Aufheben

Teil 2 — Alles muß raus! Von Büchern auf Flohmärkten

Geschrieben von Jürgen Schmid am 22.12.2023

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Das böse Buch


Fischer schweigt

»Eine ausgewählte Büchersammlung ist und bleibt
der Brautschatz des Geistes und Gemütes.«
Karl Julius Weber (1767-1832)


Ein afrikanisches Sprichwort sagt: »Wenn ein Mensch stirbt, stirbt mit ihm eine ganze Bibliothek« — und oft auch dessen Bibliothek selbst, so er eine besaß. Denn die phy­sische Präsenz von Büchern ihrer Vorfahren ist den allermeisten Erben »im besten Deutschland, das wir jemals hatten« (Frank-Walter Steinmeier) kein Schatz für Geist und Gemüt, sondern nichts als eine Last, derer sie sich möglichst schnell entledigen wollen. Vieles wandert in den Altpapier-Container, vieles wird — »zum Verschenken« zwar, aber doch — auf die Straße geworfen. Wer noch ein Restgefühl von Pietät für seine verstorbenen Ahnen aufbringt, versucht wenigstens, deren Bücherschätze einigermaßen geordnet an Menschen zu verkaufen, von denen er annehmen kann, daß sie das Überlieferte zu schätzen wissen. Früher tat man das über die Altbücher­vermittlungsstelle Antiquariat, die allerdings längst auf der Liste Gefährdeter Arten gelandet ist (in Augsburg gibt es noch einen [!] Vertreter der Branche, selbst in Mün­chen wird die Luft dünn), heute meist auf Flohmärkten, in der Hoffnung, jemanden zu finden, der sich zur Trauer fähig zeigt und bereit zum Bewahren dessen, was verloren scheint — denn: »Nicht Menschen sterben. Welten hören auf.« (Thomas Schmid)

Zwischen Frühling und Herbst finden in Isar-Athen jeden Samstag Hof- und Garten­flohmärkte statt, reihum durch alle Stadtteile. Bücher werden dort an den meisten Ständen feilgeboten, oft in größerer Zahl, doch kaum jemand interessiert sich dafür. Bedrucktes Papier in gebundener Form dürfte inzwischen die Objektgruppe auf Flohmärkten sein, die sich am schlechtesten verkauft. Trotzdem führen drei von vier Standinhaber Bücher, weil sie sie loswerden wollen. Weit über die Hälfte besteht aus Wohlfühl-Schmonzetten Marke Kerstin Gier — Phantasy a la Holbein — Krimi, Horror, Thriller (letzteres die Hitliste anführend). Der Allgäuer Kommissar Kluftinger war eine Zeitlang — gefühlt jedenfalls — das am häufigsten angebotene Verkaufsgut in Buch­form, wie überhaupt die Krimi-Inflation einen Haufen wertlosen Schund produziert, dessen der Leser schnell überdrüssig wird: Allzu viele Krimis werden in atem­beraubendem Tempo schlampig aus erwartbaren Bausteinen zusammengeschraubt — Massenausstoß für einen völlig überhitzten Markt. Das Zeug liest sich schnell weg und verschwindet ohne Substanz im Nichts. Allerdings nicht ohne Nebenwirkungen: Es höhlt den Leser komplett aus — und dann will er den Krempel loswerden.

Ebenfalls zu finden: Ganz viel Kinder- und Jugendbücher, verkauft von den Eltern (im ersteren Fall) und von den jugendlichen Lesern selbst, wenn sie glauben, der Lektüre entwachsen zu sein. Und es wird von jungen Erwachsenen Schullektüre »verkloppt«, ein trauriges Bild auf Flohmärkten. Das wenige, die paar Inselchen Bildung, die noch verpflichtend sind, der Don Carlos etwa (»Geben Sie Gedankenfreiheit«), wollen viele so schnell als möglich loswerden, statt auf diesen Grundstock gestützt und darum herum eine substantielle Lesebiographie zu beginnen und eine eigene Bibliothek aufzubauen. Ich besitze alle meine Bücher noch, die wir zu Schulzeiten lasen — die Judenbuche, den Woyzeck, Das Fräulein von Scuderi, den Zauberberg, die Physiker, selbst Die Angst des Torwarts beim Elfmeter, die ich nicht mochte. Mancher der pflichtgemäß zu lesenden Autoren spielte lange eine große Rolle in meinen Lektüre­vorlieben, Alfred Andersch beispielsweise. Unvergessen die erstmalige Begegnung mit dem Parzenlied aus Goethes Iphigenie: »Sie halten die Herrschaft / in ewigen Händen / und können sie brauchen, / wie’s ihnen gefällt.« Was auch immer geschieht — »sie aber, sie bleiben / in ewigen Festen / an goldenen Tischen.« Oder wie uns ein Benediktiner-Pater den »Schischyphusch« von Wolfgang Borchert vorlas.

Und was es nicht alles gibt auf Münchner Flohmärkten, zum Schmunzeln, zum Wundern, zum Staunen: Inmitten der »Pandemie« verkauft ein Schüler im hochbürger­lichen Bogenhausen Juli Zehs Corpus Delicti, jene Prophetie, in welcher die Schüler während der realexistierenden »Maßnahmen« von den Verwerfungen eines hygiene-hysterischen Staatsapparats in seiner dystopen literarischen Vorwegnahme gelesen haben — »ein sehr gutes Buch« laut Verkäufer. Da ist die Esoterikerin, die sich mit allerlei »Wie-fühle-ich-mich-heute«-Ratgebern selbstverwirklicht, aber auch der ehemalige Philosophie-Student aus der Jesuiten-Hochschule, der in Obergiesing — ausgerechnet an der Tegernseer Landstraße, wo man »so was« nie und nimmer erwartet, im Viertel der kleinen Leute und der Antifa — Sein und Zeit verkauft, inklusive einer langen Diskussion über Gott und die Welt.

Was sehen wir von einem Menschen, der Bücher erwarb und las, Freude und Trost daraus zog, Erkenntnis und Wissen, Sehnsucht und Hoffnung? Wenig, wenn die Bücher kontextlos auf der Straße liegen. Nicht viel mehr zunächst, trifft man sie auf Tapeziertischen, Pappkartons, Decken am Flohmarkt an. Manche Buchbestände sprechen von selbst, in abgerissenen Sentenzen, mehr Fragen aufwerfend als Antworten erteilend, wie in der ersten Folge von »Aufheben« Bernhard Herzmanskys Alt-Wiener Thespiskarren oder das kleine Literatur-Konvolut eines Studiendirektors. Das meiste muß man zum Sprechen bringen, indem man mit den Menschen spricht, die Kenntnis haben von den Büchern und ihren Vorbesitzern.

