Es ist noch gar nicht so lange her — im Jahre 2015 war es —, daß man in München an der MPDL (Max Planck Digital Library) die großflächige Transformation hin zu »Open Access« ausgerufen hat. Das sollte mittels einer »Disruption« und also Zerstörung des bisherigen Marktes für wissenschaftliche Fachzeitschriften geschehen, und es sollte für die Bibliotheken »ohne finanzielles Risiko« und »ohne zusätzliche Kosten« geschehen. Also, um die martialische Sprache der Münchener MPDLer zu beleihen, ein Krieg ohne Kollateralschaden, jedenfalls für die kriegführenden Bibliotheken. Die Verlage hingegen, nun ja — auf die, so die herrschende Lehre der »›Open-Access‹-Community«, auf die könnte man ja verlustfrei verzichten. Sie würden nach der »Disruption« im Orkus der Geschichte des Spätkapitalismus verschwunden sein, und die Sonne des Publikationssozialismus könnte endlich aufsteigen, hell am Firmament leuchtend, und sie würde eine friedliche Publikationslandschaft beleuchten, in der staatliche Akteure vom Typ MPDL, KIM, KIZ, IKMZ oder sonst einem Akronym alles viel besser und auch viel billiger als die untergegangenen Verlage machen würden.
[Quelle: Bild von Arek Socha auf Pixabay.]
Das Problem dabei ist nur, daß die Zahlenspiele, die man auf seiten der »Open-Access«-Aktivisten betreiben muß, um die kollateralschadenfreie Disruption plausibel zu machen, das Papier nicht wert sind, auf dem sie gedruckt werden, und auch nicht die Pixel, unter denen sie am Bildschirm sichtbar werden. Während nämlich die Münchener Disrupteure davon ausgingen, daß man durch die großflächige Transformation hin zu »Open Access« um die 3,5 Milliarden Euro und also rund die Hälfte der Publikationskosten von weltweit rund 7,5 Milliarden Euro sparen könne, ist es realistischer, davon auszugehen, daß sich die Publikationskosten weltweit auf 15 Milliarden Euro belaufen und dieser Betrag auch bei einer Umstellung auf »Open Access« vom Steuerzahler aufgebracht werden muß. Ich persönlich würde daher weniger damit rechnen, daß »Open Access« die Verlage disruptiert; ich würde eher damit rechnen, daß es »Open Access« geht wie weiland Rumpelstilzchen: Sobald das Geheimins, daß es die Kosten in die Höhe treibt, entdeckt ist, wird »Open Access« noch einmal trotzig mit dem Fuß aufstampfen und sich dann selbst zerreißen.
Das ist für die Anhänger von »Open Access« natürlich eine mißliche Vorstellung. Vielleicht ist das der Grund, warum man es so eilig hat, die Sache schnell hinter sich zu bringen und ein ums andere Mal proklamiert, daß die finale Transformation zu »Open Access« unmittelbar bevorstehe, nämlich im Jahre des Herrn 2020 stattfinden soll. So hat es jedenfalls der Ministerrat der Europäischen Union festgesetzt, so haben es die Münchener MPDLer verkündet, und so hat es sich der Bielefelder »Nationale Open-Access-Kontaktpunkt« ins Logo geschrieben: »OPEN ACCESS 2020 DE«.
[Quelle: https://oa2020-de.org/.]
