Soziale Virologie VI

Wie unsere Immunsysteme in der Erregungsepidemie versagten

Geschrieben von Jürgen Schmid am 15.6.2023

Auch interessant:


Hararis Denke


Recht und Sitte in Thüringen

Eine Nachbemerkung zur Konstitution des Thüringer Landtags


»Hättest du [gemeint ist Jesus Christus, der 1600 Jahre
nach seinem Kreuzestod zu den Menschen zurückgekehrt ist
und nun vor dem Kardinal Großinquisitor steht,
der ihn folgendermaßen anspricht] nur allem Genüge getan,
was der Mensch auf Erden sucht, das heißt: wem er huldigen
und sein Gewissen überantworten kann und auf welche Weise
sich endlich alle gemeinsam zu einem unangefochtenen und
einträchtigen Ameisenhaufen zusammenschließen können […].«

Wir haben miterlebt, wie sich die Infektiologie lange vor und unabhängig von »Corona« in unserer Alltagssprache einrichtete und was sie mit ihrem denunziatorischen Spal­tungspotential an gesellschaftlichen Schäden zu verursachen in der Lage ist (Teil I). Wir haben erkundet, welche Denker den Maßnahmen-Staat in ihren Werken quasi prophylaktisch beschrieben und kritisiert haben — und daß nur wenige von ihnen, allen voran Giorgio Agamben und Byung-Chul Han, sich in der Corona-Krise treu geblieben sind (Teil II, Teil III und das Addendum, Teil IV). In der letzten Folge der »Sozialen Virologie« soll gezeigt werden, wie denkerische und gesellschaftliche Immunsysteme in der Corona-Panik ihren Dienst verweigert haben — am tragischen Fall des Philosophen Peter Sloterdijk mit und an Corona sowie an der Selbstentmündigung breiter Massen eigentlich souveräner Bürger, die sich eine mündige Unmündigkeit einreden ließen.

Peter Sloterdijk — Freier Fall eines Anwalts der Immunsysteme


»Jetzt sind die Menschen mehr denn je davon überzeugt,
daß sie vollkommen frei sind; dabei haben sie selbst
uns ihre Freiheit gebracht und sie untertänigst
uns zu Füßen gelegt.«

»Ich bin frei nur in dem Maß, wie ich Eskalationen unterbrechen und mich gegen Meinungsinfektionen immunisieren kann.«1 Solche Einsichten ventilierte Peter Sloter­dijk 2001, seinerzeit Professor für Philosophie an der Staatlichen Kunsthochschule Karlsruhe. Daß er die Formulierung in der ersten Person Singular auf sich selbst bezieht, daran läßt Sloterdijk keinen Zweifel: »Genau das macht noch immer die Mission des Philosophen in der Gesellschaft aus […]: zu beweisen, daß ein Subjekt ein Unterbrecher sein kann und nicht nur ein einfacher Kanal für den Durchlaß von thematischen Epidemien und Erregungswellen.« An sich stellt Sloterdijk hohe Ansprü­che: »Als Träger einer philosophischen Funktion darf ich und will ich weder Reizleiter in einer stress-semantischen Kette sein noch Automat eines ethischen Imperativs.«

In allem, was sich Sloterdijk metaphern- und selbstverliebt als Aufgabe gestellt hat, als er sich als nietzscheanischer »Denker auf der Bühne« positionierte, hat er in »Pan­demie«-Zeiten auffällig versagt. Wenn »Gleichrichtungsenergien stärker sind als die Dissidenzgewohnheiten«, wenn »durch hochenergetische Themen fast alles mitgeris­sen wird«, sollten »autonome, sachlich urteilende Intellektuelle« nicht »in ziemlich me­chanischer Weise als Kanäle für den Transport von Aufreizungsimpulse fungier[en]«.

