Soziale Virologie V

Wer den Maßnahmen-Staat kritisierte, bevor die Pandemie begann — und seinen Überzeugungen gemäß zum Maßnahmenkritiker wurde

Geschrieben von Jürgen Schmid am 29.5.2023

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Byung-Chul Han

Müdigkeitsgesellschaft (2010). Oder: Internierung im Home Office

Wer sich etwas Gutes tun will (erkenntnistechnisch — der Befund ist deprimierend), nehme sich eine Stunde Zeit für den Film Müdigkeitsgesellschaft von und mit Byung-Chul Han, nach seinem gleichnamigen Buch.1

Han ist wohl der Denker, der Neoliberalismus (Selbstoptimierung, Selbstausbeutung) und Digitalisierung (Selbstkontrolle, Selbsteinsperrung) kongenial zusammendenkt: »Man optimiert sich zu Tode.«2 Er entschlüsselt, wohin diese Ideologien führen: in den Burnout einer »Müdig­keitsgesellschaft« und in den Freiheitsselbst­entzug der »Trans­parenzgesellschaft«, wo sich »Freiheit als Kontrolle erweist«.3 Selbstredend konnte Han mit diesem seinem ureigenen Instrumentarium auch den Corona-Menschen im Corona-Maßnahmen-Staat durchschauen. Der geneigte Leser kann sich mit seiner Palliativgesellschaft4 als Leitfaden sämtliche Mechanismen erklären, die er während der sogenannten Pandemie erlebt und erlitten hat.

Vielleicht steht Hans Denken sogar noch eine Stufe über jenem von Giorgio Agamben (das wir in der letzten Folge vorgestellt haben), möglicherweise ist es noch etwas weitwinkliger angelegt und tiefenpsychologischer schürfend. In Hans Den­ken, in seiner Diagnose unserer Zeit, dürfte die komplette Erkenntnis liegen, wie es zu den »Maßnahmen« und ihrer Akzeptanz in weiten Teilen der Bevöl­kerung kommen konnte; welche Vorkonditionierungen nötig waren, um die Menschen in der »Pandemie« so handeln zu lassen, wie sie gehandelt haben; wie eine Gesell­schaft beschaffen sein musste, um auf einen Betrug dieser Dimension hereinzufallen, um sich komplett dem Wahnsinn anheimzugeben und in einer furchtbaren Massenpsychose zu enden.

Im Film gibt es zwei gespenstische Szenen. Man sieht zunächst (ab Minute 21:30) ein einjähriges Kind, dessen Blick nur auf sein Smartphone konzentriert ist, nichts davon wahrnimmt, was um es herum geschieht, die Hand der Mutter, die ihm das Gerät nehmen will, mehrfach unwirsch wegschlägt, ohne aufzuschauen — derweil Han aus dem Off eine U-Bahn-Fahrt kommentiert: »Die Menschen haben ein fast zwang­haftes, obsessives Verhältnis zu ihrem Smartphone. Sie lassen es in keinem Augen­blick aus der Hand. Niemand blickt den anderen an. Ich hatte sogar das Gefühl, dass der Blick selbst verloren geht. In dieser Zwanghaftigkeit erscheinen sie mir wie Zombies, die ihre Seele dem Apparat verkauft haben. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Smartphone inzwischen ein neues Körperorgan geworden ist – und zwar das wichtigste. Und sie wirken wie mit ihm verwachsen.« Bei Minute 37:40 ist aus dem Kind ein Erwachsener geworden, der — mit dem Rücken zum Betrachter — vor einer Wandtapete mit lichtdurchflutetem Wald steht, total in seinem Smartphone gefangen, seine Umgebung nicht wahrnehmend. (Ebensolche Szenen habe ich fast zur gleichen Zeit auf dem Münchner Oktoberfest fotografiert — der Film stammt aus dem Jahr 2015, meine Dokumentation, die diesen Beitrag illustriert, von 2013).

Oktoberfest 1[Oktoberfest 2013. Bild von Jürgen Schmid.]