Wer sich mit einem solchen Erwartungsdruck über die bunte Verlags- und Wissenschaftswelt beugt, um sie disruptorisch endlich zurechtzubeugen, der kann natürlich nicht gut damit leben, daß seine Berechnungen danebenliegen könnten. Man möchte nicht zu jenen eschatologischen Heilsgruppen gehören, deren Gurus so extakte Angaben über das Datum der Weltenwende zu machen vermochten, daß man sich an besagtem Datum erwartungsvoll auf einem Berg einfand, um das Heil zu begrüßen — um am Abend des Tages und nach dem Ausbleiben der Weltenwende sich seitwärts davonstehlen zu müssen. Naja, nun haben wir schon den November des Jahres 2019, kein digitaler Heilsschimmer ist am Horizont zu sehen, obwohl es doch nur noch sechs Wochen sind, bis der Kalender das Jahr 2020 anzeigen wird und »Open Access« ausbrechen soll. Da wird die Not immer größer, und in der großen Not greift man im »Nationalen Open-Access-Kontaktpunkt« zum Taschenrechner und rechnet schnell nach, ob auch alles so stimmt, wie man es immer verkündet hat (und wie es nur ganz ungläubige Häretiker — der Teufel soll sie holen — bezweifeln). Und siehe da, heraus kommt eine »Transformationsrechnung«, die, so sagt es der auf inetbib veröffentlichte Teaser, belege, »dass die Kostenübernahme auf Basis der projizierten Ausgaben für Publikationen aus nicht-Drittmittel-geförderter Forschung für alle hier betrachteten Einrichtungen ohne Probleme aus den derzeitigen bibliothekarischen Erwerbungsetats für Zeitschriften bestritten werden könnte.«
Das klingt schön. Aber bleibt es auch schön, wenn man sich die Details anschaut? Machen wir das doch einfach mal, machen wir doch einfach mal eine kleine Detailschau. Geht ganz fix:
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Basis der vorgelegten Berechnungen ist das anhand des Web of Science (WoS) ermittelte Publikationsaufkommen von fünf deutschen Universitäten und des Forschungszentrums Jülich. Damit ist die gesamte »Transformationsrechnung« bereits in den Sand gesetzt. Denn das WoS — selbst bei Berücksichtigung des im WoS enthaltenen Social Science Citation Index und des Arts & Humanities Citation Index — enthält mehrheitlich englischsprachige naturwissenschaftliche Veröffentlichungen; ein Großteil der Geisteswissenschaften und zu erheblichen Teilen auch die Sozialwissenschaften fehlen. Und daraus folgt: Auf der Basis des WoS kann keine valide Schätzung des Publikationsaufkommens deutscher Universitäten und Forschungseinrichtungen vorgenommen werden.1
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Auf der Nicht- und Unbasis des WoS und damit einer viel zu gering geschätzten Publikationsmenge kommt die »Transformationsrechnung« zu dem Ergebnis, daß es problemlos möglich sei, diejenigen Publikationen aus den regulären Bibliotheksetats zu finanzieren, die nicht aus Drittmittelprojekten stammen, also sozusagen die drittmittelfreie Normalforschung. Das ist eine Feststellung, die wirklichkeitsabgewandter nicht sein könnte. Denn wie man leicht hätte ermitteln können, werden die Hochschulen in Deutschland längst zur Hälfte über Drittmittel finanziert — siehe die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Fraktion »DIE LINKE«. Und daraus folgt: Da die Drittmittelforschung rund die Hälfte der Forschungsaktivitäten in Deutschland ausmacht, kann aus den regulären Bibliotheksetats bei einer Transformation hin zu »Open Access« höchstens die halbe Forschungspublikationsmenge finanziert werden, eben die Normalforschung.2
