Immer wenn man denkt, es ist schon genug und kann nicht mehr weitergehen, dann geht es doch weiter. In diesem Fall in die wohlbekannte falsche Katastrophenrichtung einer Wissenschaftslenkung mittels »Open Access«.
Zur Erinnerung: Es begann im Januar 2020 in einem ersten Schritt mit der unschönen Entdeckung, wie leicht es für Universitäten ist, dank der bei »Open Access« üblichen und vorab zu entrichtenden Publikationsgebühr unliebsame Veröffentlichungen nun zwar nicht platt zu unterdrücken, aber doch immerhin jenen Autoren, die von dem abweichen, was die universitären Vormünder von ihrem Personal erwarten, Steine in den Weg zu legen. Im Falle einer solchen Abweichung muß die Universität, für die ein Autor arbeitet, lediglich die sonst übliche Finanzierung seines wissenschaftlichen Beitrags verweigern. Und schon findet sich der Autor auf seine ureigenste einfache Freiheit zurückgeworfen, nämlich zu denken und zu schreiben, was er für richtig hält — aber es ist eine im Ansatz substanzlose Freiheit, weil sie von der Institution, die sie eigentlich unterstützen müßte, nicht mehr unterstützt wird. Damit gibt die Universität ihre Rolle als Schutzraum freier und kreativer Forschung auf, einer Forschung, die sich nicht nach dem richtet, was andere für erforschenswert halten. Statt dessen wird die Universität nun zu einem Hort vormundschaftlich betreuten Denkens und Schreibens und Veröffentlichens nach Maßgabe der von Dekanen, Universitätsrektoren und -präsidenten oder Bildungsministern (alle gerne m/w/d oder non-binär) vorgegebenen Denkschemata.
[Thomas von Aquino. Quelle: Justus van Gent / Public domain, über Wikimedia.]
Das ist ein großer Schritt hinter alles das zurück, was die Aufklärung einmal wollte und erreicht hatte. Und wenn mich nicht alles täuscht, werden wir uns bald wieder im Jahr 1277 befinden, als Etienne Tempier, der Bischof von Paris, 219 »Thesen« (gemeint sind Lehrsätze aus Philosophie, Theologie und den Naturwissenschaften) als ketzerisch verurteilte und an der Pariser Universität — »seiner« Universität — nicht mehr gelehrt sehen wollte. Darunter waren auch Thesen von Thomas von Aquino, und das läßt ungefähr erahnen, wie weit es mächtige Administratoren treiben können: Es ging damals nicht und es geht heute nicht um wissenschaftliche Qualitäten, die unauflöslich mit den freien Interessen und Gedanken des Individuums verbunden sind, es geht damals wie heute vielmehr um die Durchsetzung einer Orthodoxie, die ihre Kleingeisterei nicht zur Debatte stellen kann, weil sie diese Debatte argumentativ gar nicht bestehen könnte. Und folglich muß die Orthodoxie auf die blanke Macht ausweichen und die Freiheiten des unorthodox Gedachten selbst zur Kleingeisterei erklären und als »fake news« und »hate speech« aus der Öffentlichkeit verbannen. Tempier triumphiert über Thomas — das ist das Signum einer Zeit, in der die Administratoren des guten Gewissens und des übergeordneten Seelenheils das freie Denken und Schreiben unterdrücken.
Aber damit ist die Sache natürlich nicht am Ende. In einem zweiten Schritt geht sie weiter mit dem säubernden Zugriff auf die materialisierten Traditionsbestände. Sie sollen jetzt nicht mehr die überlieferte Substanz sein, von der die Gegenwart zehrt, vielmehr wollen die orthodoxen Zeitgeist-Surfer nicht nur einen direkten Zugriff auf die Traditionsbestände, sondern diese auch so verflüssigen, daß sie jederzeit verändert und neu zusammengestellt werden können — nach Maßgabe der fluktuierenden Interessen der Orthodoxie. Das geht dank der in immer größeren Mengen ins Digitale überführten wissenschaftlichen Publikationen ganz einfach, denn nun können Verlage und Universitäten (und in deren Auftrag die Bibliotheken) dank smarter Algorithmen dafür sorgen, daß von dem vielen Publizierten nur das die Öffentlichkeit erreicht, was man für genehm hält, aus welchen ökonomischen, politischen, ästhetischen oder religiösen Gründen auch immer. Alles andere läßt sich blockieren und im Extremfall natürlich auch löschen — lokal, regional, global. Auch hier hätte Etienne Tempier seine helle Freude: Noch nie war es so einfach, an den Schalthebeln der Macht zu sitzen, denn das Digitale zeigt sich je länger je mehr als das instrumentum regni der Orthodoxie.
[Gotthold Ephraim Lessing. Quelle: Anna Rosina de Gasc / Public domain, über Wikimedia.]