Als »negatives Pendant« zu Wir nennen es Arbeit5 von Sascha Lobo und Holm Friebe bezeichnete Max Kühlem in der Berliner Zeitung Byung-Chul Hans »Müdigkeitsgesell­schaft«. Möge jeder Leser selbst entscheiden, welche Welterfassung die Wirklichkeit treffender abbildet: Hans Pessimismus (Realismus?), der »in den neuen Formen der Arbeit im spätkapitalistischen System, die Antreiber wie Chefs oder Vorgesetzte vom Außen ins Innen verlagert haben, ein zerstörerisches Prinzip wirken [sieht], das Ängste, Depressionen, Burn-Out, narzisstische oder Borderline-Persönlichkeiten befördere« — Han: »Das heutige Leistungssubjekt kennt nur zwei Zustände: Funktio­nieren oder Versagen. Darin ähnelt es Maschinen.« Oder der Optimismus Marke Lobo, welcher »ein Hohelied auf die digi­tale Boheme anstimmt, die sich jenseits von Festanstellungen neue, selbstbestimmte Arbeitsräume und -verhältnisse schafft«.

Die neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftsform, so Han, definiere sich über nichts anderes als Wachstumszahlen — »die Wirtschaft« als Gesamtheit, aber auch jeder Ein­zelne, wenn er als Selbstoptimierer und »Unternehmerisches Selbst« (Ulrich Bröckling) ständig die Biodaten seines Körpers überprüft — etwa mit Fitness-Apps. »Die Hysterie der Gesundheit ist die biopolitische Erscheinung des Kapitals selbst«, schrieb Han 2019 in prophetischer Hellsichtigkeit (ähnlich wie Juli Zeh mit ihrem Roman Corpus Delicti) für das, was ein Jahr später in der sogenannten Corona-Krise unübersehbar werden sollte — wie wenn der Philosoph tatsächlich »ge­sehen« hätte, was folgen sollte: »Die Hysterie des Überlebens entstellt das Leben.«6

Nur eine Müdigkeits- und Transparenzgesellschaft, wie Han sie beschreibt, vor allem in seiner Bartleby-Interpretation,7 wo krankmachende »Bullshit-Jobs« (David Graeber) seziert werden — was Walter E. Richartz in seinem zu Unrecht vergessenen Büro­roman für die 1970er Jahre schon vorweggenommen hatte —, war überhaupt fähig, in den Lockdown zu gehen. Eine Gemeinschaft von Bauern hätte sich nicht stillstellen lassen. Bauern, die ihre Felder nicht bestellen, sind dem Hungertod ausge­liefert. Ins »Homeoffice« verlagern lassen sich nur »Bullshit-Jobs«, die so sinn- und nutzlos, so unproduktiv sind, daß man sie ersatzlos streichen könnte. Aber wie sollte ein Staat eine freigesetzte Arbeitslosengesellschaft kontrollieren können?8

Bei Han überzeugt sein vertieftes Verständnis für die Implantate, welche der Neoliberalismus dem Menschen einpflanzt, um ihn zum Homo Oeconomicus zu degradieren. Zugleich denkt Han die neoliberalen Verformungsprozesse nicht ohne deren böse Brüder, die den Laboren des Digitalismus entspringen und sich in ge­radezu satanischer Absicht mit dem Neoliberalismus vermählen, um den Menschen, der ihnen ausgesetzt ist, von einer zweiten Front her anzugreifen und ebenfalls nicht zu dessen Glück zu verformen, auch wenn allzu viele das gerne glauben wollen. Diesen Zynismus arbeitet Han plastisch heraus: wie der verformte Mensch davon überzeugt wird (und schlimmstenfalls ist), daß seine Verformung aus freiem Willen und nur zu seinem Besten geschehe, daß sie höchst erstrebenswert sei.

Nachdem »Kapitalismus« längst zur ungreifbaren, ja geradezu beliebigen Hohlformel geworden war, muß man Han dankbar sein, den Begriff wieder mit konkretem Leben gefüllt zu haben. Neoliberalismuskritiker wie Noam Chomsky sind mit ihrer Vorstellung eines ausgebeuteten Industrieproletariats im 19. Jahrhundert hängen geblieben, Hans Blick ist dagegen aktuell: Während es der Unternehmerausbeuter seinen Arbeitern anheim gestellt hat, was sie außerhalb ihrer Arbeitszeiten tun und denken, so ist dies einem neoliberalen Regime nicht nur nicht gleichgültig, sondern sein Erfolg setzt eine Verlagerung des Kapitalismus in das auszubeutende Individuum selbst voraus. Der Neoliberalismus ist insofern totalitär, weil er den gesamten Menschen in allen Alltagsschattierungen inklusive der Gedanken erfaßt und umprogrammiert. Nur ein so programmierter Mensch, das lehrt uns Han, konnte zum Opfer eines Corona-Regimes werden, das ihm suggerierte, alles, was gegen ihn und seine Interessen ins Werk gesetzt wird, geschehe nach seinem freien Willen; nur mit einer solchen Vorprogrammierung kann jetzt dem Bürger eingeredet werden, »Verbot und Verzicht« (Suhrkamp) im Namen der klimatischen Weltrettung, die Deutschland im Alleingang bewältigt, sei von ihm gewollt.