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Die »Transformationsrechnung« stellt auf S. 3 fest, daß bei der »Open-Access«-Transformation dann ein Problem auftreten würde, wenn sich die Preise für »Open-Access«-Publikationen auf jener Höhe einpendeln würden, die für hybride »Open-Access«-Publikationen gilt. Das sind, so sagt die »Transformationsrechnung«, Publikationsgebühren, die sich auf 2000 Euro pro Aufsatz einpendeln (S. 80). Wenn das geschehe, sei die Finanzierbarkeit der »Open-Access«-Transformation in Gefahr. Diese Gefahr droht aber nicht erst eines fernen Tages, sondern ist längst eingetreten. Denn erstens zeigt die »Transformationsrechnung« ja sehr deutlich, daß in allen untersuchten Einrichtungen die Veröffentlichungsgebühren jetzt schon deutlich über 2000 Euro pro Artikel liegen (S. 54 ff.). Zweitens ergibt ein Blick auf die Statistiken von OpenAPC, daß dort für hybride »Open-Access«-Publikationen (die die Masse der »Open-Access«-Publikationen bilden), eine durchschnittliche Veröffentlichungsgebühr von 2121 Euro pro Artikel ausgewiesen wird. Und drittens sollte man — auch wenn man sich alle Mühe gibt, die Schätzung der realen und kostendeckenden Publikationsgebühren, vollständig zu ignorieren — wenigstens versuchsweise in Betracht ziehen, daß die bisher bezahlten Publikationsgebühren hochgradig subventionierte Gebühren waren und sind, mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) als Geldonkel im Hintergrund, und daß die Publikationsgebühren erst dann kostendeckend sein werden, wenn sie bei rund 3000 Euro pro Aufsatz liegen werden. Daß die Kosten sich rasch in diese Richtung entwickeln werden, kann man jetzt schon daran ablesen, daß in dem überall als vorbildlich-nachahmenswert empfohlenen Wiley-DEAL-Deal für hybride publizierte »Open-Access«-Artikel ein Preis von 2750 Euro pro Artikel ausgehandelt wurde, plus der von der MPDL erhobene »Servicegebühr« macht das dann 2900 Euro pro Artikel — jetzt schon. Wer die vorgelegte »Transformationsrechnung« ernst nimmt, der darf folglich feststellen: Wenn die Finanzierbarkeit von »Open Access« daran hängt, daß die Publikationsgebühren pro Artikel unter 2000 Euro bleiben, dann können wir heute schon wissen, daß »Open Access« wegen der in hybrider Masse die 2000-Euro-Grenze überschreitenden Publikationsgebühren nicht finanzierbar ist.3
Was sollen wir also sagen? In der realen Wissenschaftswelt, deren Sichtbarkeit offenbar davon abhängt, daß man die »Open-Access«-Brille ablegt, in der realen Wissenschaftswelt dürfte glatt das doppelte von dem publiziert werden, was die »Transformationsrechnung« annimmt. Und in der realen Wissenschaftswelt ist die 2000-Euro-Grenze, jenseits derer »Open Access« nicht mehr zu finanzieren ist, längst überschritten, und jeder weitere DEAL-Deal wird diese Grenzüberschreitung manifestieren und einen weiteren Sargnagel für (in diesem Fall: gegen) »Open Access« liefern.
Ich weiß nicht, ob man Nina Schönfelder, der Autorin der »Transformationsrechnung«, für ihre Arbeit gratulieren soll.
[Bild von Bild von Peter H auf Pixabay.]
Anmerkungen
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Die »Transformationsrechnung« berechnet für die Jahre 2015, 2016 und 2017 das Publikationsaufkommen der Universitäten Siegen, Bielefeld, Gießen, Regensburg und Göttingen und das Publikationsaufkommen des Forschungszentrums Jülich. Die nachfolgende Tabelle stellt dem von der »Transformtionsrechnung« (TR) ermittelten Publikationsaufkommen des Jahres 2017 die über »Google Scholar« (GS) und den jeweiligen universitären Publikationsserver (in Klammern sein Name) erhobene Anzahl der Veröffentlichungen der jeweiligen Einrichtung gegenüber. Zusätzlich aufgenommen habe ich die Universität Konstanz, die ja zusammen mit Bielefeld und Göttingen zu den deutschen Hautptransformatoren von »Open Access« gehört.
