheberrechts stark zu machen; eine ganz andere Sache aber ist es, wenn man als Beamter — und die Akteure des »Aktionsbündnisses« sind nahezu ausschließlich Beamte, die sich zur Treue der Verfassung und den Gesetzen gegenüber verpflichtet haben — im Konfliktsfall eine juristische Empfehlung abgibt, die auf nichts anderes als eine Empfehlung zum Rechtsbruch hinausläuft. Es zeugt von einer ziemlichen Chuzpe, den empfohlenen Rechtsbruch einen Akt von »Zivilcourage« zu nennen: Zivilcourage meint im richtigen Leben ein Handeln, bei dem man versucht, für allgemein-ethische Werte auch dann einzutreten, wenn man dabei Nachteile oder Gefährdungen in Kauf nehmen muß. Im falschen Leben, das wir hier im Bibliotheksmilieu beobachten können, meint das Wort aber das genaue Gegenteil davon: Hier geht es um die Durchsetzung eines bibliothekarischen Partikularinteresses, und das auch nicht in einer politischen Gefährdungssituation, sondern in einer Situation, in der die sich hinter dem »Aktionsbündnis« scharenden mächtigen Akteure der Wissenschaftsbürokratie offenbar alle darin einig waren, den Rahmenvertrag zu boykottieren; daß man dabei auf juristisches Glatteis geriet, war gewollt, und zwar ganz offensichtlich in dem zynischen Kalkül, daß die VG Wort dem geschlossenen Boykott der Bibliotheken nichts anderes als eine gerichtlich festgestellte Rechtsposition entgegenzusetzen habe, aus der sie politisch kein Kapital schlagen könne. Zu wollen, was die Mächtigen wollen, auf deren Seite man steht, und für dieses rechtsbrüchige Wollen aufgrund der herrschenden Machtverhältnisse keine Sanktionen fürchten zu müssen, sondern allseits Lob zu ernten — ist keine Zivilcourage.

Diese falsch deklarierte »Zivilcourage« ist vielmehr in ihrem tiefsten Grund nichts weiter als juristische Arroganz, die sich den herrschenden Machtverhältnissen umstandslos angepaßt und angedient hat. Das kam sehr schön ans Tageslicht, als auf der Mailingliste inetbib Bertram Salzmann, der Geschäftsführer von www.digitaler-semesterapparat.de (eine kommerziell und rechtskonform arbeitende Plattform für elektronische Semesterapparate) darauf hinwies (am 22. Oktober 2016), daß an jenen Hochschulen, die dem Rahmenvertrag nicht beitreten, ab dem 1.1.2017 aus den elektronischen Semesterapparaten die urheberrechtlich geschützten Materialien entfernt werden müssen:

Salzm-01

Und was sagte dazu Harald Müller, der zusammen mit Rainer Kuhlen das Aktionsteam des »Aktionsbündnisses« bildet? Er sagte:

Mueller

Da konnte Dr. Salzmann nur noch verbal staunen:

Salzm-02

Wir staunen mit ihm, wundern uns aber nicht im geringsten.