Neugier muß man mitbringen, um die Dinge zum Leben zu erwecken. Keiner fragt so was außer mir, habe ich oft das Gefühl. Dabei habe ich nie erlebt, daß mein Interesse an den Menschen, die hinter den Dingen gestanden sind, als aufdringlich oder übergriffig empfunden wurde, ganz im Gegenteil scheint es die Leute zu rühren und zu beglücken, daß da ein Fremder Zugewandtheit zeigt zu denen, die ihnen nahestanden. Für mich ist dieses Fragen essentiell: Denn ich erwerbe nicht nur die Materie Buch, sondern das ganze Drumherum, ich sehe ein altes Buch nicht nur als bedrucktes Papier zwischen zwei Deckeln, als nüchternen Träger von Information in Buchstabenform, sondern als lebendiges Wesen. Uwe Jochum, der bekannte Buch- und Bibliothekskenner, der es mir in großzügigster Weise ermög­licht, meine Gedanken auf seinem trefflichen Blog 5artikel auszubreiten, weist darauf hin, daß sich ein Buch zusammenfügt aus Einband, Fadenheftung oder Klebung, Papier und Pappe — alles Dinge, die Teil des Körpers eines Buches sind, der aus Rücken, Kopf, Kopfschnitt, Fuß, Gelenken und Schwanz besteht.1

In der Leselounge des LMU-Philologikums, wo noch nie ein Student gelesen hat, prangt das Jean-Paul-Wort: »Bücher sind dickere Briefe an Freunde«. Peter Sloterdijk nimmt diesen Gedanken auf, wenn er davon spricht, daß Autoren sich stets einlassen müssen »auf das Abenteuer, Briefe an nicht identifizierte Freunde auf den Weg zu bringen«, das, was sie zu sagen haben, abzusenden wie eine Flaschenpost, nicht wissend, wer sie findet, öffnet und liest. Humanismus, so Sloterdijk, sei nichts anderes als die Vorstellung einer Gesellschaft, die »durch kanonische Lektüren ihre gemeinsame Liebe zu inspirierenden Absendern entdeck[t]«, was er abschätzig als »Phantasma« abtut, das ohnehin ausgedient habe in Zeiten moderner Massenkom­munikation.2 Ich sehe den intergenerationellen Zusammenhalt, den Flaschenpost­sendungen gewährleisten, sehr viel konstruktiver als der mal dies, mal das raunende Philosoph, der ja selbst dem »anti-generationellen Projekt« der Moderne auf 489 Seiten eine Absage erteilt hat3 — und ich denke, Uwe Jochum teilt meine Ansicht.

Denn lebendige, über Generationen hinweg sprechende (Buch)Körper sind – Jochum dixit — (u.a.) das, womit Menschen als »Wurzelwesen« ihre Welt, die Welt und Kultur, die sie von »Vätern und Vorvätern« ererbten, den »Kindern und Kindes­kindern« weitergeben. Dank einer spezifischen Verfugung beginne »jede Lektüre eines Buches mit der grundlegenden Geste der Raumöffnung, bei der wir im Aufschlagen des Bandes in den Innenraum unserer Kultur eintreten«. Treten wir ein. Betrachten wir den »Traditionsstrom«, wie er auf uns gekommen ist — und machen wir uns Gedanken darüber, was von ihm versiegen wird und was vielleicht neue Flussläufe bilden kann.

Bücher einer Kindheit

Wie eine Flaschenpost, eine wohlerhaltene Zeitkapsel, erscheint die kleine Samm­lung, die ich im Sommer 2023 in Berg am Laim, einem klassisch mittelschichtsbürger­lichen Stadtteil mit Einfamilienhäusern im Süden der bayerischen Landeshauptstadt erwerben konnte — der Nachlaß von Konstanze Fischer (1932–2022), ein Münchner Kindl, Verwaltungssachbearbeiterin bei der »Neuen Heimat«, unverheiratet, kinder­los.

Eine Großnichte der Verstorbenen verkaufte deren Kindheitslektüren, zusammen mit einer kleinen Heilig-Geist-Taube, die Frau Fischer zeitlebens in ihrer städtischen Wohnung schweben hatte.

Was las Konstanze? Lies und Lene, jenes freche Schwesternpaar, das eine könig­lich sächsische Kammerherrentochter als Antwort auf Max und Moritz für die Mäd­chenstube ersann.4 Heidi, die sie als Sechsjährige von den Eltern zu Weihnachten geschenkt bekam, nachdem sie sie zuvor im Kino gesehen hatte.5 Die Sonnentage eines damals beliebten isländischen Jugendautors — Schöpfer der Nonni-Romane.6 In dieses Buch klebte die Schülerin sogar ein eigenes »Ex Libris« ein. Und als Gast­geschenk ließ eine Freundin (Verwandte?) den Bildband Deutschland. Ein Buch der Heimat7 in München, ein ungewöhnliches Mitbringsel für eine Siebenjährige.

Aus dem Erbteil der Eltern von Konstanze Fischer nahm ich mir mit: Paul Kellers schlesischen Roman Die Heimat8, Werk eines unglaublich beliebten Autors, den wir schon bei den Büchern von der Straße kennengelernt haben. Und — dies von der Mutter gelesen — das Poem »Zlatorog« über ein Sagenmotiv aus den slowenischen Bergen des heute fast vergessenen Dichters Rudolf Baumbach9, wäre da nicht sein Volkslied »Hoch auf dem Gelben Wagen«, den ein berühmter Politiker rollen ließ.

Wie erlesen dieser Bestand ist, zeigen die Preise, welche im Antiquariatshandel aufgerufen werden — mit Ausnahme der günstigen, weil vielgedruckten Heidi-Bücher durchgängig zwischen 10 bis zu 50 Euro, besonders hochpreisig Lies und Lene.

Wir werden auf Lese-Kindheiten noch einmal zurückkommen, in der abschließenden Folge von »Aufheben«. Vorerst mag dieser kleine Einblick ein Gefühl dafür schaffen, was in einer deutschen Kinderstube vor einhundert Jahren gelesen wurde.

