Fiktion und Wirklichkeit

Geschrieben von Uwe Jochum am 20.7.2022

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σύνταξις | XII | syntaxis


Uwe Jochum

Wissenschaftlicher Bibliothekar

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Der De-Gruyter-Newsletter spülte mir einen Hinweis in mein Mailpostfach, bei dem ich nicht weiß, ob ich nun lachen oder doch ein wenig weinen soll.

In der Sache geht es um eine Einladung zum Stand des De-Gruyter-Verlags anläßlich der demnächst in Dublin stattfindenden IFLA-Weltkonferenz, dem »IFLA WLIC 2022«. Das übersetzt sich so: Die »International Federation of Library Associations« veranstaltet den siebenundachtzigsten »World Library and Information Congress«, der unter dem üblich-langweiligen, weil vollkommen austauschbaren Motto steht: »Inspire, Engage, Enable, Connect«. Wie langweilig das in der Tat ist, merkt man spätestens, wenn man die Sache ins Deutsche transponiert. Denn dann geht es um einen vom »Internationalen Verband der Bibliotheksverbände« veranstalteten »Weltbibliotheks- und -informationskongreß« mit dem Motto »Inspiriere, engagiere dich, ermögliche, verbinde«. Also ein Motto mit Imperativkette, bei der nicht klar ist, wer da eigentlich der genaue Adressat sein (na gut, irgendwie alle Bibliothekare, weltweit natürlich, drunter macht man es nicht) und was das bitte schön konkret heißen soll. Wir haben hier also den bemerkenswerten Fall eines vollstmundigen Nichts vor uns, das als Nichts daher auch völlig beliebig ist.

Als Screenshot sieht das übrigens so aus:

De-Gruyter-Mail

Interessant wird die Sache freilich, wenn man auf den Link »IFLA WLIC 2022« klickt, denn dann landet man auf der Website der geplanten Konferenz. Und zwar – jetzt beginnt der amüsante Teil – nicht auf irgendeiner drögen Seite mit einer lesenswerten Erläuterung des Konferenzmottos (eine solche Erläuterung scheitert notwendig am verbalen Nichts des Mottos) oder einer Übersicht der Programmhöhepunkte, die die Attraktivität der Konferenz begründen würden. Nichts davon. Man landet vielmehr schnurstracke hier:

WLIC-2022 Quelle: ]

Was auf diese Weise ganz klassisch als Link zum Konferenzprogramm daherkommt, enthüllt sich nach einem Klick auf die Kachel »Detailed programme now available« als das hier:

WLIC-2022-Besuchsprogramm Quelle: https://2022.ifla.org/congress-outline/library-visits/.]

Sicherlich ist es schön, wenn eine große internationale Konferenz den Konferenzbesuchern auch ein touristisches Rahmenprogramm anbietet. Keine Frage. Aber es ist offenbar am schönsten, wenn die Konferenz erst gar nicht mit dem Konferenzprogramm zu locken versucht, sondern, wie hier, mit dem touristischen Rahmenprogramm. Dann weiß auch noch die verschlafenste Bibliothekarin (m/w/d), was da in Dublin auf sie zukommt und von ihr erwartet wird, nämlich das unterhaltsame Herumhängen auf den zahlreichen angebotenen Ausflügen und Vorbeiguckbesuchen.

Und der stille Betrachter dieser Dinge wird interessiert wahrnehmen, daß direkt nach Buchungsstart nicht die Konferenz als solche ausgebucht war/ist, sondern, aha!, die touristischen Tagestouren nach dem irischen Norden und Süden. Und ganz klar, daß das besonders der Südfahrt nach Limerick und Tipperary gilt. Das kennt man, das hat man schonmal gehört, da will man hin.

WLIC-2022-Touren Quelle: https://2022.ifla.org/congress-outline/library-visits/.]

Wenn sich der geneigte Leser nun fragen sollte, warum ich das zum Lachenweinen finde, dann weise ich in aller schreibenden Bescheidenheit darauf hin, daß ich kürzlich ein kleines Buch mit dem einschlägigen Titel »Der Kongreß« veröffentlicht habe, dessen Plot nun zwar nicht um den ganz großen Bibliotheksinformationsweltkongreß gravitiert, sondern um die etwas kleiner dimensionierten bundesdeutschen Bibliothekskongresse. Beziehungsweise einen davon. Natürlich einen fiktiven, natürlich mit jeder Menge fiktivem Personal. Das natürlich jede Menge fiktive Dinge tut. Unter anderem hauptsächlich zu dem Kongreß zu fahren, um dort unterhaltsam herumzuhängen und so nebenbei den Verbandschef abzuschießen.

Womit ich bei dem schönen Thema wäre, worin sich denn nun eigentlich Wirklichkeit und Fiktion unterscheide. Denn »Der Kongreß« ist ein Gesellschaftsroman, wie auf dem Titelblatt zu lesen ist, und das heißt wahrscheinlich dies: daß die fiktiven Personen in Gesellschaft und als Gesellschaft handeln. Während die Wirklichkeit und das menschliche Individuum aber prinzipiell unausschöpfbar sind, weil sich immer wieder neue Perspektiven auf sie einnehmen lassen, gilt das von fiktiven Welten und ihrem Personal nicht. Sie sind begrenzt durch das, was der Autor von ihnen preisgibt. Aber ebendiese Grenze ist die Chance der Fiktion: daß sie in den Grenzen, die sie ihrer Welt und ihren Personen setzt, die Strukturen der Welt und der Menschen sichtbar machen kann und dadurch jene Aha-Erlebnisse freisetzt, die in den besten Momenten auf den Grund der Wirklichkeit zu blicken erlauben. Wenn in einem Roman also etwas wahr ist, dann ist es nicht die vermeintlich realistische Abbildung von Welt und Menschen, sondern seine potenzierte Realität: daß alles, was die Fiktion bietet, die Wirklichkeit so zur Kenntlichkeit verschiebt, daß sie in ihrem Grund sichtbar wird. Naja, bleiben wir vorsichtig: nicht in dem Grund, sondern in einer Perspektive auf den Grund.