Sloterdijk konnte (wollte?) nicht das aufbringen, was »Souveränität« in seiner eigenen Definition ausmachen würde: »sich von Meinungsepidemien distanzieren« und »den Erregungsdienst verweigern«. Wenn Sloterdijk konstatiert: »Die Gedanken sind unfrei […] Sie kommen aus der Zeitung und führen in die Zeitung zurück«, liegt darin wohl der Schlüssel für sein Heulen mit den Wölfen in der Corona-»Pandemie«: Da wollte jemand partout nicht aus dem Meinungskorridor fallen, auch um den Preis, unsou­verän auf der Welle einer »Meinungsepidemie« mitzuschwimmen und damit Unfreiheit zu legitimieren — die eigene und die der anderen. Aber wenigstens in den Zeitungen will Sloterdijk als öffentlicher Denker unfrei bleiben, wenngleich er diese als Produ­zenten von »Lügenäther« gescholten hatte. Sloterdijk als Musterbeispiel dafür, was der Schriftsteller Richard Wagner auf den Punkt setzte: »Es muß unendlich schmerz­hafter sein, die Standards nicht genießen zu können, als die Freiheit einzubüßen.«

Sloterdijk ist im Meinungsstreit ein gebranntes Kind: Seine vorstehenden Reflexionen bezogen sich auf den Skandal, den seine Elmauer Rede »Regeln für den Menschen­park«2 ausgelöst hatte; er wollte auf der Negativfolie seiner Anfeinder eine souveräne Denkerposition herausarbeiten, in der er sich selbst sah. Im Streit mit Jürgen Haber­mas, seinem intriganten Gegnern, gab Sloterdijk keinen Millimeter nach, sondern blies mit einem offenen Brief »Die kritische Theorie ist tot« streitwütig zum Gegenangriff.

Auch mit seinem Buch Die schrecklichen Kinder der Neuzeit mit dem vielsagenden Untertitel Über das anti-genealogische Experiment der Moderne löckte der Philosoph 2014 gegen den Stachel — und hatte Glück, daß seine provokanten Thesen vom Spiegel zwar moniert wurden, eine größere mediale Aufregung aber — bedingt wohl durch aktuelle Themen wie die Ukraine-Krise — nicht entbrannte.

Ein letztes Mal provozierte Sloterdijk eine medial getriggerte »Meinungsepidemie«, als er sich 2016 gegen Merkels Grenzöffnungspolitik und den Willkommenstaumel stellte — und dem Gegenwind, der ein orkanartiger Shitstorm war, zunächst betont stur widerstand, bis er nach Vorführung der Instrumente kleinlaut einknickte.

Dabei waren seine Einlassungen im Gespräch mit dem Magazin Cicero unter dem Titelzitat »Wir haben das Lob der Grenze nicht gelernt« an Deutlichkeit nicht zu über­bieten: »Die deutsche Regierung hat sich in einem Akt des Souveränitätsverzichts der Überrollung preisgegeben«. Aber: »Auf die Dauer setzt der territoriale Imperativ sich durch. Es gibt schließlich keine moralische Pflicht zur Selbstzerstörung«.

Es darf spekuliert werden, daß sich der von den »Mentalitätsmachthabern« (Sloter­dijks Formulierung, gegen die Habermasianer gerichtet) mehrfach Angezählte in der »Pandemie« gegen die Ruf und Lebenswerk zerstörende Stigmatisierung als »Quer­denker« entschied, obwohl dieses Epitheton exakt jener Rolle entspricht, die er jahrzehntelang für sich reklamiert hatte.

Genügt es, als Denker die richtigen Fragen zu stellen — und an der konkreten Antwort im Ernstfall zu versagen? »Welche Erregungsabläufe, welche Phantasmen, welche thematischen Epidemien sind für soziale Großkörper typisch und wie breiten sie sich aus, wie teilen sie sich den Individuen und Gruppen mit? Welche Spannungen kann man nur dadurch erleben, daß die Erregung der Gruppe auf dich übergreift?«3

Ausgerechnet jener Philosoph, der den Begriff »Phobokratie« prägte, verfällt hem­mungslos der Herrschaft der Angst, wenn er im November 2020 im Spiegel als »Tatsache« beschwört, daß viele Millionen Menschen gesundheitlich durch Corona »schwere Schäden« davontragen und nur einige (sic!) »ungeschoren davonkommen«.


