Religio, das ist — übersetzt man das lateinische Wort ins Deutsche — Rückbindung. Ihr zunehmender Verlust in postmodernen Gesellschaften ist der Kern aller Probleme.
Als Urknall allen Bindungsverlustes in der Moderne steht das Ende der Landwirtschaft als — für eine große Mehrheit der Bevölkerung — alles beherrschende Lebensform. In krassem Gegensatz zur realen Bedeutung dieses Urknalls steht die untergeordnete mediale und wissenschaftliche Bedeutungszuschreibung, welche diesem gewaltigen Epochen- und Mentalitätsbruch zugemessen wird, der innerhalb einer, maximal zwei Generationen, wie in Windeseile ins Werk gesetzt wurde. Denn es handelt sich nicht um eine organisch ablaufende Veränderung von Erwerbsfeldern, der euphemistisch als »Strukturwandel« bezeichnete Prozeß des »Höfesterbens« wird offensichtlich aus Gründen absichtsvoll betrieben. Daß die Akteure und ihre medialen Claquere, welche diesen Prozeß antreiben und sich von dessen Ergebnis etwas versprechen, kein Interesse an einer ergebnisoffenen Diskussion über Sinn und Unsinn des Prozesses haben, versteht sich. Was sind die (Hinter)Gründe und Interessen derer, die an der Zerstörung einer Landwirtschaft mit menschlichem Maßstab arbeiten und davon profitieren?
Der absichtsvolle Verlust von Religio im Sinne von Rückbindung, unter dem wir im »Wertewesten« leiden wie an kaum etwas anderem, beginnt — und das ist die Grundthese von »Religio« — ganz konkret, ganz greifbar: als Verlust und Entfremdung vom Land, das man bewohnt, bebaut und aus dem man lebt. Und erst dieser Landverlust, der ein Verlust des »Ausgangspunkt unseres Seins« ist, hat — so die These — dazu geführt, daß eine Areligiösität im transzendentalen Sinne des Wortes so vehement um sich greifen konnte, während sich eine seßhafte, verwurzelte, aufs Land angewiesene bäuerliche Bevölkerung eine transzendentale Bindungslosigkeit, das, was landläufig als Areligiosität verstanden wird, gar nicht leisten kann. Geert Mak nennt nicht umsonst seine berührend-erschütternde Erzählung vom »Untergang des Dorfes in Europa«: Wie Gott verschwand aus Jorwerd. Wer aber nicht einmal bereit ist zuzugestehen, daß es einen Verlust von Religio gibt und daß es ohne Religio (in allen Facetten des Wortes) kein gelingendes Leben geben kann, der blockiert sämtliche Überlegungen, wie eine Rückverbindung in postmodernen Zeiten überhaupt aussehen könnte.
Was die Serie »Religio« also zeigen will: Ihren Ursprung hat die Areligiosität in der aufgegebenen Rück-Bindung zur Erde als Scholle, auf und aus der man lebt, in der Aufgabe einer »Heimat«, die noch für unsere Großeltern-Generation natürlich der Hof war, aus dem jemand stammte (»Was ist dem seine Heimat?«), eine Heimat, die man ererbt und weitergibt, mitsamt den Traditionen, die daran haften.1 Will heißen: Heimat ist konkret — und kein Abstraktum. Deswegen kann es Heimat nur im Singular geben – »Heimaten« sind der Versuch, etwas zu implementieren, was es so nicht gibt.
Noch einmal zugespitzt: Areligiosität wurzelt im Aussterben des Bauernstandes und in der »Freisetzung« des entfremdeten, bindungslosen »Anywhere« in »Bullshit-Jobs«, von welcher Leere2 aus sie überhaupt erst in die abkommende Rück-Verbindung zum Religiösen diffundieren konnte; ein Zustand, der einen eigentlich in Tübingen fest verwurzelten Volkskundler wie Hermann Bausinger im Alter von über 90 Jahren zu der unfaßbar zynischen Aussage verleiten konnte, »Heimat« wäre für ihn nichts weiter als eine »Planungskategorie«.