Bislang waren solche Eingriffe in die Traditionsbestände in einem überschaubaren Rahmen geblieben, in dem etwa über Rechte an der Verbreitung von bestimmten Büchern oder über ökonomische Verwertungsprozesse zu debattieren war. Aber hinter dieser Debatte wurde doch schon sichtbar, daß der juristische und ökonomische Zugriff auf eine digital verflüssigte Tradition jederzeit in einen politischen Zugriff umschlagen kann, dem es um Lenkung und Manipulation des Zeitgeistes geht und um seine Anpassung an die Orthodoxie und ihre Interessen.
Und damit sind wir beim dritten Schritt dieser digitalen Unheilsgeschichte angekommen. Er wurde, wie Heiner Roetz, Emeritus für Geschichte und Philosophie Chinas an der Ruhr-Universität Bochum, in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 8. Juli 2020 publik gemacht hat, von der auf »Open-Access« setzenden DEAL-Gruppe vollzogen, als sie im Januar 2020 mit dem Verlag Springer Nature einen »DEAL-Vertrag« unterzeichnete, der es deutschen Forschern ermöglicht, in den rund 2500 Zeitschriften des Verlages zu »Open-Access«-Konditionen zu veröffentlichen und auf das gesamte (oder fast das gesamte) Portfolio des Verlages recherchierend und downloadend zuzugreifen. Das sei, wie Martin Stratmann, Präsident der Max-Planck-Gesellschaft in einer Pressekonferenz der Hochschulrektorenkonferenz am 9. Januar 2020 zu Protokoll gab, »ganz im Sinne und zum Nutzen des wissenschaftlichen Fortschritts«, weshalb die Max-Planck-Gesellschaft sich »geehrt« fühle, die »Transformationsvereinbarung« übernehmen zu können. Man darf daraus schließen, daß es, wenn es um die Umsetzung von »Open Access« auf möglichst breiter Front geht, bei den Verantwortlichen kein Zögern und Zaudern gibt: Wo der »Fortschritt« lockt, will man partout dabei sein.
Für soviel Fortschritt mußte man freilich das moralisch und politisch Kleingedruckte übersehen, das Springer Nature längst unter Verträge hatte schreiben lassen (müssen), die mit der Volksrepublik China unterzeichnet worden waren. Um nämlich einen Zugang zum chinesischen Wissenschaftspublikationsmarkt zu erhalten, hatte sich Springer Nature bereiterklärt — und das eben machte Heiner Roetz nun publik —, mindestens tausend wissenschaftliche Artikel für die chinesischen Wissenschaftler zu blockieren — und also, wie Roetz schrieb, »das Kuschen vor der Zensur zum Geschäftsmodell« erhoben. Und er folgert: »Es zeigt sich […], wie dehnbar das Verständnis der gern hochgehaltenen akademischen Freiheit bei den Repräsentanten der deutschen Wissenschaft offenbar geworden ist.«
[Donoso Cortés. Quelle: Federico de Madrazo y Kuntz / Public domain, über Wikimedia.]
Es wäre ein Fehler, das Problem, das sich hier zeigt, als ein nur Springer Nature betreffendes zu betrachten und sich etwa als Allianzorganisation moralisch damit zu exkulpieren, daß man diese Praxis selbstverständlich verurteile. Denn das Problem liegt tiefer und ist ein strukturelles: Wer die Herrschaft über die Daten hat und die Herrschaft über die algorithmisch gesteuerten Datenflüsse, der bestimmt, welche Daten wo und wann und von wem genutzt werden können, auch in der Wissenschaft. Im ersten Schritt heißt das, in die Produktionsprozesse lenkend einzugreifen, im zweiten Schritt säubert man die Traditionsbestände, und im dritten Schritt blockiert man die Kommunikationsprozesse — und das geht auf jeder Ebene, lokal, regional, international. Jeder dieser Schritte ist ein Schritt in die Unfreiheit, jeder dieser Schritte ist ein Schritt, der den öffentlichen Gebrauch der Vernunft sabotiert und damit hinter die Aufklärung zurückfällt, um die Wissenschaft unter die Oberaufsicht von Vormündern zu stellen, heißen diese nun Politbüro oder Wissenschaftsministerium oder Allianz der deutschen Wissenschaftsorganisationen.
Denn machen wir uns nichts vor: Was der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft als »Fortschritt« lobt, ist in Wahrheit nichts anderes als die technische Förderung von Bequemlichkeiten, die aber, anders als viele meinen, nicht auf der Linie der Freiheit liegen, sondern als Fluchtpunkt die Feigheit haben. Lesen wir daher einen alten Text an dieser Stelle noch einmal:
Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen (naturaliter maiorennes), dennoch gerne zeitlebens unmündig bleiben; und warum es anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein. (Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?)