»Der Mensch sucht aber dem zu huldigen,
was bereits außer Zweifel steht, so sehr
außer Zweifel, daß alle Menschen zugleich
der gemeinsamen Verehrung zustimmen. [...]
Dieses Bedürfnis nach gemeinsamer Verehrung ist
die größte Marter jedes Einzelmenschen [...].«

Der Detektor, welcher die Erregungsmaschinerie mit Selbstbezeichnung »Qualitäts­presse« wieder und wieder entlarvt hat, papageit die Aufbauschungen medialer Hysterisierung nach, verteufelt fundierte Kritik an staatlichen Maßnahmen als »Räusche des Irrsinns«, adelt experimentelle, im Hauruck-Verfahren durch die Zulassung gepeitschte Impfstoffe zu »Manifestationen des objektiv gewordenen Geistes«, wo er — vor den notfallbedingten Zulassungen — in der NZZ noch zurückhaltend »die Hoffnung auf Impfstoffe« für lediglich »plausibel« befunden hatte.

Der Denker, der stets seinen Philosophenstolz daraus bezog, gegen den Strom zu schwimmen, mutiert zur »Mainstream-Plattitüden-Ballwurfmaschine«, wenn er »Quer­denker« als Minderbemittelte diffamiert, »die die Erdrotation leugnen« — dabei haben diese sich zu kosmischen Belangen gar nicht geäußert, sondern empfinden »einfach nur mehr Angst vor den Beschränkungen ihrer Grundrechte als vor einem Virus«.

Der Publizist Alexander Fritsch, ein Sloterdijk-Schüler, reibt sich verwundert die Augen über »den Rückzug eines ehemals unangepassten Denkers«. Sloterdijks »Selbstverzwergung« geht soweit, daß er behauptet, er habe den Ausdruck »Querdenker« für seine Person »nie gerne gehört […], weil man damit attestiert bekommt, daß man aus dem Konsensus herausfällt — was mir keine eigene Motivation ist.« Fritsch erinnert sich an eine ganz andere Selbstdarstellung des Philosophen: »Sloterdijk hat dadurch Karriere gemacht, daß er an den Gittern des Denkgebäudes des Mehrheitskonsenses rüttelte.«

Zu Beginn der Pandemie blieb Sloterdijk zunächst seiner angestammten Rolle als Querdenker treu. Im ersten Lockdown, wo noch vom Regierungskurs abweichende Stimmen zu vernehmen waren — später wurde es immer einsamer um die Rufer in der Wüste –, setzte Sloterdijk seinem Naturell gemäß eine markante Duftmarke. In Le Point meldete er Mitte März 2020 Widerspruch an: »Das westliche System wird sich als genauso autoritär erweisen wie dasjenige Chinas.« Was hatte der Mann Falsches gesagt, daß es einen Leser »vom Stuhl« hauen konnte? »Er behauptet«, so jener Leser mit mißbilligendem Unterton, »dass alle Bewohner eingeschränkt würden, indem sie jetzt zuhause bleiben müssten, dafür aber Risikogruppen vernachlässigt würden.« Sloterdijk, der Verschwörungstheoretiker, der recht behielt. »Es löst mein Entsetzen aus«, erregt sich Alexander Strauch, der zitierte Leser, auf dem Blog des Komponisten Moritz Eggert. Die Unterwürfigkeit der »kreativen«, linksdrehenden Blase unter das polit-mediale Corona-Narrativ, mit rühmenswerten Ausnahmen wie dem Musiker Jens Fischer-Rodrian, bedürfte einer eigenen Aufarbeitung.