Oktoberfest 2[Oktoberfest 2013. Bild von Jürgen Schmid.]

Für Han ist die neoliberale Welt eine »Zwangsgesellschaft«, in der sich das »Leistungs­subjekt« selbst ausbeutet — und sich dabei in der fatalen Illusion von Freiheit wiegt, obwohl (eher: weil) »jeder sein Arbeitslager mit sich führt«,9 ohne sich dessen bewußt zu sein. Eine Schlüsselszene im Film Müdigkeitsgesellschaft: als der Philosoph und ein Seouler Filmemacher das transportable Arbeitslager in und am neoliberalen Menschen konkret mit dem Smartphone identifizieren (ab Minute 42:11), das als eine Art externes Körperorgan, wie eine Handtasche über die Schulter gehängt, die Funktion eines Atemgeräts übernimmt; dessen Pulsschläge über (Nabel)Schnüre ins Ohr gesendet werden. Das Smartphone ist genuin eine (Selbst)Kontrolltechnik — diese verdrängte Wirklichkeit stellt Han klar ins Licht.

In Zeiten der Pandemie heißt das Lager euphemistisch »Homeoffice«,10 worin sich der Insasse — wie er es als Mitglied der »Transparenzgesellschaft« schon lange interna­lisiert hat – »freiwillig dem panoptischen Blick aus[liefert]«.11 Wer per Armband seine Daten darüber, was er ißt, ob und wie er sich bewegt, an die Krankenkasse überträgt, wer per Navigationsgerät sein Fahrverhalten an die KfZ-Versicherung meldet — alles nur, um im Bestfall ein paar Prozent weniger Gebühr einzahlen zu müssen —, so ein Vorimprägnierter (und nur der) wird kein Problem damit haben, sich per Corona-Warn-App dauerüberwachen zu lassen und sich dabei noch dem Glauben hingeben zu können, die Selbstinternierung in ein Kontrollager, das er in seinem Smartphone mit sich führt, geschähe freiwillig und nur zu seinem besten.

In der Palliativgesellschaft, seiner Analyse der Corona-Hysterie und ihrer Vorge­schichte als Grundbedingung ihrer Möglichkeit, erkennt Han etwas Bezeichnendes: »Heute herrscht überall eine Algophobie, eine generalisierte Angst vor Schmerzen. Auch die Schmerztoleranz sinkt rapide. Die Algophobie hat eine Daueranästhesie­rung zur Folge.«12 Nur in einer schmerzflüchtenden, hygienisierten, vakuumsedierten, man könnte auch sagen: maximal hypochondrischen Gesellschaft konnte es zur Massenpsychose wegen einer Atemwegserkrankung überhaupt kommen.

Die Kritiken an Han sind nicht mehr als das, was Kritiker dem Philosophen vorwerfen — Luftnummern. »Denken im luftleeren Raum« attestiert etwa der Philosoph Thomas Macho seinem Kollegen. Das ist großartig, wenn es vom geistig total anäroben Deutschlandfunk kommt, der intellektuell so tief gesunken ist wie kaum eine andere Anstalt hierzulande. Vielleicht sollte Macho seine Auflagenzahlen mit denen Hans vergleichen, dem »weltweit meist gelesenen deutschen Zeitkritiker«, dann würde klar, warum er selbst »schlecht gelaunte Diagnosen« über einen großen Denker stellen muß: Weil da jemand den Erfolg neidet. Daß Macho, den man nur kennt, weil er jahrelang der von Sloterdijk meistzitierte Autor war, als Experte im Deutschlandfunk amtieren muß, spricht ja Bände. Selbstredend hat der Kritiker in der Sache nichts zu bieten, also bleibt es bei substanzlosen Invektiven.

Den Kern des kritisierten Büchleins Palliativgesellschaft bildet das nur sechsseitige Kapitel »Überleben«.13 Welche der wie in Stein gemeißelten Erkenntnisse will und kann Macho (oder wer auch immer) denn begründet widerlegen?

