Seht, wie sie sich freuen!

Geschrieben von Uwe Jochum am 14.7.2017

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Uwe Jochum

Wissenschaftlicher Bibliothekar

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Nun also: Der Bundestag hat das vom offiziellen deutschen Bibliothekswesen und den Wissenschaftsorganisationen samt der Kultusbürokratie gewünschte neue Urheberrecht am 30. Juni noch vor der Sommerpause und der kommenden Bundestagswahl durchgeprügelt. Erwartungsgemäß stimmte der Bundesrat der Gesetzesänderung am 7. Juli zu. Und nun sind alle Bibliothekare, Wissenschaftsorganisatoren und Kultusbürokraten vor heller Freude außer Rand und Band. Noch am Tag der Abstimmung im Bundestag und erst recht eine Woche später nach der Zustimmung des Bundesrats hörte man aus den Universitätsbibliotheken die Sektkorken knallen, die Deutsche Forschungsgemeinschaft setze vor ihrer Zentrale in Bonn die Fahnen auf Vollmast, und die Wissenschaftsministerien gaben den lobbyierenden Bibliothekskolleginnen und -kollegen einen Tag Sonderurlaub. So groß war allenthalben die Zufriedenheit ob des juristischen Sieges!

So hätte es sein können, und so hätte es sein sollen. Aber es kam ganz anders. Der Tag der Abstimmung im Bundestag verging, ohne daß sich ein Bibliothekar gemuckst hätte, und erst einen Tag später lancierte Oliver Hinte, der unermüdlich für eine Änderung des Urheberrechts gekämpft habende Sprecher des »Aktionsbündnisses«, eine kurze Mitteilung auf der Mailingliste inetbib, die einen falschen Link auf die Website des Bundestags brachte, auf der sich eine knappe Zusammenfassung der Debatte und ihres Ergebnisses finden sollte. Ein Bibliothekskollege aus Hagen hat den Link noch am selben Tag korrigiert — und das war’s dann auch schon. Seither nichts. Von Freude keine Spur. Resonanzlos verhallte der Sieg.

Drawing[Abb. 1: Nach dem Kampf. Quelle: SpeedyGonsales via Wikimedia Commons.]

Man mag diese Stille für ein Zeichen von Erschöpfung halten, nach all den Anstrengungen der vergangenen Monate. Dagegen spricht allerdings, daß nach dem Sieg auch noch die erschöpftesten Athleten strahlende Interviews zu geben vermögen, in denen sie für die Öffentlichkeit verbal dokumentieren, wie sehr sie sich freuen. Und selbst die verbeultesten Boxer bringen nach dem Kampf ein öffentliches Lächeln zustande.

Hier aber, wo die Bibliothekare von der Forschungs- und Ministerialbürokratie in Watte gepackt zum Sieg getragen wurden und alles so leicht war, daß von davongetragenen Blessuren keine Rede sein kann — hier also diese offenbar im Triumph kollabierte Freude, dieses atmosphärische Siegesnichts.

Will man sich und andern dieses Siegesnichts erklären, ist es sinnvoll, zwei Dimensionen zu unterscheiden, die für das Zustandekommen des Gesetzes relevant waren.

Die erste Dimension, auf die einen Blick zu werfen sich lohnt, ist die demokratietechnische: die im Bundestag stattfindende Debatte und Abstimmung zum neuen Urheberrecht. Idealerweise sollte der Bundestag der Ort der sachlichen Auseinandersetzung sein, hier sollten die Argumente gewichtet werden, hier sollte der Staatsbürger erfahren, wie es sein Wahlkreisabgeordneter oder die Partei seiner Wahl mit der Sache hält, um die es geht. Davon hängt ab, wie sehr der demokratische Willensbildungsprozeß an den vorauslaufenden und ihn begleitenden gesellschaftlichen Diskussionsprozeß angebunden ist, wie transparent den betroffenen Bürgern das ganze Verfahren wird und wie sehr sie sich selbst in diesem Verfahren wiederfinden können. Und an dieser Stelle muß man im Falle des neuen Urheberrechtsgesetzes schlicht feststellen, daß es einen solchen transparenten Willensbildungsprozeß niemals gab, daß nach den üblichen Anhörungen in Ausschüssen, bei denen die Parteien die üblichen, nämlich ihnen genehmen Experten sprechen ließen, es zu einem schnellen Abstimmungsverfahren kam — für die Sitzung waren gerade einmal 40 Minuten angesetzt, davor für die Beratung über die Eheschließung von Personen gleichen Geschlechts immerhin eine Stunde —, an dem im Bundestag lediglich rund 40 Abgeordnete teilgenommen haben. Da der derzeitige Bundestag 630 Mitglieder hat, stimmten also über das neue Urheberrecht gerade einmal 6,35 Prozent der Abgeordneten ab. Das, so wird man sagen, sei parlamentarischer Normalbetrieb, und wir alle würden ja schließlich das Dictum von der Legitimation durch Verfahren kennen: Was in einer Demokratie in einem ordentlichen Verfahren beschlossen wird, gilt eben. Punkt.