Anders als in wilderen Jahren, als Sloterdijk im Shitstorm standhaft blieb, knickte er nun — wie schon bei der Einwanderungs-Diskussion (2015/16) — nach Ansicht ihm Furcht einflößender »Instrumente« ein: Am meisten Angst macht dem »Denker auf der Bühne« naturgemäß die Bannandrohung, welche ihm die Bühne versperren kann. Es ist eine Methode und ihr Scheitern: Da versucht einer immer wieder, sehr früh auf der Bühne zu erscheinen, wo Trends zur Uraufführung kommen, um das Theater überstürzt zu verlassen, wenn zu viele im Zuschauerraum Buh rufen. Als der »Quer­denker« als »Corona-Leugner« markiert, als »Covidiot« (Saskia Esken) diffamiert und damit in die »rechte« Schmuddelecke abgeschoben wurde, wurde es dem Philosoph im Ruhestand zu heiß. Nun wollte Sloterdijk von seinem Markenkern, dem Löcken wider den Stachel, plötzlich nichts mehr wissen. Er verleugnete sich nicht nur inhaltlich selbst, sondern auch hinsichtlich dessen, was ihn medial zu einer Großmacht gemacht hatte — sein provokantes Berufsdissidententum in der Nachfolge eines Dio­genes, 1983 durchaus selbstbezüglich artikuliert in der Kritik der zynischen Vernunft.

Eines kann der öffentlichste deutsche Philosoph nicht: Schweigen, um Philosoph zu bleiben. Im Juli 2020, als das Virus »eine Pause machte«, »stattet[e]« Sloterdijk »die Corona-Pandemie mit philosophischen und staatspolitischen Weihen aus«, wie die Berliner Zeitung etwas sinnlos meldete. Lieber irgendetwas sagen, als gar nichts von sich hören lassen. »Wir haben einen zehnwöchigen sanitären Staatsstreich in den Knochen. Staatsstreich insofern, als Notstandsmaßnahmen verfügt worden sind, wie sie zu einem Ausnahmezustand gehören.« Salto vorwärts und zurück in einem Satz. Stets in Unentschiedenheit formulieren, dem Momentum nachspürend — auf welche Seite neigt sich die Waage? Zustimmung oder Ablehnung? Wenn Sloterdijk eines kann, dann sich sprachschöpfe­risch mäandrierend alle Wege offenzuhalten, auch jene des Ausstiegs aus der eigenen Meinung in Echtzeit.

Das ist der ganze Slorerdijk als »Denker auf der Bühne«: Er kann nicht leben, ohne zu widersprechen. Gleichzeitig kann er nicht leben, ohne im Mainstream widersprechen zu dürfen — und dort publikumswirksam gebauchpinselt zu werden. Eigentlich zwei sich ausschließende Bedürfnisse in Zeiten von Einheitsmeinung und Cancel Culture. Also braucht es den biegsamen Geist, welcher den Spagat beherrscht. Auftritt Sloterdijk im Tagesspiegel: »Im Lockdown wird die Seele zum Seniorenheim«.4

Lockdown — Seele — Seniorenheim. Das ist großartig im Sinne des Erfinders. Man hat sich geäußert. Unverständlich bis sinnlos. Aber es eckt nicht an. Optimal für einen, der dabei bleiben will. So einer pro­duziert Buchstabengirlanden: »Bald werden wir sehen, daß die Politikwissenschaft, die Immunologie, die Ökologie und die Labyrinthologie vor einer Reihe gemeinsamer Herausforderungen stehen.« Götz Kubitschek dazu kurz und bündig: »Schwall

Verschlingungen, die kaum einer versteht, vielleicht nicht einmal der Redner selbst. Originalität um jeden Preis. Bis sie sich irgendwann in der eigenen »Labyrinthologie« verirrt. Sloterdijken für Einsteiger. Was Sabine Tönnies in ihrem Geburtstagsgruß »Keine Hommage« über Jürgen Habermas gesagt hat, läßt sich paßgenau auch auf seinen größten Widersacher im intellektuellen Raum, auf Peter Sloterdijk, anwenden: »Kein Thema, das der große Mann nicht angefasst — kein Thema, das er nicht liegen gelassen hätte — kein Standpunkt, den er nicht vertreten, kein Standpunkt, den er nicht aufgegeben hätte«.