»Das Virus ist der Spiegel unserer Gesellschaft. Es offenbart, in welcher Gesellschaft wir leben. Heute wird das Überleben verabsolutiert, als befänden wir uns in einem permanenten Kriegszustand. Alle Kräfte des Lebens werden darauf verwendet, das Leben zu verlängern. […] Angesichts der Pandemie erfährt der erbitterte Kampf ums Überleben eine virale Zuspitzung. Das Virus dringt in die palliative Wohlfühlzone ein und verwandelt sie in eine Quarantäne, in der das Leben ganz zum Überleben er­starrt. Je mehr das Leben ein Überleben ist, desto mehr Angst hat man vor dem Tod.«

»Die Gesellschaft des Überlebens verliert ganz den Sinn für das gute Leben. Auch der Genuss wird für die zum Selbstzweck erhobene Gesundheit geopfert. […] Die Ver­längerung des Lebens um jeden Preis avanciert global zum höchsten Wert, der alle anderen Werte hintanstellt. Für das Überleben opfern wir bereitwillig alles, was das Leben lebenswert macht. Angesichts der Pandemie wird auch die radikale Einschrän­kung von Grundrechten fraglos hingenommen.« (Wie ein anderer Denker versuchte, diese Überlebensvergottung um jeden Preis, auch unter Aufgabe aller Grundrechte, als moralisch geboten zu begründen, zeigte der Fall Habermas in der dritten Folge unserer Sozialen Virologie.)

»Widerstandslos fügen wir uns dem Ausnahmezustand, der das Leben auf das nackte Leben reduziert. Unter viralem Ausnahmezustand sperren wir uns freiwillig in der Quarantäne ein. Die Quarantäne ist eine virale Variante des Lagers, in dem das nackte Leben herrscht. Das neoliberale Arbeitslager in Zeiten der Pandemie heißt ›Homeoffice‹. Nur die Ideologie der Gesundheit und die paradoxe Freiheit der Selbstausbeutung unterscheiden es vom Arbeitslager des despotischen Regimes.«

»Verstiegene Diagnosen« sind diese Erkenntnisse in den Augen von Max Kühlem. Begründen will (oder kann) der Redakteur der Berliner Zeitung seine Kritik nicht. Wie sollte er auch?

Lagermetapher und Terminus »nacktes Leben« übernimmt Han von Giorgio Agamben, aber er denkt als Neoliberalismuskritiker weiter — und operiert damit noch radikaler — sprich: näher an der Wurzel des Übels — als Agamben, weswegen es umso mehr verwundert, daß er im Gegensatz zu jenem nicht aus dem Mainstream gefallen ist.

»Die Hysterie des Überlebens macht das Leben radikal vergänglich. Das Leben wird auf einen biologischen Prozess reduziert, den es zu optimieren gilt. Es verliert jede meta-physische Dimension. Self-Tracking avanciert zum Kult. Die digitale Hypochon­drie, die permanente Selbstvermessung mit Gesundheits- und Fitness-Apps [eine davon mißt die »Schlafleistung«!] degradiert das Leben zu einer Funktion. Das Leben wird jedes sinnstiftenden Narrativs entkleidet. Es ist nicht mehr das Erzählbare, sondern das Messbare und Zählbare. Das Leben wird nackt, ja obszön.«

Mag die lakonische Kürze in allem, was Han schreibt — die minimalen Sätze, die sehr schmalen, federleichten Büchlein — in seiner koreanischen Mentalität gründen? Neulich trug der Verfasser fünf Sloterdijks zurück in die Bibliothek, keiner unter 800 Seiten, Ziegelsteine, fast den Rucksack sprengend. Dafür brachte er vier Hans nach Hause, winzig, keines mehr als 50–70 Seiten, kaum Gewicht verratend. Was für ein Unterschied, dabei waren die Autoren jahrelang Kollegen an der Karlsruher Kunst­hochschule, als Professoren für Philosophie. Im buddhistischen Kulturkreis sozialisiert zu sein geht wohl doch tiefer, als einmal im Ashram vorbeigeschaut zu haben. Han, in Seoul gebürtig, als Student nach Deutschland gekommen, schreibt sehr viel deutscher als der Muttersprachler Sloterdijk, dem seine Fremdwörterexzesse manchmal über alles (auch über den Inhalt) zu gehen drohen. Han studierte übrigens Philosophie, Germa­nistik und Katholische Theologie in Freiburg. Er ist Heideggerianer.

Oktoberfest 3[Oktoberfest 2013. Bild von Jürgen Schmid.]