Homer im Schlußverkauf

Im April 2023 hatte im Münchner Westend ein Ehepaar fortgeschrittenen Alters zwei Kartons edelster Ware im Angebot — »komm, nimm mit«, alles muß raus, jedes Buch nicht mal ein Euro, als da waren:

Ilias und Odyssee in der Übersetzung Johann Heinrich Voß’, erschienen bei Cotta, dem Stuttgarter Verleger Schillers und Goethes, 1858 und 1860. Μῆνιν ἄειδε θεὰ, jeder ehemalige Griechisch-Schüler kann die Anfangszeile der Ilias aufsagen, womit nichts weniger gesagt ist, als daß die abendländische Literatur nicht mit irgendeinem Fragment über ein beliebiges Thema beginnt, sondern mit einem Monumental-Epos in fast 16.000 Verszeilen in Hexametern, deren Lesung zwölf Stunden beansprucht und mit einem Wort, das mit »Zorn« oder »Groll« wiederzugeben ist, Voß verdeutscht: »Singe den Zorn, oh Göttin« — »der entbrannt den Achaiern unnennbare Jammer erregte, Und viele tapfere Seelen der Heldensöhne zum Ais [in den Hades] sendete.«

John Miltons Verlorenes Paradies, übersetzt von Friedrich Wilhelm Zachariä, aus einer undatierten Ausgabe der Deutschen Hand- und Hausbibliothek. Diese Verdeut­schung des Braunschweiger Hofmeisters Zachariä (1726-1777) gehört — wie die Voß’sche Homer-Übersetzung oder Wielands Shakespeare-Übertragung — zu jenen Monumenten, mit denen Generationen deutscher Leser Weltliteratur kennengelernt haben. Paradise Lost, ein Werk, von dessen Existenz wir Augsburger Gymnasiasten in fünf Jahren Englischunterricht nichts ahnten, weil wir außer Harold and Maude und Animal Farm keinerlei Literatur zu Gesicht bekamen. Dieser beschämende Umstand soll sich im deutschen Gymnasialwesen dem Vernehmen nach nicht zu seinem Vorteil entwickelt haben.

Viktor Gerambs hochpolitische Programmschrift Von Volkstum und Heimat,10 ver­faßt am Tiefpunkt jener Katastrophe, die der Habsburger-Monarchie den Todesstoß versetzte und die winzige Republik Österreich, die aus der Konkursmasse hervorging, dazu verdammte, sich selbst ganz neu zu erfinden — mit einer Widmung des Autors für Georg Hager. Geramb — erster Lehrstuhlinhaber für Volkskunde in Österreich, eine Eminenz auf diesem Gebiet, Biograph des ersten Volkskundlers überhaupt, Wilhelm Heinrich Riehl und Lehrer von Leopold Kretzenbacher, der die Münchner Volkskunde in den 1970er Jahren zu unglaublichen Höhen führen sollte. Hager — als Kunsthistoriker Schüler von Wilhelm Heinrich Riehl, Chef des Bayerischen National­museums, Gründungsdirektor des Generalkonservatoriums der Kunstdenkmale und Altertümer Bayerns (heute: Landesamt für Denkmalpflege). Das Buch — ein Zeit­dokument allererster Güte — kam aus der Bibliothek seiner Tochter Luisa Hager, die den Eintrag »Georg Hager« in der Neuen Deutschen Biographie verfaßt hat,11 in den Flohmarktverkauf. Ob dieser Besitzervermerk ein Hinweis auf die Provenienz des Konvoluts sein könnte? Es war das hochwertigste Angebot, daß ich je auf einem Flohmarkt sah — leider hat es mir bei dessen Anblick so die Sprache verschlagen (und vollends bei Aufrufung der Preise), daß ich die Verkäufer nicht nach der Herkunft ihres Buchbestandes gefragt habe.

Es geht weiter mit Friedrich Siebers Sächsische Sagen in einer Diederichs-Ausgabe12 — mit berührender Widmung: »Aus Dankbarkeit für die unserer Mutter in langer Krankheit erwiesene Liebe. 26. Juni 1927 / Arthur Paul u. Frau«. Als jüngstes: Stefan Andres’ Widerstandsnovelle Wir sind Utopia, in »Die blaue Presse« zu München 1948 gedruckt mit Genehmigung der Militärregierung auf dem typisch holzhaltigen Mangelware-Nachkriegspapier. Und dann noch etwas zum Schauen, Staunen, Erfreuen: Ein Strandführer in wunder­vollem Jugendstil13 und der Bildband Durch das schöne Deutschland14 — wie sagte eine Trachtlerin aus Marburg beim Oktoberfestumzug 2023 mit Blick auf die bunten Gewänder zu meiner tiefsten Rührung: »Das sieht man, wie vielfältig Deutschland ist. Und wie schön.«

Bücher in Sendling — ein Stadtteilporträt?

Jeder Stadtteil jenes München, das »leuchtet« (Thomas Mann), hat seine eigene Charakteristik, steht als Soziotop für sich: Lehel als Upper-Class-Ghetto; Giesing ein antifa-affines Arbeiterviertel; Haidhausen das Bestverdiener-Grünen-Biotop; Hasenbergl, Neuperlach, Messestadt Riem soziale Brennpunkte; das Glockenbach Tummelplatz der Digital Boheme; Nymphenburg — ein deutsch-autochthones Villen­märchen; Laim eher die Normalvorstadtsiedlung; Harlaching reiche Gartenstadt im Grünen. Aber zeigen sich diese Charak­teristika auch am Flohmarktangebot, hin­sichtlich der Buchauswahl? Wandern wir durch das riesige Sendling — isarnah in den letzten Jahren unschön gentrifiziert, was bedeutet, daß es dort zwar jede Menge hippe Läden gibt, aber keinen Bäcker oder Metzger für den täglichen Bedarf.

Aus einem kleinen Konvolut von Preußen-Literatur, enthaltend Biographien über Friedrich den Großen und Bismarck, das auf einem unscheinbaren Tischchen in einem Nachkriegs-Hinterhof lag, erwarb ich zunächst aus der Hand des Enkels des Vorbesitzers Joachim Fernaus eigenwillige Preußen-Hommage,15 als zweitverwer­teter Goldmann-Lappen. Keine schöne Ausgabe — aber genau dieser Fernau fehlte noch in meiner Sammlung. (Zu dieser gleich.)