Jeder, der versucht hat, Sloterdijks Gedankenkreiseln intensiver zu folgen, dürfte nicht umhinkommen, sich dem Urteil von Erik Lehnert anzuschließen: »Das Unsyste­matische im Denken Sloterdijks stellt uns vor ein Dilemma: Er trifft in seinen Büchern den Punkt, wie gegenwärtig kein Zweiter. Dennoch kommt es immer wieder dazu, daß er längst überwundene Standpunkte, die er in seinem Werk selbst demontiert hat, punktuell wieder einnimmt [vor allem in medialen Auftritten wie Interviews oder:] — so wie jüngst [2009] im ›Philosophischen Quartett‹, als er sich ohne Not und tieferen Sinn als Linker glaubte bezeichnen zu müssen.5 Diese typisch postmoderne Inkonsequenz hat ihren Grund auch in seiner phänomenologischen Methode, die es ihm verbietet, Konsequenzen zu formulieren und einen Standpunkt einzunehmen — der sogar ein verlorener Posten sein könnte, wiederum mit Konsequenzen für den Denker selbst.«

Nur einen Punkt darf man anders sehen als Lehnert: Sloterdijks Inkonsequenz dürfte weniger Produkt einer denkerischen »Methode« sein, sondern — und das möchte dieses exemplarischen Porträt für das Versagen der Intellektuellen in der Pandemie herausstellen — in der Furcht zu finden, nicht mehr Teil des öffentlichen Mainstreams sein zu dürfen, wenn man einen festen Standpunkt bezieht, der als »umstritten« (wokisch für »anrüchig«) gilt. Dabei ist — Michael Klonovsky, Land der Wunder (2005) — »Umstrittensein das mindeste, was man von einem Autor erwarten sollte«.

»Die Unlust am kritischen Widerspruch ist Peter Sloterdijks neues Markenzeichen«, so noch einmal resümierend Alexander Fritsch. »Der Mainstream ist seine neue Heimat.« Er hat, um im medizinischen Jargon zu bleiben, die Gebietsmarkierungen des zeitgenössischen Cordon Sanitaire für sich akzeptiert und sich dafür entschieden, sich von jeder Positionierung fernzuhalten, die ihn auch nur in die Nähe von als »in­fektiös« markiertem Denken bringen könnte. Kurz gesagt: Da verbiegt und verleugnet sich jemand unter dem erpresserischen Druck von »Mentalitätsmachthabern« selbst.

Erfolgreiche Implementierung einer mündigen Unmündigkeit ins Volk


»Ich sage dir, der Mensch hat keine quälendere Sorge,
als jemanden zu finden, dem er so schnell wie möglich
jene Gabe der Freiheit überantworten kann, mit der
dieses unglückliche Wesen zur Welt kommt.
Doch nur der kann sich der Freiheit der Menschen
bemächtigen, der ihr Gewissen beruhigt.«

Am 25. Februar 2023 veröffentlichte Cicero unter dem Titel »Perspektiven nach Corona« einen Aufarbeitungsappell des Münchener Philosophen Christoph Lütge. »Über das Monströse reden«, etwa die öffentliche Forderung von Journalisten nach »mehr Diktatur«, sei das Gebot der Stunde, sagt Lütge als früher und konsequenter Kritiker von Lockdowns und anderen »Maßnahmen«, dessen abweichende Meinung den Hinauswurf aus dem Bayerischen Ethikrat zur Folge hatte.

Lütges zentraler Punkt seiner Schadensbilanz lautet: »Menschen wurden als Ver­nunftwesen nicht mehr ernst genommen. Die Eigenverantwortung und der mündige Bürger wurden komplett entmachtet, vergessen, erledigt.« Cicero kündigte an, der Gastautor würde zeigen, »wie den Individuen Handlungsmacht, Mündigkeit und Würde genommen wurden.«