Man möchte zu Byung-Chul Han ergänzen: »Amüsiergesellschaft« — wir amüsieren uns zu Tode, in einem Eskapismus ohnegleichen. Und ein weiteres zeigen die Bilder — in Hans Film und unserer Wiesn-Dokumentation: die perfekt vernetzte »Einsamkeits­gesellschaft«: Gemein­sam digital im Analogen — was man früher altmodisch »Leben« nannte — einsam. Und gemeinsam einsam sollte der vorbildliche Staatsbürger in der Pandemie sein: »Wir halten zusammen« hieß die dümmlich-verlogene Parole auf allen Kanälen und an jeder Ecke — zusammen jeder für sich alleine. Q.e.d.

Karlheinz Weißmann und Götz Kubitschek

Zwei Rechtsintellektuelle — kein Gleichtakt

Unter den Rechtsintellektuellen gab es den Typus Law and Order, der sich im Winter 2021/22 ganz dem staatlichen Narrativ von der Gefährlichkeit des Virus unterwarf, sich vor steigenden Inzidenzen fürchtete und die Lüge von kollabierenden Intensiv­stationen wie besinnungslos nachsagte, Karlheinz Weißmann etwa, der — nicht zufäl­lig in der Jungen Freiheit — für die Impfpflicht plädierte (»Gemeinwohl hat Vorrang«), weil der Staat »Daseinsfürsorge« im Sinne der »Volksgesundheit« betreiben müsse.

Und es gab den gegenläufigen Typus, der auch im Corona-Chaos durchgängig ohne Weißmann’sche Panikan- und Stromausfälle ganz bei sich blieb, so unaufgeregt wie möglich in der Lage urteilte, wie sie sich faktenbasiert darstellte an Hand dessen, »Was wir wissen können« (Erik Lehnert) — folgerichtig zuerst beobachtete und abwägte, ab dem Zeitpunkt aber, wo belastbare Anhaltspunkte vorlagen, einen klaren und unbe­irrten maßnahmenkritischen Kurs vertrat und von »mindestens fragwürdigen, sicherlich sinnlosen, eher gefährlichen Impfungen« sprach, als Stimme der Vernunft ein Fels in der Brandung — personifiziert im Verleger Götz Kubitschek. Er gehörte zu den ganz wenigen öffentlichen Intellektuellen im Land, die sich nicht mit Schnellschüssen zu Wort meldeten, sondern insofern die Unübersichtlichkeit der Lage anerkannten, daß sie erst dann Einschätzungen vornahmen, als dies seriös möglich war.

»Corona« und der Maßnahmenstaat konfrontierten eine konservative Denkrichtung mit einem Problem: Weißmann und Kubitschek, die sich beide auf die Anthropologie von Arnold Gehlen stützen, wonach der Mensch als Mängelwesen zum Ausgleich fehlen­der Instinkte starker Institutionen bedürfe (von der Familie bis eben zum Staat), sind sich einig darin, den Staat als stabilisierende und den Menschen entlastende Institution anzuerkennen — aber dem Corona-Staat in seiner spezifischen Ausprägung will eben nur Weißmann die Rolle einer vertrauenswürdigen Institution zubilligen, die im Sinne von »Gemeinwohl« und »Volksgesundheit« handelt, während Kubitschek »in der Lage« urteilend dieser Realform von Staat eben nicht vertrauen kann, was ihn in das Dilemma stürzt, sich fallbezogen gegen Gehlens Anthropologie stellen zu müssen.

Auf einem eigenen Blatt stünde die Erkenntnis, wie auffällig unreflektiert in der Corona-Krise rechte Denkmuster und deren sprachliche Äquivalente im nicht-rechten (eher: anti-rechten) Mainstream-Diskurs übernommen wurden, wo es mit der Impfung plötzlich wieder »patriotische Akte« gab, so daß Weißmanns Begründung für die Not­wendigkeit einer Impfpflicht mit ihrem Rekurs auf ein verbanntes Wort wie »Volksge­sundheit« wortgleich von Coronisten aller Couleur vorgetragen wurde — bis weit hinein ins »progressive« Lager von SPD, Grünen und sogar der Linkspartei, deren Spaltung in der Corona-Frage mit ihrer Halbierung bei der Bundestagswahl 2021 ebenso ein eigenes Thema wäre wie die wundersame Verwandlung der Antifa zur Hilfstruppe der Staatsgewalt, wenn Antifanten gewandet in schwarze T-Shirts mit Agitprop-Message (»Pandemie und trotzdem da / Durchgeimpfte Antifa«) »die Maskenpflicht in der Berliner S-Bahn durch[setzten]« und »Corona-Proteste Seite an Seite mit der Staatsmacht« blockierten und denunzierten.