Kurios die Verhandlung mit einer jungen Frau, die für zwei Hesse-Bändchen16 eine unüblich hohe Summe aufrief mit der Begründung: »Es ist Hesse!«. Gebrauchte und nicht mehr druckfrische Taschenbücher gehen am Flohmarkt zum Normalpreis von 50 Cent weg, sie wollte 2 Euro pro Buch; wir einigten uns mühsam auf die Hälfte…

Gar nicht verhandelt habe ich mit einem altachtundsechziger Tandler über das Kurs­buch, Jahrgang 1969, worin — als ich ein Jahr alt war — Jan Raspe (nachmals RAF) über »Kindererziehung in der Kommune« indoktrinieren durfte. Die radikale Linke verfügte immer schon über »die Produktionsmittel« (Bert Brecht), um ihre absurden und gemeingefährlichen Minderheiten-Ideologien unters Volk zu bringen, hier prominent bei Suhrkamp, während dem Volk (meinen Eltern und Millionen anderen) entsprechende mediale Artikulationsmöglichkeiten zu deren normalen Erziehungs­methoden fehlten. Dieses Stück Indoktrinationsgeschichte mußte liegen bleiben.

Dagegen wurde ich mir schnell einig mit einer Frau, deren Vater die Wanderungen besaß (ohne selbst aus der Mark zu stammen), nach denen ich schon lange jagte und die mir kurz zuvor in einem anderen Stadtteil vor der Nase weggekauft wurden. Die schöne historische vierbändige Cotta-Ausgabe17 war mit 10 Euro fair bezahlt. Warum aber trennte sich die begeisterte Fontane-Leserin davon? Man hätte es ja noch verstehen können, hätte es sich um eine der inflationär auf den endlichen Markt geworfenen DDR-Auflagen gehandelt, welche in so hohen Stückzahlen gedruckt wurden, daß sie zur Makulaturware verkamen…

Im Nieselregen lag unverdientermaßen Friedells Kulturgeschichte der Neuzeit nebst derjenigen Ägyptens und des Alten Orients,18 von welchem Schicksal ich sie durch Erwerb befreite. Die Entäußerin habe ich dabei gar nicht gesehen, verkauft wurde stellvertretend von einer Japanerin mit ihrem Sohn, der töpfert. Alleine die Erinnerung an die Friedell-Anekdoten aus Torbergs Tante Jolesch überzeugte von der Not­wendigkeit dieses Kaufs, zumal die Bände, neuere Taschenbuch-Ausgaben, fast geschenkt waren.

Zwei belesene Damen (ein Wort, daß mitsamt der Würde seiner Trägerinnen beinahe untergegangen scheint), VG-Wort-Mitarbeiterin die eine, Diplom-Bibliothekarin die andere, horteten in einem winzigen verwunschen Hinterhof­gartenparadies ein kleines Schatzkästlein im Grünen. Ich entschied mich aus der Fülle für zwei DDR-Klassiker: Hanns Cibulkas Sanddornzeit,19 letztjährige Weih­nachtsempfehlung von Uwe Tellkamp, Gedankenspaziergänge auf der betörenden Insel Hiddensee, wo Gerhart Hauptmann begraben liegt — zum Flohmarkt-Schnäppchen-Preis, kostet diese Erst­ausgabe antiquarisch doch zwischen 15 und 33 Euro. Dazu ein Heine-Lesebuch »für unsere Zeit«20 — aus früher Arbeiter-und-Bauernstaats-Vereinnahmung, erschienen kurz bevor sich die Regierung nach dem Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 von einem lebenden Dichter sagen lassen mußte, besser wäre es, sie würde sich ein neues Volk suchen. Der realsozialistische Vorsatz-Spruch aus dem Munde des Genossen A.A. Shdanow, getätigt auf dem I. Unionskongreß der Sowjetschriftsteller 1934, gewinnt heute ganz neue, aktuelle, beinahe ironische Nuancierungen: »Die Bourgeoisie ließ das literarische Erbe zerflattern; wir sind verpflichtet, es sorgfältig zu sammeln, zu studieren und durch kritische Aneignung weiterzuent­wickeln.«

Auf dem Fußweg hatte jemand eine Kiste Operntextbücher eines Mannes (Frau?) namens Jungwirth aufgestellt, mit Mozart-Werken wie Die Zauberflöte und dem Wagner-Repertoire in Ausgaben aus den 1920er und 1930er Jahren, zum Teil mit Randbemerkungen versehen. Es ist beispielsweise dokumentiert, daß »Jungwirth« — dieser Name steht als Besitzerangabe auf dem fliegenden Blatt — am 20. Mai 1927 den Fliegenden Holländer in der Bayerischen Staatsoper hörte21 – Dirigent: Karl Alwin, als Jude später im Exil in Mexico. Aus den 1960er Jahren stammen Reclam-Heftchen zum Ring des Nibelungen, die Kammersängerin Helena Jungwirth gehör­ten, 1945 geboren in Stockholm, 2023 in München verstorben, Ensemblemitglied der Bayerischen Staatsoper. Sie war wohl die Tochter jener Jungwirths, denen die alten Textbücher gehörten. Wie es sie nach Stockholm verschlagen hat, wissen wir nicht. Ein Schmankerl ist schließlich das Textbuch von Richard Strauß’ Salome in einer Jugendstil-Ausgabe des Berliner Verlags Adolph Fürkner aus dem Uraufführungsjahr 1905 — es zeigt, daß der Jungwirth’sche Bestand generationenübergreifend entstand und mit der Leidenschaft für die Oper weitergegeben wurde.

Kurz vor Flohmarktende stieß ich auf einen jüngeren Mann, dessen Großmutter aus Prag stammt, 1922 geboren und erst kürzlich fast hundertjährig in Bayern verstorben; ihr gehörten zwei Bände aus des rasenden Reporters Kisch Gesammelten Werken,22 die ich mitnehmen mußte, einmal in Erinnerung an den Besuch jenes Cafes am Moldauufer, wo die Prager Dichter und Journalisten verkehrten und ihrer heute noch gedacht wird in Form von Wand-Porträts; zum anderen, weil die Vorbesitzerin ihren Geburtsjahrgang teilt nicht nur mit dem Deutsch-Prager Literaturwissenschaftler Peter Demetz, der hundertjährig in Yale lebt, Herausgeber der famosen Tschechi­schen Bibliothek, sondern auch mit dem ebenfalls pragstämmigen Münchner Volks­kundler Georg R. Schroubek, dem ich eine Biographie widmen durfte.

Und so zieht man nach einem solchen Tag beladen mit Büchern und reich an Begegnungen und Geschichten seiner Wege, darüber sinnend, welche Lebens­erinnerungen zusammen mit bedrucktem Papier verborgen schlummern. Ob die erworbenen Bücher wirklich den Münchner Stadtteil Sendling charakterisieren, mag dahingestellt sein.