Gegen diese Deutung der sozialpsychologischen Verfaßtheit des Homo Coronensis ist Widerspruch anzumelden. Denn das Gegenteil von Gefühlen der Entmün­digung und Aussetzung von Vernunfterwägungen wurde von den Regisseuren der Pandemie zum Zwecke ihrer Inszenierung ins Drehbuch geschrieben — und nur so, mit einem psychologischen Taschenspielertrick, konnte die faktische »Entmündigung« weiter Teile der Bevölkerung auch gelingen. Hätte man dem Bürger im März 2020 gesagt: »Wir entmündigen Dich und nehmen Dir Deine Würde« — dann hätte eine kritische Masse sich diesem autoritären Ansinnen höchstwahrscheinlich verweigert. Indem den Menschen suggeriert wurde, sie würden »die Maßnahmen« aus freien Stücken wollen, Repressionen geradezu vom Staat erbetteln (vorbereitet schon im Klimakampf, der Plakate wie »Verbietet uns endlich etwas« hervorbrachte), hat man ihnen Selbstbestimmungsrecht und Mündigkeit zugesprochen — dem Anschein nach. Es ist die fatale Illusion scheinbarer Selbstermächtigung, die der neoliberale Mensch vor Corona bereits eingeübt hat, wie Byung-Chul Han so eindrucksvoll darlegt.

Der Corona-Regie ist gelungen, weite Teile der Bevölkerung ihrem Rechtsstatus als souveräne Staatsbürger zu entfremden und zu Schauspielern umzuschulen, die überzeugt davon waren, daß die Rolle, die sie spielten und die Texte, die sie auf­sagten, die einzig moralisch akzeptable Form von Selbstbestimmtheit wäre. Die Regie hat es in beinahe gespenstischer Perfektion fertiggebracht, ihren konditionierten Sprechpuppen die Illusion einzuimpfen, sie würden eigenverantwortlich handeln, wo sie doch erkennbar an den Fäden von Marionettenspielern manipuliert wurden. Diejenigen, die die coronare Mainstream-Erzählung papageienhaft nachplapperten, wähnten sich als legitime Inhaber von Mündigkeit (polit-medial in diesem Glauben bestärkt durch das Lob, sie machten »alles richtig«, indem sie die Maßnahmen eifrig befolgten und willig zur Impfung schritten), während sie, entmündigte Schein-Mündige, denen, welche mit Vernunfterwägungen für grundgesetzlich garantierte Mündigkeit argumentierten, das Verdammungs­urteil »Covidioten« entgegengeschrien.

Wenn Lüge nicht mehr als Lüge wahrgenommen wird, wenn »das Getäuschtwerden [auf der Seite des Belogenen] von Freiwilligkeit« getragen wird, entsteht eine Spielart des »irrenden Bewusstseins«, das man mit Peter Sloterdijk »als Aberglauben, als Behexung durch Idole, als Ideologie, als Autosuggestion oder als ›willentliche Außerkraftsetzung des Nichtglaubens‹« bezeichnen könnte. Ist es das — »ein halb bewusster, halb unbewusster Pakt zwischen Lügnern und Belogenen« (Franz Bettinger), was der Durchsetzung des Corona-Staats zum Erfolg verholfen hat?

Nicht nur im Falle der Corona-Pandemie ist es oberstes Anliegen autoritär regierender Demokraten des »Wertewestens«, Entmündigungen durchzuführen, deren Ergebnis den Entmündigten wie eigenverantwortliche Selbstbestimmung erscheint, die ihnen die eigene Vernunft ohne Regieanweisung gebietet — auch im Falle des Verzichts auf alle möglichen Lebensstandards zur Stoppung des Klima­wandels scheint die Methode zu greifen. Das Schlüsselgefühl, an das die Regie appelliert und dessen Aktivierung sie offensichtlich drücken kann wie einen On-Off-Knopf, ist die Angst (beim Virus vor dem Tod, bei der Klimaabweichung vor gesellschaftlicher Ächtung). Eine angstgesteuerte Masse ist bereit zu nahezu jeder Form der Entmündigung, solange sie sich im Glauben wiegen kann, daß die Einwilligung in die Entmündigung eben gerade der Beleg für die eigene Mündigkeit ist. Ein nicht zu unterschätzender Mehrwert, den die autoritäre Regie darüber hinaus jedem Willigen anbietet, stellt die mit der mündigen Unmündigkeit miterworbene Überlegenheit über den vernunftaver­sen Unmündigen (vulgo: rechten Schwurbler) dar. Diese Kreise vergotten als höchste Form von (suggeriert) eigen­verantwortlicher Handlungsmacht die (vermeintlich freiwillige) Aufgabe von Freiheit, während für sie jeder, der auf seine grundgesetzlich verbrieften Freiheitsrechte pocht, einem falschen »vulgären« Freiheitsbegriff verfallen ist. Nur unter den weit­gehend akzeptierten Prämissen einer solchen Regie, die Entmündigte glauben machen kann, sie seien die einzig wahren Mündigen, konnte »Freiheit« fast wider­spruchslos zum Unwort des Jahres 2022 ausgerufen werden.