Franz Werfel beschreibt die Welt seiner Kindheit am Ende des 19. Jahrhunderts in Prag so: »Als Sohn des europäischen liberalen Bürgertums wuchs ich auf und wurde erzogen im Geiste der humanitären Autonomie und Fortschrittsgewißheit, im naiven Ammenglauben an Weltverbesserung durch Wissenschaft, in tief skeptischer Abgekehrtheit von metaphysischem, religiösem oder gar mystischem Denken und Fühlen und in der verhängnisvollen Verwechslung von Freiheit mit moralischer Anarchie.« Dabei ist Werfel, dem zum Katholizismus konvertierten Juden, gewiß: »Jeder bedarf der Rück-Verbindung, der religio zu einem großen Ganzen.«3
Verbindungslos ist der moderne Mensch in vielerlei Hinsicht. Mich, Jahrgang 1968, treibt aus biographischen Gründen eine Kombination von Verbindungslosigkeit um, die für einen katholisch sozialisierten bayerischen Landjugendlichen am deutlichsten sichtbar werden dürfte darin, daß es keine Flurumgänge mehr gibt, weil der zur Traktorensteppe degenerierten Flur der Bauer (und damit der Beter) abhanden gekommen ist. In meinem Heimatort mit seinen 3.000 Einwohnern gibt es keinen Bauern mehr, der letzte ist »ausgesiedelt«, er betreibt seinen Stall fast zwei Kilometer außerhalb des Dorfes. Wer Milch kaufen will, hat die Wahl zwischen verschiedenen Discountern. Dem indischen Pfarrer ist die Tradition des Flurumgangs ein Buch mit sieben Siegeln. Die alten Hofstellen: Ruinen, Brachen, Bauträgermonster. Am hellichten Tag wirkt der Ort wie ausgestorben. Das Dorf ohne Bauern hat aufgehört, Dorf zu sein — ohne etwas anderes werden zu können. Übrig blieb ein seelenloses Konglomerat von Asphalt, Bausünden, heruntergezogenen Jalousien. Graue Tristesse mit Durchgangsstraße. Eine Straße — wohin?
Was aber schafft Rückverbindung — auch dieser Frage will sich die Serie »Religio« zuwenden — es ist Franz Werfels Dritter Weg zwischen den nihilistischen Materialismen amerikanischer Kapitalismus und sowjetrussischer Bolschewismus. Ein signifikantes Beispiel für diesen Dritten Weg, der auf Gott fluchtet, für das man das Land der Planungskategorien fast schon verlassen muß: Die ostersonntägliche Messe in den slowenischen Weinbergen — reine Liturgie, eine Wohltat. Unsere Gastgeber, Weinbauern, Vater und Sohn, tragen den Himmel (!) bei einer Prozession über den Marktplatz, bei der zu Halleluja-Rufen des Chors der Auferstandene vorausgetragen wird. Religio im besten Sinne des Wortes — Rückbindung des Glaubens an Dorf und Gemeinschaft, mit einem Sitz im Leben, wie er bei uns kaum mehr anzutreffen ist, aber noch in den 1970er Jahren in Flurumgängen selbstverständlich war.
Als erste Folge also demnächst — ein Blick auf den Bauernstand, im Jahr 500 nach dem »Bauernkrieg«, im Jahr 1 nach ernstzunehmenden Bauernprotesten auf Europas Straßen.
Anmerkungen
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Jürgen Schmid: Menschen und ihre Dinge. 50 Jahre Heimatmuseum Zusmarshausen 1974–2024. Zusmarshausen 2024. ↩
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Für Wolfhart Pannenberg »Sinnleere« in der Säkularisierung; siehe Aufheben VII. ↩
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Franz Werfel: Zwischen Oben und Unten (1946); siehe Aufheben IV. ↩