Einrichtung TR GS Publikationsserver Bielefeld 1048 2020 2758 (PUB) Gießen 2398 2670 519 (GEB) Göttingen 3769 4510 ??? (GOEDOC) Jülich 2107 4150 6124 (JuSER) Konstanz 1166 1410 2150 (KOPS) Regensburg 1921 1250 1913 (epub) Siegen 662 1540 166 (OPUS) Das sind nicht leicht zu interpretierende Daten (mit Ausnahme von GOEDOC, das sich weigert, eine Datumsabfrage abzusetzen). Aber es sind deutliche Hinweise darauf, daß die in der »Transformationsrechnung« auf der Basis des WoS angegebenen Publikationszahlen viel zu tief angesetzt sind. Ich schätze, daß das WoS nur etwa die Hälfte des tatsächlich Veröffentlichten ausweist. ↩
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Die überschlägige Schätzung aus Anm. 1 und die Tatsache, daß die Hälfte der deutschen Universitätsforschung Drittmittelforschung ist, konvergieren also darin, daß jeweils etwa die Hälfte der Forschungspublikationen nicht berücksichtigt wird, wenn es darum geht, die von der Universitätsbibliothek zentral benötigten Finanzmittel festzustellen. ↩
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Der Finanzbedarf für eine vollständige »Transformation« hin zu »Open Access« ist relativ leicht abzuschätzen. Nehmen wir die in der »Transformationsrechnung« genannten Einrichtungen und die Universität Konstanz mit ihren jeweiligen Erwerbungsetats, wie sie die Deutsche Bibliotheksstatistik ausweist, und schauen wir, was sich ergibt, wenn man die in der »Transformationsrechnung« geschätzte (!) Publikationsmenge sicherheitshalber verdoppelt (die Gründe dafür sind oben genannt) und das mit den jetzt schon real gezahlten oder geschätzen kostendeckenden Publikationsgebühren multipliziert. Die Zahlen sind für das Jahr 2017 erhoben. Beträge (gerundet) jeweils in Millionen Euro.
Einrichtung Erw.Etat TR OAPC Jochum MWSTM Bielefeld 3,7 2,3 4,2 6,3 7,1 Gießen 5,0 5,8 9,7 14,4 16,3 Göttingen 4,9 8,8 16,1 22,5 25,5 Jülich *** 5,0 *** 12,6 14,3 Konstanz 3,5 *** 4,2 6,0 6,8 Regensburg 4,9 4,6 8,0 11,5 13,0 Siegen 2,3 1,5 2,7 3,9 4,5 Legende:
Erw.Etat = Erwerbungsetat lt. Bibliotheksstatistik
TR = die in der »Transformationsrechnung« genannte durchschnittliche Publikationsgebühr für die jeweilige Einrichtung, multipliziert mit der in der »Transformationsrechnung« geschätzten Publikationsmenge
OAPC = die von OpenAPC ausgewiesenen durchschnittlichen Publikationsgebühren (2121 Euro), multipliziert mit der geschätzten (verdoppelten; Ausnahme: Jülich) Publikationsmenge
Jochum = die von mir geschätzten kostendeckenden Publikationsgebühren (3000 Euro), multipliziert mit der geschätzten (verdoppelten; Ausnahme: Jülich) Publikationsmenge
MWSTM = die von der Mark Ware Consulting geschätzte kostendeckenden Publikationsgebühr (3400 Euro), multipliziert mit der geschätzten (verdoppelten; Ausnahme: Jülich) PublikationsmengeDie Crux der ganzen Sache ist, wie man leicht sehen kann, die Feststellung der realen Publikationsmenge. Sollte diese, wie vermutet, tatsächlich um das Doppelte über dem liegen, was auf der Basis des WoS geschätzt wird, ist die Finanzierung von »Open-Access«-Publikationen aus den bisherigen regulären Bibliotheksetats nicht mehr möglich. Die Anhänger von »Open Access« sollten auf jeden Fall zur Kenntnis nehmen, daß die »Transformationsrechnung« für zwei Einrichtungen, Gießen und Göttingen, zeigt, daß die Kosten für »Open Access« jetzt schon die regulären Bibliotheksetats übersteigen. ↩