Typologie intellektueller Corona-Bewältigung — oder dessen, was von der Intellektualität übrig blieb

Die in Folge II bis IV der Sozialen Virologie aufgeworfene Frage, wie sich Wider­stands-Vordenker verhielten, als real wurde, vor was sie lange vor Corona theoretisch warnten, soll abschließend als zur Diskussion offene Skizze mit Antworten versehen werden. An der getroffenen Auswahl (repräsentativ?) kristallisiert sich eine Typologie sehr unter­schiedlicher Haltungen von Intellektuellen zum Maßnahmen-Staat heraus:

Zwingende Dissidenten, die den Teufelspakt eingingen (Noam Chomsky) oder sich posthum gefallen lassen mußten, daß ihre Epigonen ihre Intention in manipu­lativer Falschlesung mißbrauchen und ins affirmative Gegenteil verkehren (Michel Foucault). Dieser Typus hätte es besser wissen müssen; alles andere als Wider­spruch war glatte Selbstverleugnung, eine kaum vorstellbare Ignoranz gegenüber dem eigenen intellektuellen Koordinatensystem, ein Handeln gegen hart errungene Standpunkte eines Lebenswerks. Warum das geschah? Das wäre ein Desiderat für eine psychopolitische Studie über Intelligenz in der Post­moderne und ihre unerwar­tete Verführbarkeit.

Ob der Theoretiker des »zwanglosen Zwangs des besseren Arguments«, Jürgen Habermas, auch zu diesem Typus gehört, erscheint letztlich nicht klar. Eindeutig ist zwar, daß sich »Sankt Jürgen« nicht nur bedingungs­los auf die Seite der Angstge­steuerten schlug, sondern dem autoritativen Staat sogar ausdrücklich seinen Segen spendete — aber hatte er einen Standpunkt, den er ins Gegenteil verkehren konnte?

Zwingende Dissidenten, die ihrem Lebenswerk getreu opponierten und allen Anfeindungen zum Trotz standhaft blieben (Giorgio Agamben, Byung-Chul Han) — zwei der ganz wenigen Intellektuellen von Weltformat, die diesem Typus zuzurechnen sind. (Der Autor bittet ggf. um Ergänzung.) Mit Abstrichen gehört Juli Zeh hierher, die aber nie soweit ging wie Agamben, aus der Mainstream-Gunst zu fallen.

In einer Kirche, die in der Corona-Krise ihrem Auftrag gemäß hätte opponieren müssen, aber so katastrophal versagte, daß sie ihre Pforten, die sie im ersten Lockdown schloß, gar nicht mehr hätte öffnen brauchen, leuchtet als heldenhafte Ausnahme ein Pfarrer wie Hanns-Martin Hager heraus, der sehr früh biblisch fragte: »Was hätte Jesus getan?« und dessen Antwort: Jedenfalls nicht das, was die Amtskirche zu tun richtig fand, nämlich die Türe zu versperren und alle staatlichen Maßnahmen segnen, ihn letztlich das Amt kostete. Unter zwingenden Dissidenten, als die man sämtliche Kirchenvertreter ansehen muß, war Pfarrer Hager lange Zeit mit seinem Rubikon-Artikel vom 18. Mai 2020 — »Bewährungsprobe für Christen: Jesus Christus war ein Meister des zivilen Ungehorsams« — tatsächlich der eine, der es wagte, offen und öffentlich zu widersprechen.

Während der evangelische Pfarrer Hanns-Martin Hager einen »Verrat« der Corona-Kirche »an der Botschaft Jesu« feststellt, sagt sein katholischer Amtsbruder James Mawdsley: »For believers it’s a betrayal for the mission of the church«. Wäre die Kirche ihrem Auftrag treu geblieben, so der Brite, hätte sie ihren »supernatural view« bewahrt, dann wäre es unmöglich gewesen, »to lock the world down«. Wer sich von der Angst regieren lasse, werde alles verlieren.