Demokratie-leer[Abb. 2: So geht Demokratie im Bundestag: Abstimmung zum UrhWissG. Quelle: Deutscher Bundestag.]

Ich bin allerdings der Meinung, daß an dieser Stelle kein Punkt gesetzt werden kann, sondern die drei Punkte des Auslassungszeichens stehen müssen. Denn das Gesetz kollidiert in seinem Kern mit den Grundrechten, und der wohlfeile Begriff der »Schrankenregelung« meint ja genau dies: Daß hier jener Teil der Grundrechte, der die Verfügungsgewalt von Autoren über ihre Texte betrifft und der wie alle Grundrechte von den Verfassungsvätern als ein Widerstandsrecht gegen staatliche Begehrlichkeiten gedacht war, eingeschränkt wird. Halten wir also fest, daß 6,35 Prozent der Bundestagsabgeordneten Hand an die Verfassung legten, indem sie im neuen Urheberrecht eine Schrankenregelung gestaltet haben, die in die Grundrechte der schreibenden Staatsbürger direkt eingreift. Freilich: Einen solchen Eingriff gab es auch schon im alten Urheberrecht; aber das neue Urheberrecht verschärft die Situation u.a. dadurch, daß es den Autoren das Recht nimmt, darüber bestimmen zu können, in welcher medialen Gestalt ihr Werk in Bibliotheken, Archiven und Museen aufbewahrt wird. Das ist ein Makel, den das neue Gesetz nicht mehr loswird, es ist ein Makel in der Sache (der Verlust der Verfügungsgewalt der Autoren über ihr Werk) und es ist ein Makel im Verfahren (6,35 Prozent der Abgeordneten modifizieren ein Grundrecht) — und dieser doppelte Makel heißt zuletzt nichts anderes, als daß dem monströs titulierten »Urheberrechts-Wissensgesellschafts-Gesetz« der Ruch des Illegitimen anhaftet. Die Abgeordneten haben diesen Makel natürlich nicht als solchen benannt, aber durch die Befristung des Gesetzes auf fünf Jahre doch immerhin zu erkennen gegeben, daß hier im Grundsätzlichen etwas nicht recht ist.

Drawing[Abb. 3: So geht Demokratie in Glarus. Quelle: Adrian Sulc via Wikimedia Commons.]

Wir verstehen nun, warum in Bibliothekskreisen keine Freude aufkommen will: Hier hat sich im Parlament keine klare Mehrheit nach ausführlicher öffentlicher Debatte artikuliert, und hier ist auch nicht mit gutem Gewissen Recht gesetzt worden, das zweifelsfrei als legitim anerkannt werden und damit Bestand haben wird. Vielmehr hat sich hier eine Abgeordnetengruppe von der Ministerialbürokratie, den Wissenschaftsorganisationen und der Bibliothekslobby am Nasenring durch die parlamentarische Arena führen lassen. Und so hat man sich zwar durchgesetzt, kann sich aber nicht freuen, weil in fünf Jahren nach einer Evaluation des neuen Gesetzes alles wieder anders sein kann. Nach einem kläglichen Sieg gehen die Sieger mit gesenktem Kopf vom Schlachtfeld.

Der Eindruck des Kläglichen verstärkt sich noch, wenn man die zweite Dimension in den Blick bringt, die für das Zustandekommen des Gesetzes relevant ist: die Dimension des innerbibliothekarischen Diskurses. Der Laie wird erwarten, daß im deutschen Bibliothekswesen breit über die Vor- und Nachteile des neuen Gesetzes diskutiert wurde, daß die Kritiker an angemessenem Ort zu Wort kamen — in den Sitzungen des Deutschen Bibliotheksverbandes etwa oder auf einem der Bibliothekartage —, daß man die verschiedenen Akteure im Blick hatte und sich bewußt machte, daß das neue Gesetz den Werkschöpfern die undankbare Rolle zuweist, in Zukunft das textuelle Rohmaterial für die Werkabschöpfer und »Nachnutzer« zur Verfügung zu stellen. Der Eingeweihte aber weiß, daß es im Bibliothekswesen auch nicht den Hauch einer solchen kritischen Debatte gab, sondern von Anfang an unter reger Beteiligung der Ministerialbürokratie des Bundes und der Länder und vom Steuerzahler über Projektmittel der Forschungsförderer finanziert sehr rege lobbyiert wurde, und zwar mit der Prämisse, das bis dato geltende Urheberrecht durch ein angeblich »forschungsfreundlicheres« Urheberrecht zu ersetzen. Damit hatte man sich von Anfang an in eine Frontstellung zu den Autoren gebracht, und daß es so war, zeigte sich in dem Moment, als auf der Plattform www.publikationsfreiheit.de die Autoren deutlich machten, was sie von den Bestrebungen des offiziellen deutschen Bibliothekswesens hielten: nichts. Dieses Nichts ist bis heute für jedermann gut sichtbar: Während auf www.publikationsfreiheit.de 6338 Autoren (Stand: Juli 2017) durch ihre Unterschrift u.a. das Recht auf freie Medienwahl einfordern, brachte es die bibliothekarische Gegenaktion zur Unterstützung der Reform des Urheberrechts auf klägliche 551 Unterschriften (Stand: Juli 2017).