Haushaltsauflösungen

Pasing ist ein Stadtteil im Westen von München, bis ins 20. Jahrhundert hinein ein Bauerndorf, das zu jener Zeit verstädterte, als Carl Christian Bry dort in den 1920er Jahren sein Meisterwerk »Verkappte Religionen« schrieb, eine Ideologiekritik, die Sloterdijk wiederentdeckte und begeistert las. Bry wohnte im alten Kern um die Mariensäule, bewusst nicht in einem der neuen Villenviertel der »Geldigen«, die sich entlang der Würm, die vom Starnberger See kommt, ausgebreitet hatten mit parkähnlichen Gärten, aber auch ortsnah in einer spätgründerzeitlichen Villenkolonie. Etwas abseits dieser Pole, am Würmkanal, der Richtung Schloss Nymphenburg fließt, liegen ein paar ruhige kleine Siedlerhäuschen.

Dort, in diesem bürgerlichen Mittelstandsmilieu, fanden in den letzten Jahren gleich drei Haushaltsauflösungen statt, zu denen die Besucher des Stadtteil-Flohmarkts gebeten wurden. Es beschleicht einen jedes Mal ein mulmiges Gefühl, wenn man durch Räume geht, in denen noch kurz zuvor ein Mensch gelebt hat, dessen Hab und Gut, das noch an seinem Ort steht, nun zur Ausraubung — so scheint es fast — freigegeben ist.

Im ersten dieser Häuschen, inmitten eines total verwachsenen Gartens versteckt, schlummerten uralte Bibliotheksbestände, die ich dort nicht erwartet hatte — und die über Generationen weitergegeben wurden, bevor diese Überlieferungskette nun ein Ende finden sollte: Clara Viebigs Roman Die vor den Toren (1910), jene Schriftstel­lerin, die ihre verarmte Eifel-Heimat mit dem berühmt-berüchtigten Weiberdorf (1900) auf die literarische Landkarte gehoben hat. Jakob Wassermanns Gänse­männchen in einer Feldausgabe aus dem S. Fischer Verlag (1916). Und Ina Seidels Novelle Die Fürstin reitet (1926 / 1948), von der Autorin der großen Saga einer evangelische Pastorenfamilie (Lennacker, 1938), Nichte des Schriftstellers Heinrich Seidel (Leberecht Hühnchen), Frau von dessen Sohn, Pfarrer Heinrich Wolfgang Seidel und Mutter von Georg Heinrich Seidel alias Christian Ferber, allesamt Schriftsteller.23 Eine unbekannte Gelegenheitsschriftstellerin aus höheren Kreisen treffen wir schließlich im Schönen Pinerl24 an, ein beschauliches Geschichtlein aus der Feder von Marianne von Ziegler (1886-1975), Tochter von Friedrich von Ziegler, seines Zeichens Kabinettssekretärs Ludwigs II., die in dessen Dienstwohnung in der Münchner Residenz aufwuchs, während der Vater wochenlang in Hohenschwangau und später Neuschwanstein weilte.

Im gegenüberliegenden Haus ging der Interessent ein Jahr später an einem wand­füllenden Bücherregal im Sechziger-Jahre-Wohnzimmer entlang, dessen Inhalt ein Enkel in Gänze loswerden wollte, weil er — wie er offen eingestand — damit nichts anfangen könne. Ich zog sechs Fernaus heraus, diesen Geschichts- und Kultur­deuter der anderen Art. Die habe der Opa gelesen, seine Frau eher Kishon, beide Autoren in den 1960er und 1970er Jahren gewissermaßen Melkkühe des Langen-Müller- Verlags, der in München sogar auf Straßenbahnen mit dem israelischen Satiriker warb.

Schließlich stand, in einem noch späteren Ambiente, in einer ansonsten eher links­lastigen Leseatmosphäre, tatsächlich der ruhmbegründende Sloterdijk, sozusagen in situ, über dem Fernseher — die Kritik der zynischen Vernunft.

Diese Haushaltsplünderungen boten einen seltenen Blick in Schichtenablagerungen: Von den ältesten noch geschlossen erhaltenen Buchbeständen aus der Zeit um den Ersten Weltkrieg über das, was in den Wirt­schaftswunderjahren boomte am Best­seller-Markt bis hin zu durchaus exklusiveren Lektüren in der späten Bundesrepublik, die nunmehr wieder aus den zwei zuvor getrennten Staaten in einem bestand.

Interessant ist freilich auch, welche Lese-Cluster es zu entdecken gilt, welche Auto­ren-Vorlieben manche Leser kultivieren, und welche soziologischen, Modernisten würden sogar sagen: gendertheoretischen Schlüsse man daraus ziehen kann: Fernau, der Männerautor einer konservativ-bürgerlichen Mittelschicht? Kishon, eher leichte Lektüre, von Frauen bevorzugt, die ab und an gerne auf humorvollem Niveau lesen, ohne sich an Höhenkamm-Literatur zu wagen?

Trennung ohne Schmerz

Oft wundert sich der Betrachter von Flohmarktauslagen, von was sich Menschen auf diesem spezifischen Wege trennen wollen — einmal, weil es sich um so miserables Dreckszeug handelt (»Kruscht« oder »Graffl« sagt man in Bayern), daß man es eigent­lich nur wegwerfen kann, aber nicht gegen Obolus verkaufen; im anderen Extremfall, weil den feilgebotenen Dingen derart persönliche, manchmal intime Erinnerungen anhaften, daß es sich eigentlich verbietet, diese fremden Menschen zu überlassen.

Unser Überblick über die zweitgenannte Praktik beginnt mit einem verhältnismäßig harmlosen Fall: Ein bodenständig wirkender älterer Herr im Westend, einem Glas­scherbenviertel, das sich gerade rasend gentrifiziert, verkaufte seinen Stowasser25 (1 Euro!), den er als Latein-Schüler des humanistischen Münchner Ludwigsgymna­siums benutzte — erworben von einem Augsburger Stephaner, der diesen Klassiker nie sein Eigen nannte.