Hager resümierte im September 2020 — erneut im Rubikon — »das Versagen der Kirche« und kam zu einem naheliegenden Schluß: »De facto hat für die Zeit des ›Lockdowns‹ im Frühjahr 2020 die protestantische Kirche gemäß ihrer nach wie vor gültigen Bekenntnisschrift aus dem Jahr 1530, der Confessio Augustana — alle Geistlichen werden in ihrer Ordination auf dieses histo­rische Dokument verpflichtet –, aufgehört zu existieren. Dort heißt es in Artikel 7 zu der Frage, was Kirche ist: ›Es wird auch gelehrt, daß allezeit eine heilige, christliche Kirche sein und bleiben muß, die die Versammlung aller Gläubigen ist, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden.‹ Diese beiden essentiellen Kennzeichen von Kirche — ›Live‹-Versammlung der Gläubigen sowie leibhafter Empfang der Sakramente — waren im Frühjahr 2020 nicht mehr gegeben. Das konnten auch virtuelle Gottesdienste in digitaler Form nicht ersetzen.« Ja, die Kirche hat an Ostern 2020 erstmals nach 2000 Jahren aufgehört zu existieren. Ein ungeheuerlicher Kulturbruch, hinter den zurückzugehen schwierig bis unmöglich sein wird. Kann man ein Kontinuum einfach mal kurz abschalten, wie man das elektrische Licht aus- und wieder anknipst?

Begegnung auf Distanz[»Begegnung ›auf Distanz‹« mit Bischof (zweiter von links) in einem Augsburger Kloster, Weihnachten 2020.]

Pfarrer Hanns-Martin Hager findet Unterstützung im Philosophen Byung-Chul Han:14

»Angesichts der Pandemie verbietet die Gesellschaft des Überlebens selbst an Ostern Gottesdienste. [Am Ostersonntag 2020, als Jesus in Deutschlands Kirchen nicht auferstehen darf, verkündete Bill Gates als neuer Heiland in den ARD-Tages­themen die Impferlösung — eine Predigt von zehn Minuten.] Auch Priester üben sich in ›Social Distancing‹ und tragen Schutzmasken. [Und schrieben dies ihren Gemeinde­mitgliedern als verpflichtend vor: Aus Seelsorgern wurden Gesundheitsfunktionäre.] Sie opfern den Glauben gänzlich dem Überleben. Paradoxerweise äußert sich die Nächstenliebe als Abstandhalten. [Espositos Widerspruch »vereint durch gemeinsame Distanz«.] Der Nächste ist ein potentieller Virusträger. [Agambens »Bürgerkrieg«.] Die Virologie entmachtet die Theologie. [In evangelischen Pfarrhäusern verdrängten Impf­werbeplakate das Kreuz.] Alle lauschen den Virologen, die eine absolute Deutungs­hoheit erlangen. Das Narrativ der Wiederauferstehung weicht komplett der Ideologie der Gesundheit und des Überlebens. Angesichts des Virus verkommt der Glaube zur Farce. Er wird durch Intensivstation und Beatmungsgeräte ersetzt. [Wer erinnert sich nicht an die Flutung der Medien mit Bildern aus Intensivstationen, die monatelang alle anderen Bilder vollkommen verdrängt hatten?] Täglich werden die Toten gezählt. Der Tod beherrscht gänzlich das Leben. Er entleert es zum Überleben.« Wo waren die christlichen Kirchen, die von der Kernbotschaft des Jesus von Nazareth hätten erzählen müssen: das Leben währt 80 oder 90 Jahre — plus die Ewigkeit?

Schließlich sei vermerkt, daß auch die Psychologie, eine ebenso geborene Opposi­tionseinheit wie die Kirche, wenige, aber glaubhafte Dissidenten hervorbrachte: Auf die psychischen Zeitbomben, die in auf Hysterie konditionierten Kindern heran­gezüchtet wurden, hat der Münchner Psychoanalytiker und Trauma­spezialist Franz Ruppert bereits im Frühjahr 2020 nachdrücklich hingewiesen: In Panikpolitik und Lockdown würden Traumata angelegt, von denen viele erst nach Jahren zum Aus­bruch kommen werden. Eine These, damals vehement bekämpft, die sich längst bewahrheitet hat in Statistiken über signifikant gestiegene psychische Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen, die mit den Corona-Maßnahmen in Zusammenhang stehen. Wie soll es an einem Kind auch spurlos vorübergehen, wenn man ihm dauer­haft einredet, es sei ein Todesengel auf zwei Beinen, der Opa und Oma töten kann? Was für ein ungeheu­eres Verbrechen am Seelenleben eines Menschen.