Unmündigkeit ist Mündigkeit. Unfreiheit ist Freiheit. Würdelosigkeit ist Würde. Der Taschenspielertrick verfing bei vielen Bürgern perfekt. (Hat er auch den großen Denker Sloterdijk, der als Emeritus partout nicht mehr aus dem Rahmen fallen will, infiziert?) Der Souverän dankte ab in einer beispiellosen Massenpsychose. Alle Immunsysteme zur Abwehr unzumutbarer Zumutungen für Geist, Körper und Seele haben bei viel zu vielen Menschen angesichts der Panik kläglich versagt. Die Idee des souveränen Staatsbürgers scheint tot, aufgefressen von Hysterie, Paranoia und Virologie — ist sie reanimierbar?


»Oh, wie werden sie überzeugen, daß sie erst dann
frei werden, wenn sie unseret­wegen ihrer Freiheit entsagen
und sich uns unterwerfen. [...]
Sie werden uns anstaunen und uns fürchten
und stolz sein auf unsere Macht und Klugheit,
weil wir eine so ungebärdige millionenköpfige
Herde zu bändigen verstanden.«

Alle Zitate (rechtsbündig gesetzt) aus: Fjodor Dostojewskij: Die Legende vom Großinquisitor. Übersetzt von Rosemarie Tietze. München: dtv, 1993.

Anmerkungen

  1. Peter Sloterdjik, Hans-Jürgen Heinrichs: Die Sonne und der Tod. Dialogische Untersuchungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2001 (zitiert nach der Ausgabe 2009), S. 85. 

  2. Peter Sloterdijk: Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zu Heideggers Brief über den Humanismus. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1999. 

  3. Die Sonne und der Tod (wie Anm. 1), S. 77 f. 

  4. Der Lockdown als Seniorenheim, eine schräge Metapher aus dem Munde eines finanziell bestens ausgestatteten Philosophie-Seniors. Das verrutschte Bild ist auch ein wenig zynisch, keineswegs zu verwechseln mit kynisch, was Sloterdijk so gerne vorgibt zu sein — so zynisch wie auch die Einlassung des Mittelalterhistorikers Valentin Groebner in seinem Essay Ferienmüde (2020), wo im Kapitel »Entlassung aus der Pflicht« Sätze fallen wie »Urlaub in Coronistan« sei das Must-have dieser Saison [Sommer 2020] (und für alle Zukunft): »Die große Pause kam als Urlaub vom Urlaub, diesmal als staatsbürgerliche Pflicht.« Groebner (und Sloterdijk?) empfanden die Pandemie als »Urlaub«, »Freiheit«, »große Lockerung«, »Leichtigkeit durch Unvorhergesehenes«, »Chance auf Neues«, »wirklichen Frei­raum«. »Vor allem werde ich das Gefühl nicht los, daß ich in zukünftigen Ferien das Gefühl vom Frühjahr 2020 — den plötzlichen Leerraum, die Stille, diese Mischung aus verzückter Überraschung und Ungewissheit — werde wiederzubekommen versuchen. Für zwei Wochen im Jahr. Aber diesmal geplant. Damit ich es so richtig, so richtig genießen kann.« Soll man das, was Valentin Groebner da vor sich hin phantasiert, für narzißtisch, zynisch oder schlichtweg für dämlich halten? 

  5. Wo steht Sloterdijk politisch? Vieles spricht dafür, daß er ein genuin konservativer Denker ist, jedenfalls dezidiert anti-progressiv im Sinne von grün-linksdrehend, wenngleich er sich von seinem Schüler Marc Jongen und dessen Partei, der AfD, distanziert hat.