Auf einer ansonsten bücherlosen Auslage mit allerlei Tand erspähte mein Auge sogleich eine Rarität: Den selten gesehenen (im letzten [!] Augsburger Antiquariat gelang mir der Fang seines Hosen des Herrn von Bredow), einst äußerst beliebten Fontane-Vorläufer (wenn man so despektierlich reden darf) Willibald Alexis,26 hugenottischer Abstammung und erster Romancier, der sich (sehr erfolgreich) am realistischen historischen Roman versuchte. Regelrecht verblüfft reagierte der wenig buchaffine Verkäufer auf meinen Hinweis auf die Widmung: »Meinem lieben Carl Otto / Tante Anna / Weihnachten 1913«. Er hatte keine Ahnung von Buch und Vorbesitzer, das auf seinem Dachboden herumlag. — Nebenbei bemerkt: An den Schriftsteller er­innert in München das auf dem Gelände eines Kieswerks neu errichtete »Alexisquar­tier« im Problemstadtteil Neuperlach, wo man nach der Anarchistin und Dichtermuse ohne eigenes Werk Zenzl Mühsam eine Straße benannte.

In der ersten Folge wurde die Geschichte vom Spengler-Fund im Wehrmachtsdepot 1945 erzählt — und welche Begeisterung dieser ausgelöst hatte. Im ersten Corona-Jahr erlaubte die Regierung im Sommer tatsächlich das Abhalten von Flohmärkten und ich konnte — unter strengsten Hygiene-Auflagen, versteht sich — einen wahren Bücherschatz, enthaltend eben auch den Untergang des Abendlandes nach Hause tragen. »Drunt’ in der greana Au«, verkauften ausgesprochen sympathische junge Leute die Bücher ihres Großvaters, eines Architekten — Gesamtausgaben von Spengler, Nietzsche, Shakespeare — für sehr kleines Geld.

In Pasing erwarb ich ein kleines Jünger-Konvolut, darunter die Strahlungen und eine Biographie (Martin Meyer), alles mit Besitzereintrag »Lamka« — nach Auskunft der verkaufenden Tochter »Journalist«. Ein vielsagender Einblick in das, was Vertreter dieses Berufsstand vor nicht allzu langer Zeit als Lektüre bevorzugten. Jünger-Biograph Meyer war selbst »so einer«, Feuilleton-Chef der NZZ. Warum gibt man den Lieblingsautor des Vaters weg?

Das Bitterste zum Schluß: Ein Rentner in Obermenzing bot ein einziges Buch feil, den Bericht eines Überlebenden der Tragödie von Stalingrad, erschienen im Jahr 1962.27 Ich las die Widmung: »Zum 24. Geburtstag von Deinem Vater«, zeigte sie dem Verkaufswilligen mit der Frage, ob er dieser Sohn sei. Er bejahte, verkaufte mir das Buch und verabschiedete mich mit den Worten: »Viel Spaß damit!« Eine Frau in Fürstenried entäußerte sich allen Ernstes auf dem Flohmarkt jener verbeulten Blechtasse ihres Vaters, die dieser aus Stalingrad mit nach Hause gebracht hatte. Ein junger Mann kaufte das Stück, das eine Beschriftung von der Hand des Front­soldaten trug, weil — wie er sagte — sein nachgeborener Vater ihm oft, wenn er sich über etwas beklagte, ermuntern würde mit den Worten: »In Stalingrad war es viel schlimmer.« Mir lief es, in beiden Fällen, eiskalt den Rücken hinunter.

Freytag-Mania

Schon einer Erwähnung wert ist die Häufigkeit, mit der man auf Gesamtausgaben von Gustav Freytag trifft. Am Haidhauser Postwiesenflohmarkt verkaufte ein dackelbesitzender Anwohner des Franzosenviertels, wo Grün nicht nur in der Natur herrscht, aus seiner wohlsortierten bildungsbürgerlichen Bibliothek ein Auswahlband der Ahnen mit der Bemerkung, es sei ein sehr gutes, einst vielgelesenes Buch. Im südlich benachbarten Berg am Laim, wo bei Wahlen die Karte schwarz eingefärbt wird, fand sich jüngst neben einer vollständigen, sechsbändigen Ahnen-Ausgabe des Jahres 192528 eine — auf dieser Textgrundlage beruhende — Freytag-Kompilation in drei Bänden29 des bekannten Schriftstellers Fritz Skowronnek (1858-1939) aus dem Nachlaß von dessen Münchner Tante.

Hans Fallada schildert in seinen Memoiren die väterliche Begeisterung für diesen Autor, der am Ende des 19. Jahrhunderts bei keiner Sommerfrische der bücher­närrischen Juristen-Familie im Gepäck fehlen durfte und aus dem abendlich gelesen wurde.30 Von Ruth Rehmann wissen wir um die Präsenz des Autors im väterlichen Pfarrhaushalt im Rheinischen der 1920er Jahre, auch wenn sie ihn falsch — »Freitag« (!) — schreibt.31 Schließlich liest eine geistig frühreife Erfurter Schülerin namens Annemarie Schimmel 1932 im Alter von acht Jahren (!) Freytags Soll und Haben, worin »Bernhard, der junge jüdische Orientalist«, ihre »Lieblingsgestalt war, lebte er doch für seine orientalischen Handschriften«.32

Daß Juristen, Pfarrer und angehende Orientalistinnen Freytag gelesen haben, ver­wundert nicht; daß es Postbeamte wie Schimmels Eltern taten, etwas mehr; daß aber ein Metzger in Hadern, Jahrgang 1911, der ein kleines Siedlerhäuschen bewohnte, den ganzen Freytag besaß, erstaunt. Unwillkürlich fragt sich allerdings der Betrachter der fast neuwertig erhaltenen Ausgabe, ob die Bände überhaupt gelesen wurden — oder nur dekorativ im Schrank standen? (Obschon wir von einer Zeit sprechen, als die Ahnen noch in jenen Ehren gehalten wurden, die ihnen immer und zu allen Zeiten gebühren — und noch nicht in finsteren Zeiten, wo das wohlwollende Sprechen über die eigenen Vorfahren beinahe schon als Verbrechen gilt.)

Und was, wenn die Bücherschränke in ihren Real-Beständen ein durchaus anderes Bild darbieten als es der Kanon unserer Literaturgeschichte will? Der Augsburger Bibliotheksdirektor i.R. Helmut Gier etwa berichtet davon, wie oft er in den 1980er Jahren Nachlässe bürgerlicher Bibliotheken angeboten bekommen habe, in denen Brecht (in seiner Heimatstadt, wohlgemerkt!) oder Feuchtwanger »eher nicht ver­treten« gewesen seien, wohingegen Freytag oder Hans Grimm häufige Gäste waren.