Im Nirvana des Sowohl als Auch verloren (Roberto Esposito) — jemand, der erkennt, daß er auf Grund seiner denkerischen Koordinaten, die er nicht preisgeben will, dem Maß­nah­men-Staat nicht zustimmen kann; der aber gleichzeitig nicht die Kraft aufbringt, als öffentlich sichtbarer Dissident standhaft zu bleiben, weil er seinen Ausschluß aus dem Mainstream-Diskurs nicht riskieren will; jemand, der aus den genannten Gründen windelweiche Stellungnahmen produziert, die kaum greifbar sind.

Werkgemäß Widerstand antestend, nach Gegenwind einknickend (Peter Sloterdijk). Dieser ambivalente Typus und sein blamables Mit-den-Wölfen-heulen soll im sechsten Teil ausführlich betrachtet werden. Es scheint, dem alternden Denker ist es weniger Graus, sein Geschwätz von gestern über Bord zu werfen, als den Platz an der Sonne als Interviewpartner und Gastautor von Mainstream-Postillen räumen zu müssen. Um im Rampenlicht dieser medialen Bühne bleiben zu dürfen, die er braucht wie der Fisch das Wasser, scheint dieser Typus bereit, jeden Unfug zu erzählen, den man von ihm erwartet. — Ein ähnlich gelagerter Fall ist — ohne daß sie bislang als Denkerin auffällig geworden wäre — die Schauspielerin Ulrike Folkerts, die zuerst #AllesDichtmachen unterstützte, bis man ihr bedeutete, daß nur ein Widerruf sie vor der Exkommunikation retten könne. Daraufhin kroch sie zu Kreuze, was prompt mit einem Entschuldigungsinter­view in der TAZ, das einer öffentlichen Beichte ähnelte, belohnt wurde. Sympathie­punkte haben sich solche opportunistischen Fahnen im Wind wohl auf keiner Seite des Spektrums erworben.

Oktoberfest 4[Oktoberfest 2013. Bild von Jürgen Schmid.]

Oktoberfest 5[Oktoberfest 2013. Bild von Jürgen Schmid.]


Folge VI bringt zum Abschluß der Serie »Soziale Virologie« die Frage auf die Tages­ordnung, wie unsere vernunftgeleiteten Immunsysteme in der Erregungsepidemie derart versagen konnten — am Fallbeispiel einer exponierten öffentlichen Figur und mit einer Vermutung zur Selbstentmündigung der polit-medial gesteuerten Masse.

Anmerkungen

  1. Byung-Chul Han: Müdigkeitsgesellschaft. Berlin: Matthes & Seitz, 2010. 

  2. ders.: Kapitalismus und Todestrieb. Essays und Gespräche. Berlin: Matthes & Seitz, 2019, S. 16. 

  3. ders.: Transparenzgesellschaft. Berlin: Matthes & Seitz 2013, S. 82. 

  4. ders.: Palliativgesellschaft. Schmerz heute. Berlin: Matthes & Seitz, 2020. 

  5. Holm Friebe, Sascha Lobo: Wir nennen es Arbeit. Die digitale Boheme oder Intelligentes Leben jenseits der Festanstellung. München: Heyne, 2006. 

  6. Han: Kapitalismus… (wie Anm. 2), S. 17; S. 24. 

  7. Han: Müdigkeitsgesellschaft (wie Anm. 1), S. 46–53. 

  8. Wie die Areligiosität ihren Ursprung in der aufgegebenen Rück-Bindung zur Erde als Scholle hat, auf und aus der man lebt, eine Areligiosität, die recht eigentlich verstanden im Aussterben des Bauern­standes wurzelt und in die »Freisetzung« des entfremdeten, bindungslosen »Anywhere« in »Bullshit-Jobs« mündete, von welcher Leere aus sie überhaupt erst in die abkommende Rück-Verbindung zum Religiösen diffundieren konnte, im kirchlich-christlichen Sinne, aber auch weiter gefaßt als Abkehr vom Transzendenten und Heiligen, letztlich von Gott — diese Vorgänge darzustellen, ist hier nicht der Ort. Vermerkt werden soll ihre Wirkmächtigkeit aber dennoch. 

  9. Han: Müdigkeitsgesellschaft (wie Anm. 1), S. 35. 

  10. Han: Palliativgesellschaft (wie Anm. 4), S. 24. 

  11. Han: Transparenzgesellschaft (wie Anm. 3), S. 82. 

  12. Han: Palliativgesellschaft (wie Anm. 4), S. 7. 

  13. ebd. S. 23–28. 

  14. ebd. S. 24 f.