Und damit bin ich bei der Antwort auf die Frage, was ich denn nun endlich an der ganzen Sache zum Lachenweinen finde. Nun, ganz einfach: daß das, was »Der Kongreß« an bibliothekarischer Kongreßwelt sich ausgedacht hat, als Fiktion so wahr ist, wie eine Fiktion nur wahr sein kann. Wer also wissen will, was in Dublin auf ihn zukommt, aber keine Lust hat, per Dienstreise oder Dienstbefreiung steuersubventioniert nach Dublin zu fahren, wird ohne ärgerliche Zeitverschwendung und mit geringem eigenen finanziellen Einsatz in der Lektüre des »Kongresses« das finden, was sich in Dublin zutragen wird, nicht in realo und in concreto, aber auch nicht in abstracto, sondern in fictione. Also in einer Anderswelt, die aber, wie jede fiktive Welt, die Welt, wie sie ist, durchscheinend macht. Das ist insofern ein wenig zum Weinen, weil sich die reale Kongreßwelt aus der Perspektive der Fiktion in ihrer geistlosen Armut enthüllt, die man niemandem antun will; aber es ist genau aus demselben Grund auch amüsant, weil ebendiese Geistlosigkeit, transponiert in die Fiktion, ihre lächerlichen Momente in aller Pracht zeigt und wir entspannt lachen können, ohne uns in Dublin langweilen oder ärgern zu müssen.

Wer’s nicht glaubt, dem sei am Ende mit einem kleinen Ausschnitt aus dem »Kongreß« gediehnt. Nämlich einem Ausschnitt aus Kapitel X, in dem es um die offiziöse Sicht auf die Bedeutung solcher Kongresse geht und um das, was sich dahinter finden läßt:

»Die inoffizielle Seite sieht freilich ganz anders aus: Otto Normalbibliothekar fährt zum Bibliothekskongreß nach Berlin, um dort einmal so richtig die bibliothekarische Sau rauszulassen, also sich, nur zum Beispiel, eine ganz neue Apollo-Brille zu kaufen, den Deuter-Rucksack durch die halbe Stadt zu Dusselmann zu tragen, um sich dort einen neuen Lese-Teddy zuzulegen, sich mit anderen Nadelstreifenhörnchen zu treffen und sich gegenseitig die Nadelstreifen zu zählen, die aufgeklebten Fingernägel in den Rücken des Dreitagebartkollegen zu bohren, den man schon seit drei Bibliothekartagen hatte vögeln wollen — naja, das habe ich jetzt natürlich erfunden. Denn Bibliothekare sind bekanntlich, laut ›Brehms Tierleben‹, eine asexuelle Spezies, die sich alleine durch Parthenogenese fortpflanzt.

Gehen wir also davon aus, daß das inoffizielle Bibliotheksvolk und seine offiziellen Vormünder aus sehr unterschiedlichen Gründen nach Berlin fahren: die einen zum Netzwerken und Schöntun, die anderen zum Adabeisein und Schöntun. Wobei der Spaß natürlich darin besteht, daß man beim Gros der Kongressierenden nicht so recht weiß, ob man es mit einem netzwerkenden Karrieristen oder einem bloß irgendwie herumstehenden Adabei zu tun hat. Die Rollen wechseln da stündlich. Nur das allseits und sattsam bekannte Führungspersonal, also die bisweilen auch mit einem Mann besetzte Rolle der Ameisenkönigin und die in der Regel sehr solide mit Frauen besetzten Rollen der drohnenden Verbandsoffiziere — nur dieses Führungspersonal also, das sich für bedeutend und unersetzlich hält, und zwar nur deshalb, weil es so unersättlich daran arbeitet, dank charakterlicher Biegsamkeit, prinzipienloser Wendigkeit und ministerieller Hörigkeit auf der Karriereleiter nach oben zu klettern, ohne auf den schlüpfrige Sprossen abzurutschen — nur dieses Führungspersonal also, von dem hier nur einiges gesagt werden sollte, weil ansonsten über dieses Personal kein Wort mehr zu verlieren ist — nur dieses Führungspersonal also strahlte in seiner selbstgefälligen Präponderanz nichts als eine vollkommene gähnenden Langeweile ab. Man mied diese Leute daher nach Möglichkeit und überließ sie sich selbst und ihren heimlichen Karriereängsten, um, siehe oben, in Berlin die bibliothekarische Sau rauszulassen.

Welches Saurauslassen übrigens dadurch sehr aufgehübscht wurde, daß für das Berliner Kongreßereignis, das in der offiziellen Lesart — und in diesem Punkt waren sich dann natürlich alle Bibliothekare einig — eine Weiterbildungsveranstaltung war und ist, von den meisten Bibliotheken Dienstreisemittel bereitgestellt wurden und werden. Und hier ist natürlich der Spaßhund der ganzen Sache vergraben: Eine ganze Woche lang auf Staatskosten nach Berlin fahren zu dürfen, dort nichts machen zu müssen, aber im heimatlichen Bau nach der Rückkehr erzählen zu können, man habe die Zukunft leibhaftig gesehen und würde an ebendieser Zukunft von nun an mitarbeiten — ja mei, wer würde da nein sagen?«

Neugierige finden hier mehr: https://www.buchhandel.de/buch/Der-Kongress-9783754660133 Gibt’s auch als E-Buch…