Was wurde wirklich gelesen?

Ein Leser der ersten Folge von »Aufheben« meinte, es sei durchaus »nicht ehren­rührig, alte Bücher zu entsorgen«, außerdem stellten »große Privatbibliotheken im Bürgertum immer schon mehr Schein als Sein« dar. Ersteres sieht der Verfasser dieser Zeilen erkennbar anders, ansonsten hätte er sich nicht zu einem Unternehmen aufgemacht, einen mehrteiligen Trauer- und Lobgesang auf ausgesetzte (Teil 1), verscherbelte (Teil 2), vergessene (Teil 3), untergegangene (Teil 4) und verfemte (Teil 5) Bücher (und selbstredend deren Autoren) anzustimmen. Zweiterem stimmt derselbe Verfasser zu — teilweise, keineswegs aber in der Absolutheit der Aussage.

Denn in der Tat kann kein außenstehender Betrachter beurteilen, welches Buch, das einmal im Bücherschrank stand und dann auf der Straße landete, wirklich gelesen wurde. Selbstredend gibt es Bücherschränke, die nicht viel mehr sind als dreidimen­sionale Vorzeige- und Prestigeobjekte in der Funktion einer repräsentativen Wand­tapete. Aber Gegenbeispiele von Bibliotheken, in denen regelrecht gelebt wird, sind Legion: Wolfgang Pleister (1945–2004), ein Münchner Jurist, hatte sich in jahrzehnte­langer Leselust und Lesewut eine sagenhafte ideen- und geistesgeschichtliche Privat­bibliothek nicht nur angelegt, sondern buchstäblich erlesen (ein schillerndes Wort!), deren 40.000 Bände irgendwann die Kapazitäten seiner Schwabinger Wohnung — in der er in spätbundesrepublikanischen Zeiten (nota bene!) einen Salon abhielt — sprengten, so daß er einen Bücherkeller anmieten mußte. Der schwedische LMU-Rechtshistoriker Sten Gagnér (1921–2000), Wolfgangs legendenumwobener akade­mischer Lehrer, wohnte in der Fürstenstraße inmitten seiner Gelehrtenbibliothek, die als so hochgradig bedeutend galt, daß sie in Gänze vom Frankfurter Max-Planck-Institut für Europäische Rechtsgeschichte übernommen wurde. Und Wolfgangs Freund Karl Hubertus Eckert besaß eine Privatbibliothek, welche von der Boeddhistische Unie van Belgie für derart repräsentativ angesehen wurde, daß diese das nachgelassene Geschenk annahm und einen 682 (!) Seiten starken Katalog erstellte und zugänglich machte.33

Wie aber kann man wissen, was gelesen wurde? Es gibt Indizien: Wirkt ein altes Buch, als wäre es gestern aus der Druckerei gekommen, dürfte es nicht sehr viel aufgeschlagen worden sein. Ist es hingegen zerlesen, mit Anstreichungen und Randnotaten versehen, wird sein Besitzer sich den Inhalt einverleibt haben. Schon das Vorhandensein eines Ex Libris deutet auf einen Leser mehr als auf einen reinen Statusbesitzer. Am besten natürlich, man befragt die Verkäufer. Wenn allerdings Einzelbände aus Bibliotheken wie jener Wolfgang Pleisters am Flohmarkt oder im Antiquariat landen, ahnt der Betrachter und Käufer nichts vom Geist, der dahinter­steht. Insofern empfand ich das letztendliche Untergehen dieser grandiosen Privat­bibliothek in einem Münchner Antiquariat als eine schwer erträgliche Schändung. Denn mit Wolfgang und seiner Bibliothek starb auch einer der allerletzten Vertreter »einer urbanen, metropolegebundenen Tradition an Kenntnis, Bildung, Takt, Geschmack, Selbstbewußtsein und Kultur«,34 die vor dem »Zusammenbruch« steht (oder schon gebrochen ist), die bildungsbürgerliche Welt eines Juristen, wie er früher einmal handelsüblich war (man denke an die Juristen E.T.A Hoffmann oder Joseph von Eichendorff!) und heute fast undenkbar erscheint, wo Justizminister Cannabis freigeben und allerlei Geschlechtern schöntun, die irgendwer erfunden hat.

An eine sagenhafte Privatbibliothek und ihren tragischen Untergang wird Teil 4 erin­nern. Zunächst aber wenden wir uns in der nächsten Folge Büchern zu, die Epoche machten — und heute zusammen mit ihrem Verfasser vergessen, wenn nicht diffa­miert sind. Eine Hebung tut Not zum 200. Geburtstag von Wilhelm Heinrich Riehl.

Anmerkungen

  1. Uwe Jochum: Lesezeug. Das Buch zum Buch. Beiträge zur Philosophie. Neue Folge. Heidelberg: Winter, 2021, S. 31. 

  2. Peter Sloterdijk: Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1999, S. 8, S. 10. 

  3. Peter Sloterdijk: Die schrecklichen Kinder der Neuzeit. Über das anti-genealogische Experiment der Moderne. Berlin: Suhrkamp, 2014. 

  4. Hulda von Levetzow, Lies und Lene. Das bekannte Schwesternpaar. Eine Buschiade für groß und klein in sieben Streichen. Fürth: Pestalozzi, [1936]. — Erstausgabe 1896. 

  5. Johanna Spyri: Heidi. Eine Geschichte für Kinder und solche, die Kinder lieb haben (Enthält: »Heidis Lehr- und Wanderjahre« und »Heidi kann brauchen, was es gelernt hat«). Illustriert von Willy Planck. 8. Auflage. Stuttgart: Loewes Verlag Ferdinand Carl, 1935. — Widmung: »Unserer lieben Konstanze ein frohes Weihnachtsfest 1938. Deine Eltern.« Ex Libris »Konstanze Fischer«. Darin: »Illustrierter Film-Kurier« zur Hollywood-Verfilmung von 1937 mit Shirley Temple in der Titelrolle. 

  6. Jón Svensson: Sonnentage. Nonni’s Jugenderlebnisse auf Island. Illustriert von Fritz Bergen. Freiburg: Herder, [1939]. 

  7. Deutschland. Ein Buch der Heimat. Mit einer Einführung von Werner Beumelburg. Berlin: Franke,[1938]. — Widmung: »Der lieben Konstanze zur Erinnerung an die freundliche Aufnahme in ihrem schönen Elternhaus bei meinem ersten Aufenthalt in München. 18.6.1939. Josefine Hauck.« 

  8. Paul Keller: Die Heimat. Roman aus den schlesischen Bergen. Berlin und Wien: Ullstein,[1916]. — Besitzervermerk: »Christof Fischer« (Vater von Konstanze Fischer). 