Drawing[Abb. 4: So könnte Demokratie auch gehen. Quelle: Maschinenjunge via Wikimedia Commons.]

Das hat aber keineswegs zu einer Ernüchterung auf der Bibliotheksseite geführt, sondern zu dem einfachen Versuch, die Reihen hermetisch zu schließen. Dazu genügte es, daß auf dem Blog Kapselschriften Eric W. Steinhauer sich daran machte, die auch in den großen Zeitungen — der BILD, der Frankfurter Allgemeinen, der ZEIT — zu lesende Kritik am neuen Urheberrecht als »sinnfrei« und »faktenfrei« beiseitezuwischen, als »gezielte Desinformationskampagne« zu denunzieren und darüber zu spekulieren, daß die kritische Presse in der Frage des Urheberrechts »wohl von Amateuren beraten worden« sei. Daß dabei die von Steinhauer besonders kritisierte Eigenannoncen der FAZ und der ZEIT eine Intention hatten, die dem bibliothekarischen Kritiker völlig entgeht — nämlich letztlich darauf aufmerksam zu machen, daß im digitalen Umfeld jede Kopie eines Werkes und eben auch eines Zeitungsartikels, die nicht mehr der Kontrolle des Produzenten untersteht, ein Problem der Werkherrschaft und ein Problem der Refinanzierung der Arbeit des Produzenten darstellt —, ist das eine. Das andere aber ist, daß zahlreiche Bibliothekare die Steinhauersche Kritik nicht nur bereitwillig übernahmen, sondern auch als ausreichende Basis betrachteten, auf der sich ein bequemes Gebäude von Aversionen gegen »die anderen« — die kritische Presse, die kritischen Bibliothekare, die Kritiker überhaupt — errichten ließ. An dieser Stelle spätestens schlug der bibliotheksöffentliche Diskurs in ein Verfahren des öffentlichen Anprangerns um, bei dem es nur noch darum ging, mit einer emotionalen Zeigegeste auf Twitter, inetbib oder sonstwo auf die Kritiker zu deuten und — Steinhauer hatte es ja vorgemacht — deren andere Meinung nach verstümmelndem Kurzzitat als »indiskutabel« oder »gewohnt widerwärtig« abzuqualifizieren und den Kritiker wenigstens versuchsweise mit einer Verbalinjurie — zu der man sich dann doch nicht traute — zu erledigen.

Drawing[Abb. 5: Daniel Defoe steht als Abweichler am Pranger. Quelle: Wellcome Images.]

Was sich hier zeigt, ist der Ansatz zur Bildung einer Hetzmeute, bei der sich das beste Gewissen (resultierend aus dem Kampf für das eigene Gute) mit den unangenehmsten Absichten (resultierend aus dem Kampf gegen den fremden bösen Feind) verschwistert hat. Noch schlägt das nicht in jene Entladung um, in der die Meute ihr Ziel findet. Aber der Stigmatisierungsprozeß läuft sich schon warm, und er muß es auch, denn nur so kann sich die Hetzmeute während ihrer Konstitutionsphase davor schützen, in der kritischen Meinung des anderen das Moment von Wahrheit zu erkennen, das die Meutenbildung unmöglich machen würde. Darin zeigt sich, wie richtig die Analyse war, daß das offizielle deutsche Bibliothekswesen und sein politisch korrektes Umfeld nicht mehr in der Lage ist, von sich selbst zu abstrahieren und die Wahrheit als einen Prozeß zu betrachten, der nicht nur den kontroversen Austausch von Argumenten braucht, sondern vor allem das Hören auf den anderen.

Wer nicht hören will, muß fühlen. Und in diesem Fall heißt das: Wer glaubt, die kritischen Stimmen seien durch einfache eliminatorische Akte per Blog und durch die offene Drohung mit dem Dienstrecht zum Schweigen zu bringen, der sieht sich nun mit dem Umstand konfrontiert, daß die aus der Hetzmeute aufsteigenden Eliminationsphantasien nur die andere Seite jenes schlechten Gewissens sind, das aus der argumentativen Verweigerung entspringt. Sichtbar aber wird das schlechte Gewissen zuletzt darin, daß keiner der bibliothekarischen Sieger, seien es nun einzelne Personen oder die Organisationen der mächtigen Wissenschaftsallianz, sich über den errungenen Sieg freuen kann.

Siegesparade[Abb. 6: Organisierter Sieg. Quelle: Pixabay.]