  9. Rudolf Baumbach: Zlatorog. Eine Alpensage. Stuttgart, Berlin: J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger, 1921. — Mit Geschenkeinmerker »Der lieben Mutter«. 

  10. Viktor Geramb: Von Volkstum und Heimat. Gedanken zum Neuaufbau. Zweite, verbesserte und vermehrte Auflage. Graz: Moser (J. Meyerhoff), 1922 —– Widmung: »Dem hochverehrten Herrn Generalkonservator Dr. Georg Hager in dankbarer Verehrung / Viktor Geramb / Weihnachten 1922«; Eintrag: »Aus Bibliothek / L.[uisa] Hager / März 1965«. 

  11. Luisa Hager: Hager, Georg. In: Neue Deutsche Biographie (NDB), Band 7. Berlin: Duncker & Humblot, 1966, S. 489. 

  12. Sächsische Sagen. Von Wittenberg bis Leitmeritz. Gesammelt und herausgegeben von Fr.[iedrich] Sieber. Aus dem »Deutschen Sagenschatz«. Jena: Diederichs, 1926. 

  13. P. Kuckuck: Der Strandläufer. Die wichtigsten Strandpflanzen, Meeresalgen und Seetiere der Nord- und Ostsee. Mit 24 Tafeln nach Aquarellen von J. Braune. München: Lehmanns, 1905. 

  14. Durch das schöne Deutschland.Berlin: Simon, (ohne Jahr, um 1930?). 

  15. Joachim Fernau: Sprechen wir über Preußen. Die Geschichte der armen Leute. München: Goldmann, 1982. 

  16. Hermann Hesse: Ladidel [1909]. Zwei Erzählungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1985. — Hermann Hesse: Der Weltverbesserer [1911]. Zwei Erzählungen. Frank­furt am Main: Suhrkamp, 1985. 

  17. Theodor Fontane: Wanderungen in der Mark Brandenburg. Vier Bände: Graffschaft Ruppin, Spree­land, Haveland, Oderland. Stuttgart und Berlin: Cotta, 1906/1907. 

  18. Egon Friedell: Kulturgeschichte der Neuzeit. Die Krisis der europäischen Seele von der schwarzen Pest bis zum Ersten Weltkrieg. Band 1 und 2. München: dtv, 1993. — ders., Kulturgeschichte Ägyptens und des Alten Orients. München: dtv,1996. 

  19. Hanns Cibulka: Sanddornzeit. Tagebuchblätter von Hiddensee. Halle (Saale): Mitteldeutscher Verlag, 1971. — Widmung: »Meine liebe Gretel … von Deiner Schwester Käthe. Weihnachten 1974«. 

  20. Heine. Ein Lesebuch für unsere Zeit. Weimar: Thüringer Volksverlag, 1952. 

  21. Der fliegende Holländer. Romantische Oper in drei Aufzügen von Richard Wagner. Mit einer Ein­führung von Heinrich Kralik. Operntextbuch Nr. 16. Tagblatt-Bibliothek Nr. 240. 22. bis 31. Tausend. Wien: Steyrermühl, ohne Jahr (wohl 1926), Eintragung zur Aufführung S. 55. — Am 16. Juni 1934 besuchte Jungwirth die »Götterdämmerung« (»Anfang: 18 Uhr, Ende: vor 23 Uhr«), am Pult der Musikdirektor der Wiener Staatsoper, Clemens Krauss, die Wienerin Hilde Konetzni als Brünnhilde und den Hagen gab Josef von Manowarda, ebenfalls von der Wiener Staatsoper: Götterdämmerung. Dritter Tag des Bühnenfestspiels: Der Ring des Nibelungen von Richard Wagner. Mit einer Einführung von Heinrich Kralik. Operntextbuch Nr. 13. Tagblatt-Bibliothek Nr. 191/192. Wien: Steyrermühl,1925, Einklebung des Zeitungsausschnitts S, 91. 

  22. Egon Erwin Kisch: Marktplatz der Sensationen — Entdeckungen in Mexiko. Gesam­melte Werke in Einzelausgaben, herausgegeben von Bodo Uhse und Gisela Kisch. Band VII. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag, 1968. — ders., Aus Prager Gassen und Nächten — Prager Kinder – Die Abenteuer in Prag. Gesammelte Werke. Band II/1. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag, 1980. 

  23. Christian Ferber: Die Seidels. Geschichte einer bürgerlichen Familie 1811-1977. Stuttgart: Deutsche Verlag-Anstalt, 1979. 

  24. Marianne von Ziegler: Die schöne Pinerl und ihr Schutzpatron. Buchschmuck von Elisabeth von Rummel. München: Hugendubel, 1936. 

  25. Der kleine Stowasser. Lateinisch-Deutsches Schulwörterbuch. Bearbeitet von Michael Petschenig. München: Freytag, 1964. 

  26. Willibald Alexis: Ruhe ist die erste Bürgerpflicht. Vaterländischer Roman. 6. Auflage. Berlin: Janke, 1906. 

  27. Heinrich Gerlach: Die verratene Armee. Ein Stalingrad-Roman. München: Nymphenburger, 1962. 

  28. Gustav Freytag: Die Ahnen. (Sechs Bände). Mit Holzschnitten von Karl Stratil. Leipzig: Hirzel,1925. 

  29. Dreibändige Freytag-Ausgabe mit Soll und Haben und Die Ahnen, herausgegeben von Fritz Skowronnek, 1926. 

  30. Hans Fallada: Damals bei uns daheim. Erlebtes, Erfahrenes und Erfundenes. Stuttgart: Rowohlt, 1956, S, 116. 

  31. Ruth Rehmann: Der Mann auf der Kanzel. Fragen an einen Vater. München: Hanser, 1979, S, 28. 

  32. Annemarie Schimmel: Morgenland und Abendland. Mein west-östliches Leben. München: Beck, 2002, S, 18. 

  33. Nico Moonen: Systematische cataloog collectie Dr. K.H. Eckert. Facetten van het Boeddhisme. Bibliotheek van de Boeddhistische Unie van België. 2003. 

  34. Karl Heinz Bohrer: Die Unschuld an die Macht! Eine politische Typologie. 3. Folge: Die guten Hirten. In: Merkur, Nr. 431, Januar 1985.